KAPITEL 13
»Wow«, rief Tommy, der Hotelpage und Bauernjunge aus Indiana, und machte große Augen. »Ein Ferrari!« Er hatte ihr Gepäck rausgetragen, um es in den Mietwagen zu laden, aber beim Anblick des Gefährts blieb er mit einer Tasche in jeder Hand staunend stehen.
»Es ist ein Lamborghini«, sagte Chris beiläufig. »Ganz nett, oder?«
»Donnerwetter«, murmelte Tommy, »der sieht aus wie ein Batmobil.«
Alix beobachtete ihn amüsiert. Der Wagen sah tatsächlich ein bisschen aus wie ein Batmobil: Tief liegend und schnittig, mit ebenen Flächen statt Kurven, die Farbe ein unheimliches, mattes Schwarz, wirkte er auf merkwürdige Weise verführerisch und schön. Mit seinen hochgeklappten Flügeltüren sah er eigentlich fast aus wie ein Tarnkappenbomber.
Als die Taschen verstaut und die beiden eingestiegen waren – der Wagen lag so tief, dass sie fast reinkriechen mussten –, klopfte Chris aufs Lenkrad und grinste sie an. »Na, wie finden Sie den?«
»Wunderschön«, sagte Alix ehrlich. »Aber wieso um Himmels willen mieten Sie für die Fahrt zur Ghost Ranch einen Lamborghini?«
»Warum nicht? Wir werden unseren Spaß damit haben.«
»Aber das muss doch ein Vermögen kosten.«
»Stimmt.«
»Und ist der nicht ein bisschen, hmm, auffällig für diese Gegend?«
»Ja, natürlich ist er auffällig. Darum geht es doch gerade, Sie Dummchen. Ich bin neureich und so verhalte ich mich auch. Das erwartet man doch von mir.«
Alix lächelte in sich hinein. Wie sehr Chris doch Geoffrey ähnelte. Der war auch mal neureich gewesen – lässig, extravagant, großkotzig. Und sie dachte, nicht zum ersten Mal, wie sehr sie selbst doch ihrer Mutter Rachel glich: aus altem Geldadel, unauffällig, zurückhaltend, konventionell, fast ein wenig bieder. Was die großen Dinge des Lebens anging, war sie allerdings nicht wie ihre Mutter, da war sie vollkommen unkonventionell, aber im Kleinen, bei den Details, da schon. Alix hätte es nach wie vor nicht über sich gebracht, vor fünf Uhr nachmittags auffällig wertvollen Schmuck anzulegen (wenn sie denn welchen gehabt hätte) oder im September noch weiß zu tragen. Und was die klimpernden Armreifen, bunten Schals und seidigen, weich fließenden Hosen anging, die Chris trug – also, ihr standen sie gut, aber für Alix war so etwas einfach nichts.
Ihre Mutter war allerdings in jeder Hinsicht konventionell gewesen, im Großen wie im Kleinen. Sich in Geoffrey London zu verlieben, war die einzige Verrücktheit, die sie sich jemals geleistet hatte, und die war sie teuer zu stehen gekommen. Nicht in finanzieller Hinsicht, denn sie hatte das ihr zustehende Erbe, aber ihre Familie wandte sich von ihr ab. Von Anfang an hatten sie sich geweigert, den fröhlichen englischen Hallodri in ihrer Mitte aufzunehmen, und so war es keine Überraschung gewesen, dass nur ein Onkel zur Beerdigung ihrer Mutter gekommen war, und der war das einzige andere schwarze Schaf der Sippe. In den Fünfzigerjahren hatte Onkel Julian sich von seiner Frau scheiden lassen, um in Las Vegas eine äußerst kurzlebige (und ebenso teure) Ehe mit einer langbeinigen Tänzerin aus dem »Flamingo« einzugehen. Anschließend war er geläutert und demütig wieder zu seiner ersten Frau zurückgekehrt, aber der Schaden war angerichtet. Vergeben und vergessen war nicht die Sache der Familie Van Hoogeren.
Daher war es auch nicht weiter verwunderlich, dass niemand von dieser Seite ihrer Familie Alix nach der Verhaftung ihres Vaters Hilfe angeboten oder auch nur Anteilnahme gezeigt hatte. Das würde sie ihnen nicht so schnell vergeben. Oder es gar vergessen.
»Also, los geht’s«, sagte Chris und ihre Armreifen aus Silber und Türkis klimperten leise, als sie vorsichtig in den St. Francis Drive einbog und Richtung Norden fuhr. Sie fuhr vorsichtig auf der rechten Spur, schaute alle paar Sekunden in die Spiegel und hielt gebührenden Abstand zu den anderen Fahrzeugen.
Alix war überrascht, denn sie hätte Chris niemals für eine übervorsichtige Fahrerin gehalten. Die Passanten blieben am Straßenrand stehen und bestaunten das Auto. Alix hätte sich eher ein weniger auffälliges Fahrzeug gewünscht, denn vielleicht war ja jemand hinter ihr her, der sie umbringen wollte, da wollte sie nicht unbedingt auf dem Präsentierteller sitzen. Aber Chris war offensichtlich ganz in ihrem Element, deshalb sagte sie nichts.
Als der St. Francis Drive in den Highway 84 überging, kroch Chris immer noch mit quälend langsamen fünfundvierzig Stundenkilometern auf der rechten Spur dahin und ihr ganzer Körper war angespannt wie eine überdehnte Klaviersaite. Sie hatte das schwarze Wildlederlenkrad so fest gepackt, als hätte sie Angst, dass es davonfliegen könnte.
»Chris«, sagte Alix misstrauisch, »Sie haben noch nie so einen Wagen gefahren, oder?«
Chris machte ein übertrieben beleidigtes Gesicht. »Natürlich, wo denken Sie hin?«
»Und wann?«
»Heute«, sagte sie. »Ich bin vom Autoverleih auf der Cerrillos Road den ganzen Weg bis zur Hacienda gefahren, an die sechs Kilometer. Ich fahre doch ganz gut, oder?«
»Gut genug für einen Toyota Camry mit einem ›Baby an Bord‹-Schild vielleicht, aber für einen Lamborghini Gallardo LP 560 ist Ihr Fahrstil nicht so berauschend.«
»Sie kennen sogar das Modell?«, sagte Chris erstaunt.
»Ja, ich habe schon mal so einen gefahren, aber ein älteres Modell.«
»Im Ernst? Wo?«
»In Italien. Im Juli und August hat mich Fabrizio meistens am Wochenende mit zum Sommerhaus seiner Familie in Ravello genommen. Er fand, dass ich mich langsam zur Einsiedlerin entwickelte, womit er wohl recht hatte, und dass ich mal unter Leute kommen und mich entspannen müsste. Das tat ich dann auch und es hat mir sehr gut gefallen. Die Santullos waren unheimlich nett und Ravello ist ein Traum. Also, sein Sohn Gian-Carlo war Amateur-Rennfahrer gewesen und hatte einen Fuhrpark mit sechs Sportwagen, darunter zwei von denen hier. Er hat mir ein paar Tage Fahrunterricht gegeben und gesagt, ich könnte mir immer einen von seinen Wagen borgen, wenn ich in Ravello bin, und ich habe ihn beim Wort genommen. Ich bin oft samstagmorgens an der Amalfiküste entlanggefahren. Es war einfach atemberaubend: auf der einen Seite eine grandiose Berglandschaft, auf der anderen das Mittelmeer, blau glitzernd … Strände, Villen …«
»In einem Lamborghini die Amalfiküste entlangfahren«, sagte Chris verträumt. »Hört sich einfach toll an.« Sie sah Alix verschmitzt an. »Und waren Sie bei diesen Ausflügen allein oder war dieser faszinierende Gian-Carlo auch dabei?«
»Dieser faszinierende Gian-Carlo war neunundvierzig, eins sechzig groß, wog neunzig Kilo und hatte eine Glatze. Und war verheiratet. Und hatte fünf Kinder.«
»Ach so«, sagte Chris und fügte nach einer Pause hinzu: »Aber deswegen war er noch lange kein schlechter Mensch.« Und beide mussten lachen.
»Alix, mache ich irgendwas falsch?«, fragte sie kurz darauf verunsichert. »Die Fahrer in den anderen Autos sehen mich alle so komisch an.«
»Nein, Sie machen gar nichts falsch. Nur haben die noch nie einen Lamborghini überholt. Normalerweise wird man von einem Lamborghini überholt. Die haben wahrscheinlich noch nie einen auf der rechten Spur gesehen.« Alix auch nicht.
Chris lachte leicht verbissen. »Nun, um ehrlich zu sein, macht mir diese Kiste ein bisschen Angst. Nein, ganz schön viel Angst sogar. Der Typ vom Autoverleih wollte mit mir eine Probefahrt machen und mir alles zeigen, aber ich habe ihn zusammengestaucht. So in der Art: Ob er meinte, ich könnte so einen Wagen nicht fahren, weil ich nur ein armes, hilfloses Weiblein bin. Also habe ich gesagt: Nein, danke, ich komme schon zurecht.«
»Und?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin überhaupt nicht damit zurechtgekommen, jedenfalls nicht die ersten fünfzig Meter. Ich hatte das Gaspedal kaum berührt, da ging der Wagen schon los wie eine Rakete. Ich hätte fast einen Unfall gebaut, schon bevor ich vom Parkplatz war. Seitdem fahre ich eben, ähm, etwas langsam. Aber nur, bis ich den Bogen raushabe, wissen Sie? Ich halte mich eben ans Tempolimit.«
»Klar, Chris. Natürlich.« Du bist vierzig Stundenkilometer unter dem Tempolimit! Sie saßen schließlich in einem Lamborghini, der dreihundertzwanzig Sachen machen und (wie Chris gemerkt hatte) in vier Sekunden von null auf hundert beschleunigen konnte. Es war einfach Frevel, den Wagen so zu drosseln. Na ja, sagte sie sich, ich lasse sie eine Weile so fahren, bis sie gelernt hat, wie wunderbar sich der Wagen in der Stadt fahren lässt.
»So ist es richtig, Chris. Sie machen das sehr gut.« Sie lächelte ihre Freundin an, versank in ihrem weichen, tiefen Schalensitz und versuchte, die Landschaft zu genießen. Wenn Chris vom Fahren die Nase voll hatte, falls man das überhaupt fahren nennen konnte, würde sie ja vielleicht Alix ein Weile ans Steuer lassen. Sie konnte das Lenkrad schon an ihren Fingerspitzen fühlen und stellte sich aufgeregt vor, wie der Wagen quasi auf jeden Gedanken sofort reagierte – so wie ein gut trainiertes Vollblut, das dem leisesten Schenkeldruck seines Reiters gehorcht.
Im Schneckentempo passierten sie die Pueblos Pojoaque und Nambé und kamen in die etwas schäbige, zersiedelte Ortschaft Española (»Welthauptstadt der tiefergelegten Autos« verkündete das Begrüßungsschild), wo sie in einem Taco Bell zu Mittag aßen. Die Nachricht vom Lamborghini verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und in der kurzen Zeit, die sie fürs Essen brauchten, fuhren sechs oder sieben auffallend lackierte, tiefergelegte Pkw und Pick-ups auf den Parkplatz und ein Dutzend Latino-Jünglinge stiegen aus und stellten sich um den Wagen auf, um ihn murmelnd zu bewundern.
Als Chris und Alix mit ihren Getränken in der Hand aus dem Restaurant kamen, zogen sich die jungen Männer respektvoll zurück, ohne ihre begierigen Blicke von dem Luxusgefährt abzuwenden. Nur einer rührte sich nicht vom Fleck, ein dünner Junge um die zwanzig mit toten Augen, der in T-Shirt und dreckigen engen Jeans und mit einem unangezündeten Zigarillo zwischen den Lippen an einem Pick-up lehnte. Sein Wagen war nicht so grell lackiert wie die meisten. Abgesehen von ein paar kranzförmigen Motiven fiel ihnen nur die Abbildung eines hübschen Mädchens im String-Bikini auf (die Schnüre waren kaum zu sehen), das von den üblichen orange-blauen Flammen umzüngelt wurde. Darunter ein wehender Wimpel, auf dem »Bimbi« stand.
»Nett«, sagte er und betrachtete den Wagen. »Nehmen Sie mich auf eine Spritztour mit?«
Sie ignorierten ihn natürlich, worauf er mit einem unverschämten Grinsen reagierte. Dann fing er an zu lachen und stieg in seinen Wagen. »Also ich weiß nicht«, sagte Chris zu Alix, als sie ihre Gurte anlegten. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen Wagen will, der mehr Sex-Appeal hat als ich.«
Nördlich von Española wurde die Landschaft zugleich karger und noch schöner und in der Ferne tauchten nackte Höhenzüge in Lila- und Rosatönen auf. Sie begegneten immer weniger anderen Fahrzeugen. Alix hatte die Landkarte ausgebreitet, gab die Richtung an und spielte Fremdenführerin. »Rechts von uns liegt das San-Juan-Gebirge und links, das ist das Jemez-Gebirge.«
»Was links und rechts ist, interessiert mich im Moment nicht. Ich habe genug damit zu tun, mich auf die Fahrbahn zu konzentrieren.« Sie fuhren jetzt an einem Steilhang entlang. Die kurvenreiche Straße folgte den Biegungen eines Flusses, der sich etwa dreißig Meter tiefer am Fuß des Felsens entlangwand. Chris fuhr jetzt nur noch etwa dreißig Stundenkilometer und saß angespannt und stocksteif da, wachsam und hoch konzentriert wie ein Erdmännchen, das von seiner Sippe zum Wachdienst abkommandiert worden war.
»Chris, falls Sie müde sind«, sagte Alix hoffnungsvoll, »übernehme ich gern eine Zeit lang.«
»Vielleicht später, wenn Sie wollen, aber im Moment bin ich noch gar nicht müde. Es macht mir sogar richtig Spaß.«
»Ja, das sieht man, vor allem daran, wie verkrampft Sie das Steuer halten.«
Chris lachte angespannt. »Nun gut, ich gebe zu, der Wagen macht mir immer noch ein bisschen Angst. Er … er reagiert so schnell. Als wäre er ein Teil von mir. Als wenn er wüsste, was ich vorhabe …«
»Bevor Sie’s selbst wissen«, beendete Alix ihren Satz mit einem Seufzer. »Das Gefühl kenne ich.« Offenbar würde es noch eine Weile dauern, bis Chris sie fahren ließ, wenn überhaupt. »He«, rief sie, als sie auf die Karte schaute. »Der Fluss da unten, das ist der Chama River!«
»Der Chama River? Und was ist an dem so besonders?«
»Das bedeutet, dass wir im eigentlichen O’Keeffe-Land sind. Sie hat den Fluss mehrmals gemalt. In einem ihrer Bilder ist fast genau der Blick dargestellt, den wir jetzt haben. Sie muss direkt hier am Straßenrand gestanden haben.«
»Ach, tatsächlich?«
Aber Chris hörte eindeutig nicht zu. Die Fahrbahn nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch und das war Alix auch ganz recht so. Mit all den Kurven, dem steilen Gefälle auf der linken Seite und der gefährlich nahe rückenden Felswand zur Rechten forderte dieser gefährliche Abschnitt des Highway 84 die volle Konzentration des Fahrers. Auch Alix wäre an dieser Stelle nicht viel schneller gefahren. Ihr blieb nichts anderes übrig, als Chris das Fahren zu überlassen, sich zurückzulehnen und das zu tun, weswegen sie eigentlich hergekommen war: Sie versuchte, in ihrem Innern eine »Verbindung« zu der klaren, lichten Atmosphäre des Wüstenhochlands herzustellen. Sie hatte schon andere Orte besucht, die dafür berühmt waren, dass ihr Licht dem Kunstschaffen förderlich war: das Tiefland der flämischen und niederländischen Meister mit seinem goldenen Licht, Turners Meereslandschaften mit ihrem bläulichen Schein und Südfrankreich mit den lebhaften Orange-und Grüntönen, die man bei Van Gogh und Cézanne wiederfindet.
Aber das hier war anders. Keine satten, leuchtenden Farben, sondern zarte, blasse Schattierungen – Himmel und Berge in Pastellfarben. Zufällig kannte sie auch die atmosphärische Ursache dafür. Wie in jeder Wüste gab es hier nur minimale Niederschläge, deshalb gab es auch kaum Wassertröpfchen in der Luft, die das Licht streuen konnten. Das Besondere an dieser Wüste war aber, dass sie zweitausendvierhundert Meter hoch lag und die Luft hier nicht einmal ein Viertel so dicht war wie auf Meeresspiegelhöhe. Das führte zu einer außergewöhnlichen Klarheit und Transparenz, denen Alix anderswo noch nie begegnet war. Ihrer Landkarte zufolge waren die umliegenden Bergketten vierzig Kilometer entfernt, aber sie kamen ihr viel näher vor. Und wie alles andere – der Fluss, die Tafelberge und Felstürme – waren auch die weiter entfernten Bergketten schärfer konturiert, als man es für möglich hielt, so als hätte ein Botticelli oder ein Breughel sie mit der Tuschefeder nachgezogen. Langsam ahnte sie, was Georgia O’Keeffe …
»He, anhalten! Wir sind da!«, rief sie.
Erschrocken brachte Chris den Wagen so abrupt zum Stehen, dass beide von ihren Sicherheitsgurten aufgefangen wurden. Sie blickte von dem langen Asphaltstreifen vor ihnen auf, um die ausgedörrte, kahle Landschaft zu beiden Seiten zu betrachten. »Wir sind wo?«, fragte sie verdutzt.
»Da war die Ghost Ranch. Wir haben die Abzweigung verpasst. Sie sind so schnell gefahren, dass Sie sie übersehen haben.«
Das sollte ein Scherz sein, aber Chris nahm es ernst. »Ganz bestimmt nicht«, sagte sie und manövrierte den Wagen mühselig vor und zurück und schaffte es schließlich zu wenden. Bei jedem Knirschen der Gänge zuckte Alix zusammen. Sie fuhren zur Abzweigung zurück, von wo aus eine Schotterstraße zu einer Felsenkette führte. Weit und breit kein Gebäude. Auf der anderen Straßenseite stand eine Art Tor, aus zwei senkrechten Holzmasten und einem weiteren quer darüber zusammengezimmert, auf dem man das Brandzeichen einer Ranch erwartet hätte. Hier war aber der Name Ghost Ranch in das Holzschild geritzt. Das offene Metalltor darunter hatte in der Mitte ein Dreieck von der Größe eines Vorfahrtsschildes mit dem Logo der Ghost Ranch: ein Bullenschädel, ganz Georgia O’Keeffe, auf schwarzem Hintergrund. Die ortsansässigen Meisterschützen konnten dem Schild anscheinend nicht widerstehen, denn es war mit Löchern und Dellen übersät.
»Ach, übrigens, Chris, danke, dass Sie alles organisiert haben. Dass Sie uns hier untergebracht haben und dann auch noch in Mabel Dodge Luhans Schlafzimmer … einfach toll!«
»Ach was, ich habe zu danken«, sagte Chris, als sie in die holprige, unbefestigte Straße einbog. »Sie haben mir einen Riesengefallen getan.«
»Das habe ich doch gern gemacht, aber einen Gefallen kann man das nicht nennen. Ich werde ja ganz anständig bezahlt.«
»Ach, das blöde Bild meine ich doch gar nicht. Ich rede von der Sache zwischen Craig und mir. Ich habe all meinen Mut zusammengekratzt und mich mit ihm ausgesprochen, als Sie im Archiv waren. Ich habe meine Karten auf den Tisch gelegt und gefragt …«
»Chris, habe ich da irgendwas verpasst? Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden.«
»Was Sie gestern gesagt haben … dass ich voreilige Schlüsse gezogen habe, was die Sache zwischen Craig und Liz angeht.«
»Und Sie haben mit ihm darüber geredet? Heute Morgen?«
»Allerdings. Als Sie im Museum waren. Ich habe ihn abgepasst, als er von seinem Verhör mit Mendoza zurückkam, und wir haben zusammen einen Kaffee getrunken.« Sie wurde ein wenig rot. »Sie hatten in jeder Hinsicht recht. Nicht nur, was Liz und ihn angeht, sondern ganz besonders in Bezug auf ihn. Galant haben Sie ihn genannt und das passt auch auf ihn. Ich musste ihn ganz schön bearbeiten, um ihn überhaupt zum Reden zu bringen, aber schließlich habe ich es doch aus ihm rausgequetscht. Liz hat sich an ihn rangemacht – sie war damals ja sehr attraktiv – und irgendwann hat sie’s geschafft. Er redet sich nicht heraus, auch heute noch nicht. Ein schwacher Moment, wie Sie gesagt haben. Das ist seine Geschichte und ich glaube ihm.«
»Da bin ich aber froh.«
»Ganz ehrlich, Liz kann von Glück sagen, dass sie schon tot ist, denn sonst würde ich sie eigenhändig umbringen.«
»Wenn die Polizei noch mal mit Ihnen reden will, behalten Sie das aber besser für sich.«
»Keine Sorge«, sagte Chris lachend. »Wissen Sie, was für ein Mensch er ist? Mendoza hat ihn gebeten, ein paar Tage in der Nähe zu bleiben …«
Da fiel Alix ein, dass der Lieutenant sie beide auch gebeten hatte, in der Nähe zu bleiben. Sie hoffte nur, dass die Ghost Ranch nicht zu weit weg war. Ach, was machte es schon aus? Er hatte doch ihre Handynummern. Sie konnten innerhalb von zwei Stunden wieder in Santa Fe sein, ohne dass er überhaupt merkte, dass sie weg waren.
»… also habe ich gesagt, ich würde weiter für das Flugzeug zahlen, solange er hier ist, und auch seine Spesen. Daraufhin ist er richtig wütend geworden. Wenn ich der Firma Geld für den Flieger geben wollte, das sei meine Sache, aber er würde ganz bestimmt kein Geld von mir annehmen. Und es war ihm ernst.« Sie lächelte. »Er kann manchmal ganz schön dominant sein.«
Alix entdeckte so etwas wie Besitzerstolz in ihrer Stimme, als sie über ihn redete, und Chris wirkte auch lebendiger, was sie freute. »Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte sie.
Chris strahlte regelrecht. »Wenn ich wieder in Santa Fe bin, wollen wir zusammen essen gehen. Ich glaube, wir bekommen eine zweite Chance. Er hat nichts in der Richtung gesagt, aber ich habe so ein Gefühl. Eine Frau merkt so was, das wissen Sie ja.«
Ich weiß es eben nicht. Es ist viel zu lange her. Alix hätte ihre Gedanken beinah laut ausgesprochen, aber sie freute sich zu sehr für Chris und wollte ihr die Laune nicht verderben. »Das hört sich doch wunderbar an«, sagte sie ehrlich. Dann wäre bei diesem katastrophalen Beratungsjob ja doch noch etwas Gutes herausgekommen.
»Und wo ist diese Ranch jetzt?«, fragte Chris. »Haben wir vielleicht eine Abfahrt verpasst? Keine Spur von Zivilisation in Sicht.«
Sie waren seit der Abzweigung schon eine Stunde gefahren und befanden sich immer noch auf einem Wüstenplateau mit weißlichen Felsen zu beiden Seiten, das bis auf diese primitive Straße vollkommen unerschlossen zu sein schien.
»Wir haben gar nichts verpasst«, sagte Alix. »Wir sind schon da, nur noch nicht am Konferenzzentrum. Die Ghost Ranch ist ein riesiges Gelände, über achttausend Hektar groß. Das Konferenzzentrum ist nur ein winziger Teil … Ach, sehen Sie mal, direkt da vorne, da ist eine Spur von Zivilisation.«
Sie zeigte auf eine Blockhütte aus grob behauenen Stämmen, nur wenige Meter neben der Straße, und Chris musste lachen. »Zivilisation anno 1870 würde ich sagen.«
»Nein, warten Sie!«, sagte Alix plötzlich eindringlich. »Halten Sie an! Ich will Ihnen was zeigen.«
»Aber das ist doch nur eine alte …«
»Ich meine doch nicht die Hütte. Halten Sie bitte!«
»Aber hier ist nirgendwo eine Haltebucht. Wo soll ich denn …«
»Hier sind auch keine anderen Autos, falls Sie es noch nicht gemerkt haben. Halten Sie jetzt bitte an?«
Als Chris anhielt, wirbelte eine Staubwolke in die Höhe und wehte über sie hinweg. »Okay, was ist los?«
Alix stieg aus und Chris folgte ihr. »Schauen Sie mal da drüben«, sagte Alix und deutete auf eine etwa vier Kilometer entfernte Felswand.
Chris’ Blick folgte Alix’ Finger. »Okay, ich schaue …«
»Fällt Ihnen denn gar nichts auf?«
Ratlos schüttelte Chris den Kopf. »Was denn?«
»Haben Sie die Fotos von dem Bild dabei?«
»Ja, in meiner Tasche.«
»Zeigen Sie mal.«
Chris zuckte mit den Schultern, holte ihre Tasche aus dem Auto und gab Alix ein paar postkartengroße Fotos des O’Keeffe-Bildes. Alix wählt eins aus, auf dem das Gemälde komplett zu sehen war, und hielt es auf Armeslänge von sich. »Nun schauen Sie sich das Bild an und dann die Felsen. Sehen Sie die beiden großen Felsspalten? Wenn Sie sich jetzt auf die rechte konzentrieren und sich vorstellen, Sie könnten unten, halb vom Schatten verschluckt, einen Mann sehen …«
»Mann, das ist ja mein Bild!«, rief Chris begeistert. »Das sind meine Felsen!« Sie schaute von den Felsen auf das Foto und wieder zurück und sagte dann etwas ruhiger: »Alix, ich weiß, es hört sich verrückt an, aber auch wenn es eine Fälschung sein sollte, möchte ich es haben. Es ist so schön und irgendwie wirken die Felsen durch das Bild noch … noch wirklicher.«
»Stimmt. Das ist die Wirkung, die Kunst auf uns haben kann. Und ich muss Ihnen recht geben, es ist wunderschön. Die Felsen werden in dem Bild regelrecht greifbar. Und es ist ganz im Stil von Georgia O’Keeffe. Aber wenn Sie es nehmen, müssen Sie laut Vertrag drei Millionen Dollar dafür bezahlen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie so viel für eine Fälschung hinblättern wollen.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Chris seufzend und steckte die Fotos wieder in die Tasche. »Aber Georgia O’Keeffe hat doch wirklich Bilder von dieser Landschaft gemalt, oder?«
»Etliche.«
»Also, sollte es sich als Fälschung erweisen, wäre Ihr nächster Auftrag, ein echtes für mich zu finden. Würden Sie das tun?«
»Klar, mit Vergnügen.«
»Großartig«, sagte Chris knapp. »Dann ist die Sache abgemacht. Machen wir uns jetzt auf die Suche nach diesem sogenannten Konferenzzentrum und melden wir uns an.«
Sie fuhren einen staubigen Abhang mit leichtem Gefälle hinunter, dann über eine Rundholzbrücke, die einen von Bäumen gesäumten Bach überspannte, und schließlich an einem steinigen Bergkamm entlang. Als sie den hinter sich hatten, tauchte vor ihnen das Konferenzzentrum auf. Der eingeschossige Gebäudekomplex, im Schutz der Berge um einen weiten, grasbedeckten Platz herumgebaut, war von bizarren, vielfarbigen Felstürmen umgeben. Gruppen von Leuten schlenderten umher und plauderten, während andere im lichten Schatten der Pappeln beisammensaßen. Es sah aus wie der Campus einer kleinen Universität, die auf wunderbare Weise mitten in der Wüste aus dem Boden geschossen war.
»Ihre Zimmer sind fertig«, sagte die Frau am Empfang, als sie das Verwaltungsgebäude gefunden hatten. »Sie sind im Coyote-Block auf dem Tafelberg untergebracht. Einfach die Straße links hochfahren und dann abbiegen. Sehr schöne Aussicht. Sie sollten unbedingt draußen auf der Terrasse den Sonnenuntergang genießen. Ich bin Barb. Falls Sie irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich einfach an mich.«
»Barb, arbeiten Sie schon lange hier?«, fragte Alix.
»Fast zwanzig Jahre.«
»Können Sie sich zufällig noch an einen Gast namens Henry Merriam erinnern? Er hat hier regelmäßig Kurse besucht. Außerdem hatte er mal eine Galerie in Albuquerque, die Galería Xanadu.«
Clyde Moodys Freundin aus Albuquerque hatte gemeint, er wäre schon über zwanzig Jahre tot. Sie sei sich ziemlich sicher, hatte Moody gesagt. Das ließ aber noch eine kleine Hoffnung. Zwar nur eine klitzekleine, aber da sie schon mal hier war, konnte sie auch fragen.
»Natürlich erinnere ich mich«, sagte Barb. »Er war erst vor ein paar Monaten hier. So ein netter alter Herr.«
Alix war überrascht. »Vor ein paar Monaten …?«
Barb nickte. »Im August«, versicherte sie ihr. »Vor zwei Monaten, fast auf den Tag genau. Da stand er genau da, wo Sie jetzt stehen.«
Sie konnte ihr Glück gar nicht fassen. »Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?«
»Nicht in dieser Welt, tut mir leid. Er ist verschieden. Dabei war er so ein lieber alter Kerl.«
Alix seufzte. Pech gehabt. Aber zu erfahren, dass er erst zwei Monate tot war, war besonders schmerzlich. »Wann ist er denn genau gestorben?«, fragte sie eher aus Höflichkeit als aus echtem Interesse.
»Ich habe am Tag davor noch mit ihm geredet.« Sie nickte gedankenversunken. »Genau. Wissen Sie, er hatte mal eine Kunstgalerie. Das ist lange her. Und es gab irgendwelche Missverständnisse. Es ging darum, ob er ein bestimmtes Bild verkauft hat, glaube ich. Ich weiß auch nicht. Jedenfalls wollte er nach Santa Fe fahren, um die Sache zu klären. Ich glaube, es war Santa Fe, vielleicht auch Albuquerque. Nun, er hatte ein schwaches Herz, wissen Sie? Und er hatte einen Herzinfarkt. Am ungünstigsten Ort, den man sich vorstellen kann. Ausgerechnet auf dem Highway 84. Da, wo die vielen Kurven sind. Oben in den Bergen, wo die Straße am Chama River entlangführt. Wahrscheinlich sind Sie auf dem Weg hierher selbst da langgefahren.«
»Allerdings«, sagte Chris. »Ich hätte fast selbst einen Herzinfarkt bekommen.«
»Ja, ich fahre da auch nicht gern lang. Man weiß nicht, ob er einen Herzinfarkt hatte, weil er über den Felsrand gefahren ist, oder über den Rand gefahren ist, weil er einen Infarkt hatte, jedenfalls soll er tot gewesen sein, bevor das Auto unten aufkam. In gewisser Weise war es ein Segen. Er war sehr unglücklich, seit seine Frau an Alzheimer erkrankt war und er sie, na ja, Sie wissen schon, in ein Heim stecken musste.« Sie lächelte nachdenklich. »Irgendwie seltsam. Wissen Sie, was das Letzte war, das er zu mir gesagt hat?«
»Nein«, sagte Alix. »Was denn?«
»Na ja, eigentlich hat er’s nicht zu mir gesagt, sondern am Telefon, und es war auch nicht das Letzte, was er gesagt hat, aber beinahe. Er hat gesagt: ›Ich versichere Ihnen, ich bin nicht tot.‹«
Chris verzog das Gesicht. »›Ich versichere Ihnen, ich bin nicht tot.‹ Wirklich sehr seltsam.«
»Allerdings. Und dann, knapp einen Tag später, ist er tot. Schicksal, könnte man sagen.« Dann räusperte sie sich, um sich wieder dem Geschäft zuzuwenden. »Mahlzeiten sind im Übernachtungspreis inbegriffen. Abendessen wird von halb bis Viertel nach sechs serviert. Keine gehobene Küche, aber gut, gesund und reichlich. Sie haben jeweils ein eigenes Bad, aber auf den Zimmern gibt es weder Fernseher noch Radio oder Telefon.«
»Wie sieht’s mit Handyempfang aus?«, fragte Alix. Sie wollte Geoff gern noch einmal anrufen.
»Praktisch nicht vorhanden, tut mir leid. Wir sind hier wirklich weitab vom Schuss.«
Als Alix besorgt die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: »Sie können gern das öffentliche Telefon an der Wand da benutzen. Geht auch mit Kartenzahlung.«
Alix sah zu dem Telefon rüber. »Ähm, also …«
Barb lächelte verständnisvoll. »Nicht sehr privat, verstehe. Nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie ein Stück zurückfahren. Da ist eine Stelle … Einen besseren Empfang haben Sie nirgendwo. Es ist das einzige Haus auf dem Weg zum Highway, eine Blockhütte auf der linken Seite. Die hat ihren eigenen eingebauten Handymast oder wie das heißt …«
»Im Ernst?«, fragte Alix. »Die Hütte ist doch mindestens hundert Jahre alt. Warum …«
»Die ist keine zwanzig Jahre alt«, sagte Barbara lachend. »Können Sie sich noch an City Slickers erinnern?«
»City Slickers?«
»Den Film.«
»Den Film?«
»Sie kommt nicht oft raus«, warf Chris gelassen ein.
»Aha. Also, der Film wurde hier gedreht und die Hütte ist nur eine Kulisse. Hier draußen war dieses riesige Filmteam und alle mussten natürlich ständig superdringend telefonieren und sind total ausgeflippt, weil es nicht ging. Aber es war schließlich Hollywood, also haben sie keine Kosten gescheut und die Hütte technisch für Handyempfang ausgestattet. Nach den Dreharbeiten haben sie alles zurückgelassen. Funktioniert prima. Der einzige Ort im Umkreis von dreißig Kilometern, wo man einen vernünftigen Empfang hat. Manchmal, wenn ich dort vorbeifahre, stehen da fünf oder sechs Leute und telefonieren. Ich sage immer zu meinem Chef, wir sollten ein Starbucks-Café in der Hütte unterbringen.«
Als sie die Treppe hinunter zu ihrem Wagen gingen, schaute Chris auf ihre Uhr. »Bis zum Abendessen ist noch Zeit, falls Sie telefonieren wollen. Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, selbst zu fahren. Sie könnten mich am Zimmer absetzen und ich könnte meine Füße hochlegen. Ich bin fix und fertig. Diese Kiste zu fahren ist so was von anstrengend! Falls ich mir jemals so einen Wagen anschaffe, dann aber nur mit Automatik.«
»Dann wollen die anderen Lamborghini-Besitzer aber nichts mit Ihnen zu tun haben.«
»Ja, das wäre natürlich ganz furchtbar.« Sie gab Alix die Schlüssel. »Aber bitte fahren Sie langsam. Ich glaube, ich darf mit dem Wagen eigentlich gar nicht auf unbefestigten Straßen fahren. Außerdem sind wir hier nicht an der Amalfiküste.«
Ironie des Schicksals, dachte Alix, als sie Chris absetzte. Endlich durfte sie wieder so ein Schätzchen fahren, aber dann ausgerechnet auf einem Eselspfad, auf dem sie sich auch ohne Chris’ Bitte gar nicht trauen würde, viel schneller als zwanzig zu fahren. Es machte trotzdem Spaß, dachte sie bei sich, als sie mit dem Chromknüppel sanft vom ersten in den zweiten Gang schaltete. Der LP 560 hatte sechs Gänge und Chris war nie über den vierten hinausgegangen. Am liebsten wäre Alix den ganzen Weg zum Highway zurückgefahren, einfach nur, um alle sechs Gänge auszutesten. Aber ohne Chris’ Einverständnis konnte sie das nicht tun.
Sie hielt an der Blockhausattrappe und blieb kurz sitzen, um sie sich anzuschauen. Die Kulissenbauer hatten hervorragende Arbeit geleistet. Selbst aus wenigen Metern Entfernung sah der Bau aus wie ein zerfallenes Blockhaus aus der Pionierzeit. Als sie die Tür öffnete, um sich drinnen umzusehen, gab es kein Drinnen. Auf der anderen Seite der Tür befand sich eine neunzig Zentimeter breite Plattform, gerade groß genug, um Leute beim Rein- und Rausgehen zu filmen, und dahinter war nichts, nur einen halben Meter tiefer Geröll und Wüstensand. Kein Boden. So lief es in der Traumfabrik.
Sie setzte sich vorsichtig an den Rand der morschen Veranda, wo es etwas Schatten gab, und wählte Geoffs Geschäftsnummer.
»Handelsgesellschaft Venezia. Wie kann ich Ihnen helfen?« Träge, schwerfällig, unverkennbar … Anscheinend war Tiny jetzt bei Venezia für den Telefondienst zuständig.
»Hallo, Tiny, hier ist …«
»He, la mia nipotina!«, rief er glücklich. Meine kleine Nichte.
»Ja, ich bin’s noch mal, zio Beniamino.« Wenn er’s unbedingt wollte, nannte sie ihn halt Onkel.
»Möchtest du mit deinem Vater reden? Der …«
»Nein, warte, Tiny, mit dem rede ich später. Ich wollte zuerst mit dir reden.«
Das freute ihn offensichtlich. »Über das O’Keeffe-Bild?«, fragte er interessiert. Alix hörte so was wie das Ächzen eines Ledersessels. Tiny machte es sich anscheinend bequem.
»Ja, ich würde gern deine Meinung hören.« Es stimmte tatsächlich. Sie musste sich gar keine Fragen für ihn aus den Fingern saugen.
»In Ordnung, schieß los.«
»Also, ich arbeite für eine Frau, die mit dem Gedanken spielt, es zu kaufen, aber ich habe meine Zweifel, starke Zweifel, an der Echtheit des Bildes. Nein, eigentlich bin ich mir sicher, dass es gefälscht ist. Es fehlt irgendwas, aber ich kann nicht genau sagen was, verstehst du? Als wenn …«
»Ich verstehe, was du meinst. Ist es eins von den Blumenbildern?«
»Nein, eine Landschaft.«
»Ach ja? Interessant.« Sie musste lächeln, denn wie er »interessant« sagte, hatte ihr schon immer gefallen. Tiny war der einzige Mensch, den sie kannte, der alle vier Silben deutlich aussprach: in-ter-es-sant. Dadurch wurde jedes Gesprächsthema besonders … in-ter-es-sant. »Am häufigsten werden die Blumenbilder gefälscht. Warum, verstehe ich auch nicht. Die Landschaften sind viel einfacher. Wahrscheinlich, weil diese Trottel – Verzeihung, die potenziellen Kunden – die Blumenbilder besser kennen.«
»Da könntest du recht haben. Aber dieses hier …«
»Hast du ein Foto, das du mir mailen kannst?«
»Ja. Soll ich?«
»Ja, aber erzähl mir erst mal mehr darüber. Beschreib es.«
»Wie gesagt ist es eine Landschaft, Wüste mit einer Felswand …«
»Aha.«
»… Sehr malerisch, fast abstrakt. Die waagerechten Felsritzen sind größtenteils in Orange- und Gelbtönen dargestellt, dazu ein bisschen Ocker …«
»Aha.«
»Außerdem sind ein paar senkrechte Spalten zu sehen, Risse entlang der Felswand …«
»Aha.«
» … Und unten in einer der Felsspalten, im Schatten, kann man so gerade eine Figur ausmachen, einen Mann …«
»Es ist eine Fälschung.«
» … Im Profil, nach rechts schauend … Was hast du gesagt?«
»Es ist eine Fälschung.«
»Wie … w…?« Aber sie hatte die Frage noch nicht gestellt, da war ihr die Antwort schon klar. Sie hatte sie die ganze Zeit vor Augen gehabt. »Die Figur«, flüsterte sie.
Die Figur, natürlich! Das Problem war nicht, dass irgendein subtiles Detail fehlte. Im Gegenteil, da war etwas, was dort nicht hingehörte. Und es war auch nicht gerade subtil.
»Sie hat keine Menschen gemalt, nicht wahr?«, sagte sie jetzt etwas ruhiger.
»Nicht einen. Nie.«
»Tiny, bist du ganz sicher? Es gibt keine O’Keeffe-Bilder mit Menschen?«
»Was soll die Frage? Natürlich bin ich sicher. Das Bild ist eine verdammte Fälschung. Hattest du sonst noch irgendwelche Fragen?«
»Nein«, sagte sie lachend. »Das wär’s fürs Erste. Vielen Dank.«
»Okay – verdammt noch mal, Geoff, hör auf, an meinem Arm rumzuzerren – ich meine, ich bin immer noch …«
Sie hörte ein Handgemenge, wahrscheinlich Geoff, der Tiny das Telefon entriss, und dann die fröhliche Stimme ihres Vaters: »Hallo, mein Liebes. Unser hauseigener O’Keeffe-Experte konnte dir also weiterhelfen?«
»Allerdings. Es hätte mir eigentlich selbst auffallen müssen. Auf dem Bild ist ein Mann zu sehen …«
»Georgia O’Keeffe hat keine Figuren gemalt.«
Sie hätte fast geseufzt, lachte aber stattdessen. »Das ist es ja. Ich wusste, dass irgendwas nicht stimmte, aber Tiny hat mich schließlich mit der Nase draufgestoßen. Ich hätte viel früher mit ihm reden sollen.« Sie zögerte und fügte dann leise hinzu: »Oder mit dir. Ich habe mich dumm angestellt.«
»Ach was, das Problem genau benennen zu können, ist nur der letzte Schritt. Das i-Tüpfelchen. Pah, wenn man genug Zeit hat, kann das jeder. Wichtiger ist, überhaupt erst mal zu erkennen, dass es sich um eine Fälschung handelt. Und in der Beziehung stellst du all die sogenannten Experten in den Schatten«, sagte er mit unverhohlenem Stolz. »Das hast du mit Bravour gemeistert – dank der Gene, die ich dir mitgegeben habe, möchte ich in aller Bescheidenheit hinzufügen.«
»Du hast ganz sicher recht.« Sie lehnte sich gegen einen Holzpfosten und verspürte eine ungewohnte Wärme. Sie wusste nicht, ob es an der Nachmittagssonne lag oder ob sie sich in der Anerkennung ihres Vaters sonnte. »Danke für die Gene.«
»Und du bist jetzt im O’Keeffe-Land?«, fragte er.
»Ja, es ist traumhaft: goldenes Licht, Tafelberge, Felsentürme, alle Farben des Regenbogens …«
»Beneidenswert. Rate mal, wie das Wetter in Seattle ist.«
»Regen?«
»Richtig. Wie lange bleibst du denn?« Nach all den Jahren der Entfremdung plauderte er endlich ganz unbefangen mit seiner Tochter, dachte sie, und er wollte gar nicht mehr aufhören.
Und sie auch nicht. »Nur einen Tag. Chris ist auch da. Morgen früh fahren wir nach Taos. Aber vielleicht will sie ja auch schnurstracks zurück nach Santa Fe, wenn sie erfährt, dass das Bild eindeutig gefälscht ist.« Sie machte eine Pause und runzelte die Stirn. »Weißt du«, sagte sie zögernd, »etwas stört mich aber immer noch an dieser Sache.«
»Ach ja?« Ich bin für dich da und helfe dir gern, sollte das heißen.
»Nun, das Bild wurde 1971 ausgestellt, noch zu ihren Lebzeiten, und zwar in einer namhaften Galerie hier in New Mexico. Und sie hat ihre Bilder immer ganz genau im Auge behalten, vor allem solche wie dieses hier. Sie soll es nämlich verschenkt haben. Hätte sie damals nicht gesagt, dass es keins von ihren ist?«
»Ja, schon, aber woher weißt du, dass es ausgestellt wurde?«
»Weil ich den Ausstellungskatalog selbst gesehen habe.«
»Was meinst du damit, selbst gesehen?«
»Ich meine, ich habe ihn gesehen. Es gibt einen. Ich habe ihn heute Morgen eine Stunde lang begutachtet.«
Geoff lachte herzlich. »Ach, das beweist doch gar nichts.«
»Wie meinst du das?«
»Mein liebes Kind, ist es dir denn gar nicht in den Sinn gekommen, dass man Kataloge genauso leicht fälschen kann wie Bilder? Sogar noch viel leichter.«
Das war ein gehöriger Schock. Daran hatte sie tatsächlich nicht gedacht. Ein gefälschter Katalog? »Aber Geoff, den Katalog habe ich nicht in irgendeiner schäbigen Galerie gefunden – oder in einer schicken Galerie –, sondern im Museumsarchiv. Im streng überwachten Archiv des Southwest Museum of Twentieth-Century American Art.«
»Ach so, verstehe«, sagte er verschmitzt. »Du meinst also, alles, was man in einem Kunstmuseum so findet, muss echt sein. Automatisch, sozusagen.«
»Nein, natürlich nicht, aber der Katalog hatte gut vierzig Seiten und jede war einem anderen Bild gewidmet, mit Fotos, Provenienz, Angaben zur Technik. Willst du behaupten, das war alles gefälscht?«
»Nicht unbedingt. Nur die Angaben, die du gesucht hast.«
»Was? Aber wie …«
»Selbst wenn der ganze Katalog echt ist, was er wahrscheinlich auch ist, kann doch die Seite mit diesem speziellen Bild gefälscht sein. Hast du daran gar nicht gedacht?«
»Was?«, sagte sie wieder matt. »Ich verstehe es einfach nicht. Es war genau das Bild, das ich gesehen habe. Ich habe es mir heute Morgen noch angeschaut. Die Maße stimmten genau überein, die …«
»Natürlich stimmte alles. Zuerst wurde das Bild gemalt. Dann wurde es fotografiert. Dann vermessen. Und erst dann hat man die Seite hergestellt: mit dem richtigen Foto, den richtigen Maßen, erfundener Provenienz und einer kurzen Beschreibung. Danach kam der einzige knifflige Teil, nämlich irgendwie ins Archiv zu kommen und die entsprechende Seite in dem vorher ausgewählten, echten Katalog gegen die falsche Seite auszutauschen.«
»Aber Geoff, die Seiten waren nummeriert und hatten das gleiche Layout: gleichgroße Bilder, dieselbe Schrift und so. Eine neue Seite wäre doch aufgefallen.«
»Ja, aber deswegen ist die Vorauswahl ja so wichtig. Für diesen Coup muss man zweimal ins Archiv. Beim ersten Besuch sucht man eine Seite in einem Katalog aus und fotografiert sie heimlich – beide Seiten natürlich, oder alle vier, falls es sich um ein Quartformat handelt. So können die Schwindler Format, Layout und alles, was auf der Rückseite und den anderen Seiten zu sehen ist, kopieren. Beim zweiten Besuch wird die alte Seite entfernt und die neue, veränderte eingefügt: die Seite mit dem ›neu entdeckten‹ Bild. Ganz einfach, aber wirklich clever, findest du nicht? Dass jemand was aus dem Museum mitgehen lassen will, darauf ist man vorbereitet. Aber dass jemand etwas ins Museum schmuggelt, darauf kommt ja keiner.«
Sie dachte ein paar Sekunden darüber nach. Kein Wunder, dass Archivare wie Clyde Moody so wachsam ihre Kataloge behüteten, wenn sich Leute einschlichen, um sie heimlich zu »verändern«. Aber wie in aller Welt hätte jemand das unter Moodys wachsamen Blicken fertigbringen sollen? Wirklich ganz schön clever.
»Das klingt, als wärst du mit dieser ›Vorgehensweise‹ recht vertraut, Geoff«, bemerkte sie trocken.
»Ich habe davon gehört«, antwortete er vage.
»Wie dem auch sei, es klingt nicht sehr wahrscheinlich. Viel zu kompliziert.«
»Wenn es wahrscheinlich klingen würde, hätte man mit der Masche wohl kaum Erfolg, oder? Also, dann lass mich raten: Die Galerie gibt’s nicht mehr, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Ein anonymer Verkäufer.«
»Ja, stimmt auch.«
»Die Angaben zur Provenienz sind, sagen wir mal, eher spärlich.«
»Ja, das kann man so sagen.«
»Der Galerist weilt nicht mehr unter uns oder ist aus irgendeinem anderen Grund unerreichbar und kann die Angaben nicht bestätigen.«
»Nun …«
»Und bei alledem«, fragte er vorsichtig, »da hast du nicht daran gedacht, die Katalogseite wenigstens oberflächlich zu untersuchen? Hatte sie ein Wasserzeichen? Und wenn ja, war es anders als auf den anderen Seiten? Was ist mit dem Glanz oder der Farbdurchdringung? Und …«
»Nein, Geoff, daran habe ich nicht gedacht«, sagte sie entnervt. »Es mag dir vielleicht seltsam erscheinen, aber obwohl ich deine Tochter bin, versuche ich normalerweise nachzuweisen, dass ein Bild echt ist, und nicht, dass es gefälscht ist. Mein Blick ist offensichtlich nicht ausreichend geschult für die Feinheiten des Fälscherhandwerks.«
Wie üblich nahm er diese Spitze gelassen und sogar mit Humor hin. »Das ist aber gar nicht nett von dir«, sagte er mit seinem unverschämt gewinnenden Lachen, »mir mein Versagen als Vater vorzuwerfen.«
Sie wurde ganz steif. Meinte er wirklich, er hätte als Vater nur in dieser Beziehung versagt? Da gab es aber noch eine Menge wesentlich schlimmerer Verfehlungen. Er hatte es zwar im Spaß gesagt, aber trotzdem bewegte er sich auf gefährlichem Terrain.
Trotzdem, er war so ein charmanter alter Schurke, dass sie einfach lachen musste. »Das spielt jetzt sowieso alles keine Rolle mehr. Wir wissen ja jetzt, dass das Bild gefälscht ist. Ich werde es Chris sagen – die sehe ich gleich – und dann ist mein Job erledigt.«
»Dein Job vielleicht. Aber bist du denn gar nicht neugierig? Willst du dich denn nicht vergewissern, was den Katalog angeht?«
»Klar bin ich neugierig. Wenn ich wieder in Santa Fe bin und noch Zeit habe, gehe ich noch mal zum Museum und sehe mir den Katalog an.«
»Es geht nicht nur darum, deine Neugier zu befriedigen, weißt du«, sagte er etwas ernster. »Findest du nicht, du bist moralisch dazu verpflichtet, das Museum darüber zu informieren?«
Ach ja, mein Vater, der Moralapostel, dachte sie grimmig. Es war schon erstaunlich, dass dieser Mann sie im einen Moment zum Lachen und im nächsten Augenblick auf die Palme bringen konnte. Sie hätte beinah etwas darauf erwidert, aber biss sich auf die Zunge.
Er schnalzte missbilligend, sagte aber nichts. Sie wusste, er dachte nach. »Alix, sagt dir der Name Clara Simons etwas?«
»Nein, wieso?«
»Sie war früher Archivkuratorin am Smithsonian, wo sie häufig vom FBI beauftragt wurde, fragwürdige Dokumente zu begutachten. Wie der Zufall so will, arbeitet sie jetzt in der Kunstabteilung des Santa Fe College. Sie ist eine alte Freundin von mir und ich könnte sie bitten, sich den Katalog mal anzusehen. Wie heißt die Galerie und von wann ist der Katalog? Und wie heißt das Bild?«
»Galería Xanadu, November 1971, Felsen auf der Ghost Ranch … Aber meinetwegen brauchst du das nicht zu tun. Es interessiert mich wirklich nicht so sehr.« Das stimmte nicht ganz, aber es tat gut, sich ein bisschen zickig zu geben.
Er ließ einen tiefen, traurigen Seufzer hören. »Was um alles in der Welt habe ich nur falsch gemacht?«, stöhnte er.
Irgendwann sage ich’s dir mal, dachte sie. Es gab da so einiges, was sie noch immer schwer belastete und was sie mal zur Sprache bringen, klären und ein für alle Mal vom Tisch haben wollte.
Aber nicht jetzt. »Bis dann, Geoff, und danke für die Hilfe. Pass auf dich auf«, sagte sie so liebevoll, wie sie es nur wenige Tage vorher kaum über sich gebracht hätte. Und ein paar Jahre früher wäre diese Warmherzigkeit vollkommen undenkbar gewesen.
»Fahr vorsichtig, Liebes«, waren seine letzten Worte.