KAPITEL 16
Sie wusste nicht, wie lange sie ohnmächtig gewesen war. Aber sicher nicht sehr lange, dachte sie, nur ein paar Sekunden. Geweckt hatte sie ein beißender Geruch, penetrant wie Ammoniak, und als sie ihre Augen öffnete, war der Wagen von grauem Staubnebel erfüllt. Der rührte anscheinend von den Airbags her, die nun langsam in sich zusammenfielen. Ihre Nase tat weh, aber als sie sie anfasste, fand sie kein Blut. Ihre Nase gab nicht nach und wackelte auch nicht. Davon abgesehen …
Sie war so umnebelt, dass sie gar nicht mehr an Chris gedacht hatte. »Chris! Ist alles in Ordnung?«
Nichts. Chris’ Kopf war auf ihre Brust gesunken. Alix wurde ganz angst und bange. Sie berührte ihre Freundin an der Schulter. »Chris?«
Chris’ Kopf ruckte leicht nach oben. »Hä?«
»Chris, ist alles in Ordnung?«
Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. »Ja … nein … ich glaube nicht. Mein Kopf …«
»Nicht bewegen. Ich rufe Hilfe.« Aber als sie nach ihrem Handy tastete, fiel ihr ein, dass es in ihrer Umhängetasche war, die jetzt wahrscheinlich den Chama River entlang zum Rio Grande und weiter bis zum Golf von Mexiko trieb. Bei dem Gedanken an das Handy fiel ihr auch der Typ in dem Pick-up wieder ein. Den hatte sie ganz vergessen. Und den Sattelschlepper auch. Gott, sie war wirklich noch total benommen. Ängstlich schaute sie hoch. Der Lamborghini hatte sich einmal um sich selbst gedreht und seine Nase zeigte jetzt in die Richtung, aus der sie gekommen waren – und da waren sie, hundert Meter entfernt. Der Sattelschlepper hatte sich quergestellt. Der Auflieger stand aufrecht und im spitzen Winkel zum umgekippten Führerhaus, dazwischen eingeklemmt der Pick-up, der auch auf der Seite lag. Staubwolken stoben von den beiden Fahrzeugen auf. Niemand rührte sich. Gut so. Wenn die beiden tot waren, sollte ihr das nur recht sein.
»Alix«, murmelte Chris, »ich kann … ich kann nicht richtig …« Dann verdrehte sie die Augen und verlor wieder das Bewusstsein.
Alix hatte schreckliche Angst um sie. Chris schien verletzt zu sein, vielleicht sogar schwer. Sie musste schnell in ein Krankenhaus. Aber wie? Sie merkte, wie sie in Panik geriet. Unter Umständen würde hier die nächsten paar Stunden kein einziges Auto vorbeikommen. Kein Handy, kein …
Dann kam plötzlich eine ruhige Frauenstimme aus dem Navi-Lautsprecher. Es war, als hörte Alix die Stimme Gottes.
»Dies ist Ihr Vierundzwanzig-Stunden-Notdienst. Wir haben eine Meldung empfangen, dass Ihre Airbags aktiviert wurden. Brauchen Sie Hilfe? Wir haben Sie auf dem Highway 84 geortet – sechs Kilometer nordwestlich von Abiquiu, New Mexico. Falls Sie nicht sprechen können …«
Dann fand Alix endlich ihre Stimme wieder. »Ja, wir brauchen Hilfe!«, schrie sie und fing vor Dankbarkeit fast an zu weinen. »Meine Freundin ist …«
»Und Sie glauben wirklich, dass er versucht hat, sie umzubringen?«, fragte Ted halb überrascht, halb skeptisch. »Dass er Sie über den Felsrand drängen wollte?«
»Ja«, sagte Lieutenant Mendoza, »davon bin ich fest überzeugt.«
Ted saß schweigend da und schüttelte den Kopf. Mendoza hatte ihn zwanzig Minuten zuvor angerufen und gebeten, wegen eines gravierenden Zwischenfalls nördlich von Española in sein Büro zu kommen. Dann hatte er ihm alle Einzelheiten geschildert.
»Aber Eduardo«, sagte er schließlich, »warum ziehen Sie so voreilige Schlüsse? Die beiden waren in einem schnieken Sportwagen in offenem Gelände unterwegs, noch dazu im Land der tiefergelegten Autos. Ist nicht eher anzunehmen, dass der Fahrer des Pick-ups sie zu einem Rennen auffordern wollte oder irgendeine dämliche Mutprobe im Sinn hatte? Und dann ist die Sache schiefgelaufen, weil der Sattelschlepper um die Kurve kam.«
»Nein …« Um den Ernst der Lage zu unterstreichen, drehte Mendoza seine Lobos-Mütze nach hinten und begann, Punkte an seinen Fingern abzuzählen. Kleiner Finger … »Erstens war der Fahrer des Trucks nicht irgendein unschuldiger Mensch, der zur falschen Zeit am falschen Ort aufgekreuzt ist. Das ist ein Krimineller. Der hat schon gesessen. Der andere auch. Und die beiden haben nicht zum ersten Mal zusammengearbeitet.« Ringfinger … »Zweitens klingt die Geschichte von Alix London plausibel.«
»Ja, aber …«
»Und drittens – und das ist das Ausschlaggebende …«, er bog seinen Mittelfinger zur Bekräftigung ganz weit zurück, » … haben wir den Bericht des Sheriffs von Rio Arriba County. Die Bremsspuren und die Schadensbilder der Fahrzeuge bestätigen ihre Geschichte bis zum letzten i-Tüpfelchen. Der Pick-up und der Sattelschlepper haben versucht, ihr den Weg abzuschneiden und sie von der Straße zu drängen, das steht fest, und verdammt, wenn sie die beiden nicht ausgetrickst hätte … Sie wäre beinah vollkommen unbeschadet davongekommen, aber der Truck kam ins Schleudern und der Auflieger hat sie gerammt. Der Lamborghini hat Totalschaden, aber sie hat ihn auf der Straße halten können und beide haben überlebt. Ich kann Ihnen sagen, die Lady fährt nicht nur super, die hat auch Nerven aus Stahl.«
»Hört sich an, als hätte sie’s Ihnen angetan«, sagte Ted.
»Ich bin ganz schön beeindruckt, ja.« Er drehte seine Baseballmütze wieder richtig herum, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
»Laden Sie sie also zum Verhör vor?«
»Wegen dieser Sache? Nein, nicht offiziell. Für den Fall ist Denny Ortiz in Rio Arriba zuständig. Aber sie hat gestern angerufen, um mir zu sagen, dass das Bild eine Fälschung ist. Eindeutig, definitiv, hundertprozentig. Wenn sie zurück ist, kommt sie her, um mir mehr zu erzählen, und ich könnte mir vorstellen, dass wir auch über die Sache mit dem Lamborghini reden.«
Eindeutig, definitiv, hundertprozentig, so sicher war sie sich beim letzten Mal nicht, dachte Ted. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie alle Informationen, die sie hat, an mich weitergeben könnten. Über das Bild, meine ich.«
»Na klar.«
»Was ist mit den beiden anderen Fahrern?«, fragte Ted. »Hat der Sheriff irgendwas aus denen rausgekriegt?«
»Aus dem einen ja, dem Lasterfahrer, und das war entscheidend. Denny hat mit ihm geredet und er sagt, der andere, Eddie Sierra, hätte ihm zweitausend Dollar dafür gegeben und er hätte es gemacht, ohne Fragen zu stellen. Denny glaubt ihm das auch, denn er ist schwachsinnig genug, so was zu tun. Mehr weiß er angeblich nicht. Er sagt, er hätte es für einen Streich gehalten und dass sie ihnen nur Angst einjagen sollten, mehr nicht. Das nimmt Denny ihm aber nicht ab und ich auch nicht.«
»Und dieser Sierra? Was hat der für eine Geschichte auf Lager?«
»Das werden wir wohl nie erfahren. Er ist immer noch ohne Bewusstsein und wird wahrscheinlich nicht mehr zu sich kommen.«
Ted nickte. »Also was meinen Sie, Eduardo? Was steckt dahinter?«
Mendoza zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber wir können schon mal ein paar Mutmaßungen anstellen. Erstens, dieser Trottel Sierra hat das nicht allein ausgeheckt. Das sind beide totale Nieten, dumm wie Bohnenstroh. Außerdem, woher sollte Sierra zweitausend Dollar haben? Nein, irgendjemand hat ihn dafür angeheuert und ihm genug bezahlt, dass auch noch zweitausend Dollar für seinen Kumpel drin waren.«
»Hört sich plausibel an.«
»Außerdem glaube ich, dass die’s auf die London abgesehen hatten, nicht auf die LeMay.«
»Warum?«
»Na, wegen dem anderen Anschlag?«
»Dem anderen Anschlag …?« Ted beugte sich vor, die Hände auf den Schreibtisch gestützt. »Moment mal, Sie glauben, die Explosion in der Casita war kein Unfall?«
»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich. Entschuldigung, Ted, ich wollte es Ihnen sagen, aber ich hab’s einfach vergessen.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Für Tötungsdelikte sind Sie zuständig, ich interessiere mich nur für Kunst. So war das ausgemacht. Aber da Sie es schon mal erwähnt haben …« Fragend zog er die Augenbrauen hoch.
»Wir dachten uns, wir nehmen die Umstände der Explosion mal genauer unter die Lupe, und haben herausgefunden, dass die LeMay ursprünglich für die London ein Zimmer im Hauptgebäude gebucht hatte. Dann, so das Hotel, hat sie am Vortag der Anreise angerufen, um die Buchung zu ändern. Stattdessen sollte die London in dieser Casita übernachten … als besondere Überraschung.«
Ted runzelte die Stirn. »Und sie glauben, die LeMay steckt dahinter? Aber …«
»Nein, die hatte nichts damit zu tun.«
»Aber Sie haben doch gerade gesagt …«
»Ich habe nur wiederholt, was die Leute vom Hotel gesagt haben. Jemand hat sich für sie ausgegeben. Sie müssen auch zuhören.«
Ted lehnte sich seufzend zurück. »Ich komme nicht mehr mit.«
»Wenn jemand behauptet, eine bestimmte Person zu sein, ist das doch kein Beweis. Das müssten Sie doch am besten wissen, Rollie, alter Knabe.«
»Stimmt«, gestand Ted mit einem Lächeln ein.
»Es war Liz Coane. Die hat im Hotel angerufen.«
Ted war nun wirklich überrascht. »Wie sind Sie denn darauf gekommen?«
Mendoza grinste breit. »Hervorragende Polizeiarbeit, mein Lieber. Das Hotel führt ein Logbuch. Demnach kam der Anruf am Donnerstag um vierzehn Uhr fünfunddreißig, aber die Telefonnummer wurde nicht vermerkt. Das sagt uns also erst mal gar nichts. Aber … wenden wir uns dem Mordfall Liz Coane zu. Wir sammeln also mit äußerster Sorgfalt Informationen, wofür wir mit Recht bekannt sind, und natürlich überprüfen wir auch das Anrufprotokoll ihres Handys, ein- und ausgehende Verbindungen. Und siehe da, am Donnerstag, dem neunten September, um vierzehn Uhr vierunddreißig hat sie einen einminütigen Anruf getätigt. Und zwar …«
»Zur Hacienda Encantada«, sagte Ted. »Sie Teufelskerl!«
»Ja, Liz steckte dahinter.«
»Aber wie ist sie denn in die Casita gekommen, um an dem Gas herumzumanipulieren? Und wann? Oder hat das jemand für sie besorgt?«
Mendoza zuckte wieder mit den Schultern. »Ach, wahrscheinlich war es gar nicht so schwierig. Die fragliche Casita gibt’s natürlich nicht mehr, aber wir haben einen Gasinstallateur kommen lassen. Der hat sich die Leitungen der Casitas angesehen und gesagt, dass man es einfach von außen hätte manipulieren können. An der Rückseite, wo die Leitung zum Tank führt. Das hätte jeder machen können. Die Casitas haben auf der Rückseite keine Fenster, dadurch war es noch einfacher.«
Ted dachte ernsthaft darüber nach. »Zwei Versuche, Alix London umzubringen, in drei Tagen«, sinnierte er.
»Sieht ganz so aus. Außerdem müssen es zwei verschiedene Leute gewesen sein, denn Liz Coane hatte beim zweiten Mordversuch schon das Zeitliche gesegnet.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich nur wüsste, was hier gespielt wird.«
»Nun, was es auch sein mag, das beweist jedenfalls, dass sie bis über beide Ohren in der Sache drinsteckt. Ich wusste es von Anfang an. Der Apfel fällt nicht weit … Was ist?«, fragte er, denn Mendoza sah ihn fragend an. »Was ist denn?«
»Also, Ted, verstehe ich Sie richtig? Dieses Mädchen – diese Frau – entkommt dank ihres ungeheuren Muts und Geschicks nur mit knapper Not zwei Mordversuchen … und Sie kommen zum dem Schluss, dass sie etwas verbrochen hat? Habe ich da irgendetwas übersehen?«
»Eine ganze Menge«, sagte Ted überaus freundlich. »Erstens, wer ihr Vater ist. Zweitens, dass sie es ihm nachgetan hat und im Kunstbetrieb arbeitet. Drittens, dass sie diesen Auftrag nur mit seiner freundlichen Unterstützung bekommen hat. Und außerdem …«
»… dass Sie total von ihr besessen sind.«
»Ich bin was …?« Er wollte eigentlich protestieren, doch dann fing er an zu lachen und wurde plötzlich ganz entspannt. Er erkannte selbst, dass seine Argumentation voller Löcher war. »Ja«, sagte er seufzend, »Sie haben recht, Eduardo. Ich bin nicht gerade objektiv, was? Nun gut, was soll ich sagen? Sie hat einfach etwas an sich, das mir gegen den Strich geht.«
Etwa, dass sie anscheinend so vollkommen immun gegen seinen Charme war?, spekulierte er. Aber diese Erkenntnis behielt er doch lieber für sich.
»Nun, ich habe mir anfangs auch so meine Gedanken über sie gemacht, aber mittlerweile glaube ich, dass sie ehrlich ist. Seien Sie fair, Ted.«
»Sie haben vollkommen recht«, sagte er aufrichtig, aber eigentlich wollte er das Thema wechseln. »Haben Sie nicht gesagt, die Frauen sind in Española? Ist keine von beiden ernsthaft verletzt?«
»Ja, das war der letzte Stand. Chris LeMay bleibt aber zumindest über Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus. Wo Alix London sich gerade aufhält, weiß ich nicht. Sie haben sie untersucht und entlassen, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie immer noch im Krankenhaus bei der LeMay ist. Es ist ja alles erst ein paar Stunden her.«
»Also, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern hinfahren und ihr ein paar Fragen stellen.«
»Dagegen habe ich nichts, aber ich weiß eine schnellere Möglichkeit. Der Pilot, der Ex-Freund der LeMay, macht sich ziemliche Sorgen um sie. Er fliegt mit dem Privatjet zum Flughafen von Española. Mit dem Flugzeug dauert’s nur fünfzehn Minuten anstatt anderthalb Stunden. Soll ich den Flughafen von Santa Fe anrufen? Vielleicht ist er noch nicht gestartet.«
»Ja, bitte, das wäre nett. Ich habe nämlich ein paar dringende Fragen.«
Ach ja, welche denn?, fragte er sich auf der Fahrt zum Flughafen, der ein paar Kilometer südlich der Stadt lag. Was war denn so dringend, dass er unbedingt sofort losfliegen musste, um mit ihr zu reden? Was waren das für Fragen, die nicht bis zum nächsten Tag warten konnten oder bis sie wieder zurück nach Santa Fe kam?
Hatte Mendoza vielleicht den Nagel auf den Kopf getroffen? Bei dem Gedanken war ihm gar nicht wohl. War er wirklich von ihr »besessen«?