KAPITEL 18
Sie hatte sich tapfer gehalten, aber sobald sie sich auf den Beifahrersitz des rot-weißen Transporters sinken ließ, forderten die Ereignisse des Tages – und dieser ganzen seltsamen Woche – ihren Tribut.
»Verzeihen Sie dieses proletarische Gefährt«, sagte er. »Normalerweise, wenn ich als betrügerischer Kunsthändler unterwegs bin, fahre ich eine Edelkarosse. Aber Mercedes und Porsche findet man in Española nicht so leicht und das hier war das Beste – nein, das Einzige –, was ich dort auftreiben konnte.«
»Ich werd’s überleben«, sagte sie. »Ich döse sicher sowieso weg, sobald wir unterwegs sind.« Und noch bevor er den Schlüssel im Zündschloss umgedreht und sogar noch bevor sie den Gurt angelegt hatte, fielen ihr die Augen zu. Sie war gerade noch in der Lage, sich schläfrig lallend, aber ehrlich dafür zu entschuldigen, dass sie die Fassung verloren hatte. Und auch Ted bat um Verzeihung. Dann traten sie die einstündige Fahrt an, und als er auf den Highway 68 Richtung Norden einbog, schlief sie bereits tief und fest. Auch als sie irgendwann spürte, dass der Wagen angehalten hatte und der Motor aus war, wurde sie nicht wach. Erst als Ted sanft ihre Schulter drückte und leise sagte: »Alix, wir sind da … Alix?«, um sie aus dem unendlich tiefen, schwarzen Loch zurückzuholen, in das sie gefallen war, da wurde sie endlich wach.
Sie war vollkommen desorientiert und ein paar Sekunden lang glaubte sie, sie wäre wieder ein kleines Mädchen und auf der langen Strecke zwischen ihrer Wohnung in Manhattan und dem Sommerhaus in Watch Hill eingeschlafen, die ihre Familie damals jeden Sommer mehrmals zurückgelegt hatte. Sie hatten sie nie richtig wach bekommen, und zu ihren schönsten Erinnerungen gehörte das Gefühl von Geborgenheit und Wärme, wenn ihr Vater sie in seinen starken Armen – sie den Kopf auf seiner Schulter und die Augen fest geschlossen – nach oben ins Bett getragen und liebevoll zugedeckt hatte. Diese Erinnerung war in ihrem schlaftrunkenen Hirn so lebendig, dass sie beinah Ted gebeten hätte, sie in seinen starken Armen nach oben zu tragen und zuzudecken. Und bitte schön liebevoll.
Wie verrückt! Nur gut, dass sie ganz wach wurde, bevor sie diesem Drang nachgab. Trotzdem wurde sie bei dem Gedanken vor Scham rot. Als er anbot, ihre Tasche zu tragen, lehnte sie barsch ab, worauf er sie verständlicherweise überrascht ansah, während sie rasch in dem Lehmziegelbau verschwand.
Sie kam in einen großen Raum, in dem die Cocktailstunde im Gange zu sein schien. Etwa ein Dutzend Leute standen oder saßen in Grüppchen herum und plauderten. Ein paar bekannte Gesichter waren auch dabei. Gregor Gorzynski war da. Der mit den Frühstücksflocken, Reisnudeln und M&M’s. Er trug denselben abgewetzten Lederblouson, den er auf der Vernissage angehabt hatte, und anscheinend auch dieselbe enge, zerrissene Jeans. (Ließ er die sich etwa so anfertigen?) Er hielt eine überschwängliche Rede, und eine Blondine in mittleren Jahren mit zu stark getuschten Wimpern beobachtete gebannt jede seiner großen Gesten. Wer hier wen verführte, war nicht zu erkennen und wohl auch unwichtig.
In einem Sessel ganz in der Nähe saß mit unverhohlen verächtlichem Gesichtsausdruck der Museumsarchivar Clyde Moody, während ein älteres Pärchen ihm die Ohren vollplapperte und über die eigenen Geschichten lachte. Der arme Moody sah aus, als wäre er lieber ganz weit weg und wüsste nicht, wie er sich loseisen sollte. Alix winkte ihm zaghaft zu, aber er ignorierte sie. Vielleicht sah er sie auch nicht: Als sie sich umdrehte und gehen wollte, kam halb schleichend, halb stolzierend ein unbekannter junger Mann auf sie zu. In der Hand hielt er einen Martini auf Eis.
»Hallo, hübsche Frau«, sagte er und hauchte sie mit seiner Ginfahne an. »Kennen wir uns nicht irgendwoher?« Er trug eine schwarze Levi’s und ein eng anliegendes, schwarzes T-Shirt, das seinen mit viel Liebe trainierten Oberkörper und die muskulösen Arme gut zur Geltung brachte. Sein Südstaatenakzent – Mississippi, Alabama, vielleicht Louisiana – wirkte irgendwie anzüglich und plumpvertraulich.
»Ich glaube nicht.« Sie ging einen Schritt zurück.
Er ging einen Schritt vor. »Vielleicht können wir uns kennenlernen.«
Sie wich weiter zurück. »Glaube ich kaum.« Sie erhaschte einen Blick auf den Namensaufkleber direkt unter seinem Schlüsselbein: »Hi! Ich bin Cody Mack Burley.« Es dauerte einen Moment, aber dann erinnerte sie sich wieder. Das war doch Liz’ Schützling, der Maler, dessen Arbeiten Chris nicht in ihrem Lokal ausstellen wollte. Chris hatte sie angewidert als Bilder von seltsam verrenkten Frauen abgetan, deren Eingeweide man sehen konnte. Alix wich noch weiter zurück.
Cody Mack merkte es gar nicht und hielt sein Glas hoch. »Kann ich Ihnen was zu …«
»Vielleicht ein andermal. Entschuldigen Sie bitte, ich muss mich noch anmelden«, sagte sie und wandte sich von ihm ab, aber in letzter Sekunde zwang sie sich dann doch zu einem Lächeln. Schließlich hatte er Liz ziemlich nahegestanden und vielleicht wollte sie ja doch noch einmal mit ihm reden. Aber darüber würde sie sich später Gedanken machen. Jetzt wollte sie einfach nur ins Bett fallen und wieder in Tiefschlaf versinken.
»Sie haben das große Zimmer oben, Mabels altes Zimmer«, sagte Janet, die Frau am Empfang.
»Stimmt«, sagte Alix, obwohl sie es vergessen hatte.
»Nein, sie kann nicht. Sie hatte einen Unfall. Ich bin allein.«
»Oh, das tut mir leid. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.«
»Es geht ihr gut«, sagte Alix. Wahrscheinlich ließ sich Chris gerade von ihrem überaus besorgten, fürsorglichen Craig nach Seattle zurückfliegen und fühlte sich bestens dabei. Waschbäraugen hin oder her.
Die Treppe zu Mabels Zimmer im Obergeschoss lag hinter dem Empfang. Sie war ungewöhnlich schmal und niedrig und schraubte sich an allen vier Seiten des quadratischen Treppenschachts entlang nach oben. Da ihr fast die Augen zufielen, achtete Alix kaum darauf, wohin sie lief, und an der ersten Biegung stieß sie sich den Kopf an der Unterseite der oberen Treppe. Offenbar war sie nicht die Erste, der das passierte, denn man hatte die Treppenunterseite gut gepolstert. Trotzdem tat es weh. Eigentlich mochte sie charaktervolle alte Gebäude, an diesem Abend jedoch hatte sie für dieses Haus nur ein paar deftige Flüche übrig. Sie schaffte es aber ohne weitere Zwischenfälle bis zum Obergeschoss, wo in ihrem müden Hirn alle Eindrücke ineinanderflossen: eine alte Holztür, ein riesiges Zimmer mit Holzfußboden und einem Bett mit dicken Pfosten und dann nichts weiter als die wunderbar glatten, kühlen, sauberen Laken und die wohlige Sanftheit, die sie umhüllte, als sie tiefer und immer tiefer sank.
Sie tauchte erst wieder auf, als das unwiderstehliche Aroma von frischem Kaffee sie wachrief. Der Duft züngelte sich seinen Weg von der Küche her durch die Lücken zwischen den alten Holzdielen. War es schon Morgen? Hatte sie wirklich so lange geschlafen? Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass es so war. Es war noch nicht hell, aber der Wecker am Bett zeigte in roten Ziffern 06:11 an. Sie hatte zwölf Stunden lang fest geschlummert. Kaum zu glauben. So lang hatte sie doch noch nie geschlafen. Allerdings hatte sie auch noch nie einen Tag wie den erlebt, den sie gerade hinter sich hatte. Natürlich abgesehen von kürzlich, als ihre Casita in die Luft geflogen war.
Mann, was für eine Woche, dachte sie, als sie sich so lange und genüsslich reckte, dass jede Katze beeindruckt gewesen wäre. Der Kaffeeduft war so verlockend und außerdem hatte sie Hunger – sie konnte jetzt auch Pfannkuchen riechen –, aber zuerst musste sie sich dringend um Aussehen und Körperpflege kümmern. Am Vorabend war sie voll bekleidet ins Bett gefallen, ohne sich das Gesicht zu waschen oder die Zähne zu putzen. Sie rollte zum Bettrand und stand auf, gähnte und fühlte sich, als hätte sie die Nacht bei Regen im Freien verbracht und nicht in dem wohl bequemsten Bett auf Erden.
Als sie zwanzig Minuten später ihre Haare föhnte, fiel ihr ein, dass sie ihre Anrufe schon länger nicht mehr abgehört hatte. Sie holte das Handy aus der Reisetasche, das Chris ihr beim Abschied im Krankenhaus aufgedrängt hatte. Zu ihrer eigenen Mailbox durchzudringen, war mit dem üblichen Theater verbunden, aber als es ihr schließlich gelang, hatte sie ein Dutzend Nachrichten von Leuten, die sie nicht kannte – Journalisten, nahm sie an –, und die sie löschte, nachdem sie jeweils ein paar Sekunden reingehört hatte.
Sie hörte sich aber eine kurze Nachricht ihres Vaters an. Ob sie versehentlich den Katalog der Galería Xanadu aus dem Museum in Santa Fe mitgenommen hätte? Als die Expertin, die Geoff kannte, sich den Katalog hatte anschauen wollen, war er anscheinend nirgends zu finden gewesen, und Mr Moody hatte sich gefragt, ob Alix, die als Letzte Zugang zu dem Dokument gehabt hatte, es eingesteckt haben könnte, ohne es zu merken.
Nein, dachte Alix ein bisschen eingeschnappt, ich habe den Katalog nicht eingesteckt, auch nicht versehentlich. Unter Clyde Moodys Adleraugen irgendetwas mitgehen zu lassen, wäre schon eine Meisterleistung. Er hatte sie gebeten, den Ordner auf dem Tisch zu lassen, und das hatte sie auch getan. Das wusste sie noch ganz genau. Sicher würde sie ihm hier in Taos im Laufe des Tages noch begegnen und die Sache dann klarstellen.
Sie hatte auch drei Nachrichten von Katryn Lombard, für die sie in Seattle die Bilder restaurierte. Zuerst machte sie sich Sorgen. Katryn war schon seit Monaten weg und hatte ihr bisher nur eine Postkarte und ein paar E-Mails aus der Provence geschickt, aber nie angerufen. Und jetzt direkt drei Nachrichten, zwei vom Vortag und eine vom gleichen Tag (in Frankreich war’s acht Stunden später), und jedes Mal bat sie Alix darum, so schnell wie möglich zurückzurufen. Wollte sie sie rausschmeißen? Brauchte Katryn ihre Wohnung wieder selbst? Aber sie hörte sich die Nachrichten noch einmal an und es klang nicht danach. Kein Anzeichen von schlechten Neuigkeiten, eher im Gegenteil. Aber trotzdem machte es Alix nervös und sie beschloss, noch vor dem Frühstück kurz in Frankreich anzurufen, nur um ganz sicherzugehen.
»Alix, Darling, ich bin so froh, dass Sie anrufen!«, sagte Katryn in ihrer gewohnten Art, fröhlich, hektisch und eindringlich wie eine Türklingel. »Ich war krank vor Sorge um Sie. Ich habe gelesen, was in Santa Fe passiert ist und dass Sie die Leiche gefunden haben! Wie grauenvoll.« Sie hörte sich geradezu begeistert an, aber sie merkte es anscheinend selbst und fügte schnell hinzu: »Es ist doch alles in Ordnung mit Ihnen, oder?«
Alix seufzte. Gott, sogar in Moustiers-Sainte-Marie wusste man über sie Bescheid. Ihre einstmals rosigen Zukunftsaussichten als ehrbare Kunstberaterin verdüsterten sich von Minute zu Minute. »Mir geht’s gut, Katryn«, sagte sie. »Danke, dass Sie angerufen haben.«
»Also, eigentlich war das nicht der Grund, nicht der einzige, meine ich. Alix, was schätzen Sie, wie lange Sie noch brauchen, bis Sie mit den Restaurationen fertig sind? Noch einen Monat vielleicht?«
Jetzt verließ Alix erst recht der Mut. Katryn wollte sie also doch aus der Wohnung haben. Sie sah nicht nur einer Zukunft ohne Arbeit, sondern auch ohne Dach über dem Kopf entgegen. Ein Ärger kam selten allein. »Nun …«
Katryn, die manchmal durchaus scharfsinnig war, begriff, warum sie zögerte. »Darling, ich will Sie nicht aus der Wohnung werfen. Wir haben uns auf ein Jahr geeinigt und dabei bleibt’s. Aber wenn Sie die Arbeit etwas schneller erledigen könnten …?«
Puh. »Nun, der Signac ist fertig, Katryn. Das Bild wird Ihnen sicher gefallen. Und bei dem Utrillo bin ich schon ziemlich weit. Aber bei dem Royle und dem Luce gibt’s noch einiges zu tun. Ich werde wahrscheinlich bald zurück …«
»Verschieben wir den Royle und den Luce erst mal auf später. Und den Malharro auch. Wie lang würden Sie brauchen, um den Utrillo fertigzustellen und außerdem den Bonnard zu restaurieren?«
Alix zuckte mit den Schultern, obwohl das niemand sehen konnte. »Ich weiß nicht … zwei Monate? Nein, sagen wir sicherheitshalber drei. Wissen Sie, es ist nicht so sehr die Arbeit selbst, aber das Trocknen dauert lange, und ich muss vielleicht Material aus Europa bestellen …«
»Drei Monate sind vollkommen in Ordnung«, sagte Katryn. »Drei Monate sind einfach perfekt.«
»Aber warum die Eile, Katryn? Was ist los?«
»Weil ich sie versteigern lassen will«, sagte sie hastig, »und sie sollen in möglichst gutem Zustand sein!«
Alix war schockiert. Der Bonnard und der Utrillo waren die Glanzstücke der Sammlung und auch die wertvollsten Bilder. Sie waren mehr wert als die anderen vier zusammen. »Aber warum?«
»Weil ich die alten spätimpressionistischen Schmierer total überhabe, Sie etwa nicht?«
»Äh, nein, nicht …«
Aber es war eine rhetorische Frage gewesen. »Das sind doch alte Kamellen. Dafür interessiert sich heute kein Mensch mehr. Die haben doch gar keinen Bezug zu unserer modernen Welt, finden Sie nicht auch?«
Auch auf diese Frage wollte sie nicht wirklich eine Antwort. Alix wartete ab.
»Und deshalb will ich sie loswerden und in die Zukunft investieren, nicht in die Vergangenheit, nicht in alte, tote Künstler, sondern in lebendige, geniale neue.«
»Die Zukunft?«, fragte Alix vorsichtig. Der Gedanke, dass jemand Bonnards strahlend sinnliche Badende loswerden wollte, ließ sie erschaudern, insbesondere, da das Bild moderner Kunst weichen sollte.
»Ja! Es gibt da einen wundervollen neuen Künstler. Ein wahrer Visionär! Ich betrachte ihn als einen Erben Picassos, nur vollkommen anders. Bahnbrechend. Er wird den Kunstbegriff ganz neu definieren und ich werde seine amerikanische Mäzenin. Ist das nicht unglaublich?«
Diesmal erwartete sie eine Antwort. »Ja, allerdings«, erwiderte Alix, unfähig, mehr Begeisterung aufzubringen. »Herzlichen Glückwunsch.«
»Er ist praktisch gerade erst in der Kunstszene aufgetaucht«, plapperte Katryn weiter. »Ich hatte so ein Glück, ihn als Erste zu entdecken. Ich folge ihm auf Twitter«, sagte sie stolz. »Und ich habe mit ihm telefoniert. Schon zweimal. Ein wundervoller Mensch und sehr tiefsinnig, einfach ein Genie.« Alix hörte eine Art Schniefen, vielleicht Katryns Version eines mädchenhaften Kicherns. »Und was für ein heißer Typ! Ich habe sein Video auf YouTube gesehen.«
»Wie heißt er?«, fragte Alix. »Könnte ich schon von ihm gehört haben?« Sie bekam langsam ein komisches Gefühl dabei.
»Das würde mich nicht überraschen. Vielleicht sind Sie ihm sogar schon begegnet! Danach wollte ich Sie auch fragen.«
Das komische Gefühl wurde stärker. Es war doch sicher nicht … Es konnte doch nicht …
»In seinen Tweets hat er geschrieben, seine erste Ausstellung in Amerika stehe kurz bevor, in der Galerie Blue Coyote in Santa Fe, deshalb habe ich mich natürlich gefragt …«
Das konnte doch nicht wahr sein! War’s aber doch. Alix war total entgeistert »Gregor Gorzynski«, sagte sie tonlos.
»Gregor Stanislav Gorzynski«, sagte Katryn affektiert. »Kurz Stani. Haben Sie ihn tatsächlich getroffen? Haben Sie seine Arbeiten gesehen? Sind sie nicht fantastisch?«
»Katryn«, begann Alix, aber Katryn schnitt ihr das Wort ab, was auch gut war, denn sie wusste nicht, was sie sonst gesagt hätte. Aber sicher etwas, das Katryn gar nicht gefallen hätte. »Alix, ich muss jetzt Schluss machen. Wir hören voneinander. Au revoir, ma chère. Ich bin so aufgeregt!«
Alix stand kurz einfach da und starrte aus dem Fenster, dann setzte sie sich kraftlos wieder aufs Bett. Wütend löschte sie alle drei Nachrichten von Katryn. Übelkeit stieg in ihr auf. Hatte etwa jemand Katryn dazu angestiftet, ihr einen üblen Streich zu spielen? Oder waren hier kosmische Kräfte im Spiel? Man erntet, was man sät? Alles rächt sich irgendwann? Die Geschichte wiederholt sich? Die Sünden des Vaters sollen die Tochter heimsuchen? Dann gingen ihr die klugen Sprüche aus.
Geoff war es im Grunde genauso gegangen und deshalb war er auch kriminell geworden, wenn man seiner Geschichte Glauben schenkte. Seine Fälschungen waren allesamt Kopien von Gemälden, die ihm zur Reinigung oder Restauration anvertraut worden waren. Und die Fälschungen waren so gut, dass er sie gegen die Originale austauschen konnte, ohne dass die Besitzer etwas merkten. Sahen sie nicht irgendwie anders aus? Strahlten sie nicht wie neu? Natürlich, das war das Ergebnis der fachmännischen Reinigung. Anschließend verkaufte er die Originale an gutgläubige und manchmal auch zwielichtige Sammler und machte jedes Mal eine Menge Geld.
Die Beweislage war so eindeutig, dass es aussichtslos gewesen wäre, seine Unschuld zu beteuern, und er hatte es auch nicht getan. Stattdessen hatte er in einer eloquenten Verteidigungsrede erklärt, er habe die westliche Zivilisation retten wollen. Er hatte darauf hingewiesen, dass alle Gemälde, sechzehn an der Zahl, restauriert werden sollten, um sie anschließend zu verkaufen, damit die Besitzer Geld für Neuanschaffungen hatten. Und bei all diesen Neuanschaffungen habe es sich um postmoderne Scheußlichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts gehandelt. »Scheußlichkeiten«, so hatte er sie genannt. Mal war es Neo-Dada, dann wieder Neoexpressionismus oder Dekonstruktivismus oder irgendetwas, für das es keinen Namen gab. Und den Gedanken, etwa einen Akt von Ingres zu verkaufen, um ihn durch ein »Statement« aus Drähten und in Harz gegossenen Tiereingeweiden zu ersetzen, fand er einfach empörend. Er erklärte mit seinem gewohnten Überschwang, er habe die Kunstwerke retten wollen, indem er sie den Banausen wegnahm, denen sie ohnehin nichts bedeuteten und die es gar nicht merkten, um sie in die liebevolle Obhut derer zu geben, die Schönheit und wahre Werte zu schätzen wussten.
Alix hatte sich damals ihren Teil gedacht. Sie erinnerte sich noch, wie sie in der Zeitung über den Prozess gelesen und laut vor sich hingebrummt hatte: Was für eine gequirlte Kacke. Er war einfach ein Gauner und bei seinem vermeintlichen Streben, die Kunst vor den Barbaren zu retten, hatte er nicht ganz zufällig eine Menge Geld verdient (was mittlerweile natürlich alles weg war).
Aber das war lange her. Das Gespräch mit Katryn ließ die Sache in einem neuen Licht erscheinen. Zum ersten Mal konnte sie Geoffs Gefühle nachvollziehen. Sie wollte seine Gaunereien nicht rechtfertigen, aber … diesen erlesenen Utrillo, in den sie ihr ganzes Herzblut gesteckt hatte, gegen … gegen … M&M’s und Reisnudeln einzutauschen? Geoff hatte recht, die Kunstbanausen übernahmen das Ruder.
Ihr war immer noch übel und jetzt hatte sie auch noch Bauchkneifen. Aber die Ursache dafür war nicht ihre gerechte Empörung, wie ihr jetzt klar wurde.
Seit dem Frühstück am Vortag hatte sie nichts mehr gegessen. Sie hatte einfach Hunger.
Die kosmischen Kräfte mussten warten. Kaffee und Pfannkuchen hatten Vorrang.
Als sie in den Flur hinausging, sah sie durch eine halb offene Tür ein altmodisches Badezimmer, das von diffusem Licht in allen Regenbogenfarben durchflutet war. Zuerst dachte sie, die Ursache wären Buntglasscheiben, aber als sie neugierig einen Blick hineinwarf, sah sie ganz normale Glasfenster, die dick mit primitiven Bildern übermalt waren: indianischer Federschmuck, ein Huhn, ein anderes Tier (Katze, Hund oder Streifenhörnchen vielleicht), außerdem verschiedene geometrische Formen, alles in einem grellbunten Durcheinander verschiedener Rot-, Gelb-, Blau- und Grüntöne. Das also war das berühmte Badezimmer, von D. H. Lawrence aus Entrüstung darüber ausgemalt, dass seine Gastgeberin ihre Waschungen für jeden (der äußerst seltenen) Passanten sichtbar vollzog. Eine Inschrift in einer Ecke bestätigte: D. H. Lawrence hat dieses Fenster bemalt.
Nun, sie hatte schon früh gelernt, dass ein Genie bei seinen Leisten bleiben sollte, und das traf hier ganz besonders zu. Nur gut, dass Lawrence sich nicht entschieden hatte, Maler zu werden. Aber trotzdem war es beeindruckend, und obwohl das Bad zu einem anderen Zimmer gehörte, nahm sie sich vor, sich dort wenigstens einmal die Zähne zu putzen, nur damit sie später damit angeben konnte.
Auf dem Weg nach unten fiel ihr ein, dass sie sich den Kopf gestoßen hatte, und sie duckte sich rechtzeitig an der niedrigen Stelle, wo die Treppe um die Ecke ging. Als sie den Kopf hinunterbeugte, stieß sie fast mit der Nase an ein kleines Bild, das sie am Vortag nicht bemerkt hatte. Tafelberge, Felsentürme, Wüste. Es war eine sehr gute Arbeit und ihr erster Gedanke war, dass es sich um ein Bild von Georgia O’Keeffe handeln könnte, das die Künstlerin nach einem Besuch zurückgelassen hatte. Aber auf den zweiten Blick ähnelte es zwar ihrem Stil, war aber zu schön, zu offensichtlich dekorativ, einfach als hübsche Wandverzierung gedacht. Es war allerdings schön gemalt und viel zu schade für den düsteren Treppenabsatz. Unten rechts hatte das Bild eine kleine, blaue Signatur: Brandon Teal. Den Namen kannte sie nicht.
Sie ging weiter die Treppe hinunter, bog links um eine Ecke, folgte dem Duft von Kaffee und Pfannkuchen … und jetzt roch sie auch noch Speck, hmmm … Doch dann blieb sie plötzlich stehen. Ihr Hirn lief auf Hochtouren. Irgendetwas an dem Bild …
Sie eilte die Treppe hoch, um es sich noch einmal anzusehen. Oben am Rahmen war eine kleine Bilderleuchte befestigt. Sie knipste sie an und sah ganz genau hin. Bingo! Am Fuß eines Felsenturms, in Schatten gehüllt, war kaum wahrnehmbar ein Mann im Profil abgebildet. Die gleiche Figur – und zwar genau die gleiche Figur –, die auf dem Bild Felsen auf der Ghost Ranch zu sehen war und es als Fälschung identifizierte.
Sie wusste auch, was es damit auf sich hatte. Geoff hatte es ihr erklärt, als sie ihn von der Ghost Ranch aus angerufen hatte. Die Figur diente als Versicherung für alle Fälle, hatte er gesagt. Mancher sehr vorsichtige Fälscher fügte jedem seiner Gemälde ein unauffälliges, aber unverkennbares Element hinzu, sowohl den Fälschungen als auch Bildern, die er in seinem eigenen Namen malte. Es war eine Art Erkennungszeichen, das beweisen sollte, dass der Maler gar keinen Betrug geplant hatte. Nein, nein, das Bild war schlicht eine Kopie, eine Hommage, eine Studie. Etwas anderes hatte er doch nie behauptet. Hätte er eine Fälschung anfertigen wollen, dann hätte er doch niemals etwas in das Bild hineingemalt, das dort nicht hingehörte. Zumal es sich um sein Markenzeichen handelte. Falls irgend so ein skrupelloser Halunke das Bild erstanden hatte, um es als echtes Werk eines berühmten Meisters anzupreisen, dafür konnte man doch den armen, unschuldigen Künstler nicht verantwortlich machen.
Je länger sie das Bild betrachtete, desto sicherer war sie sich, dass Brandon Teal, falls das sein richtiger Name war, auch Chris’ »O’Keeffe«-Bild gemalt hatte. Es war unglaublich, eine sensationelle Entdeckung! Sie überlegte, Ted auf der Stelle anzurufen, aber es war kaum sieben und sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ted Ellesworth ein Frühaufsteher war. Oder verwechselte sie ihn mit Roland de Beauvais? So oder so, es eilte nicht. Es gab jetzt Wichtigeres: Pfannkuchen.
Das Speisezimmer war ein spärlich eingerichteter, düsterer Raum, der mit seinen schlichten Holzmöbeln, dem Standleuchter und den stumpfen, rot-schwarzen Bodenfliesen an ein Kloster erinnerte. Es war schon eingedeckt, aber Gäste waren noch nicht da. In der großen, altmodischen Küche direkt neben dem Speisezimmer fand sie zwei emsige Köchinnen. All die Wohlgerüche bestätigten ihr, dass trotz der verrückten Ereignisse der letzten Tage die Welt noch im Lot war. Dazu trug auch die anheimelnde Szene bei, die sich ihr darbot: Zwei Frauen in mittleren Jahren mit rosigen Wangen und mehlbestäubten Schürzen schnitten Teig in keilförmige scones, während eine dritte, jüngere mit einer Kaffeetasse in der Hand auf einem hohen Hocker saß und schweigend zuschaute. Alix erkannte die junge Frau. Es war Janet, die Rezeptionistin, bei der sie sich am Vortag angemeldet hatte.
Sie hatte kaum Guten Morgen gesagt, da wurde sie schon mit Kaffee und einem noch warmen Teilchen versorgt und bekam einen Hocker am Tisch zugewiesen. Einfach himmlisch. Sie machten ein bisschen Small Talk, redeten übers Wetter; Alix erzählte, dass es ihr erster Besuch war, und es wurden Anekdoten über das Haus zum Besten gegeben. Eine der Köchinnen arbeitete schon seit den Siebzigern dort, als das Haus Dennis Hopper gehört hatte. Ob Alix wüsste, dass er sich geweigert hatte, in Mabels Bett zu schlafen – ihr Bett der letzten Nacht –, weil er glaubte, dass Mabels ruheloser, bösartiger Geist darin herumspukte? Nein, das hatte sie nicht gewusst (auch mit dem Namen Dennis Hopper konnte sie auf Anhieb nicht viel anfangen, was sie allerdings für sich behielt), sie konnte aber mit Sicherheit sagen, dass Mabel sie nicht heimgesucht hatte. Sie hatte geschlafen wie ein Stein.
Janet schenkte sich Kaffee nach. »Das kann ich mir vorstellen. Kein Wunder, dass Sie fertig waren. Wir haben gehört, was passiert ist. Ihre Freundin wird doch hoffentlich wieder, oder?«
»Die kommt wieder in Ordnung. Keine bleibenden Schäden.«
»Schön. Äh … wegen Liz …« Janet machte ein passend ernstes Gesicht. »Ich kann mir vorstellen, wie schmerzlich ihr … ihr Tod für Sie gewesen sein muss. Waren Sie nicht beide schon lange mit ihr befreundet?«
»Ja«, sagte Alix, ohne zu zögern, »obwohl ich sie noch nicht ganz so lang kannte wie Chris.« Drei Stunden lang, um genau zu sein, aber wenn sie ihnen das auf die Nase band, würde sie niemals vertrauliche Informationen über Liz aus ihnen herausquetschen. Das einzig Schmerzliche in diesem Moment war, dass ihre gute Erziehung sie daran hinderte, sich das ganze Teilchen auf einmal in den Mund zu stopfen. Stattdessen nahm sie nur einen kleinen Bissen und einen Schluck Kaffee. »Chris war so enttäuscht, dass sie nicht mitkommen konnte. Sie hatte sich schon darauf gefreut, ein paar von Liz’ anderen Freunden kennenzulernen. Ich freue mich auch schon. Es hilft einem sicher, in alten Zeiten zu schwelgen und sich Geschichten zu erzählen.« Seit wann bin ich eine so gute Lügnerin?, fragte sich Alix. Ist das noch so ein Talent, das mein Vater mir in die Wiege gelegt hat?
Die drei Frauen nickten mitfühlend und wirkten nachdenklich, was Alix die Gelegenheit bot, ein paar Brocken Gebäck mit Marzipanfüllung zu verschlingen, das Köstlichste, was sie jemals gegessen hatte.
»Also«, sagte Janet und stand auf, »ich mache mich wohl besser an die Arbeit.«
»Ach, ich wollte Sie noch etwas fragen«, sagte Alix. »An der Treppe hängt ein wunderschönes, kleines Gemälde, eine Wüstenlandschaft …«
»Ach ja, das hat Brandon gemalt. Er hat es uns geschenkt. So ein netter Kerl.«
Brandon? »Kennen Sie den Maler? Ich meine, persönlich?«
»Brandon?«, sagte sie und setzte sich wieder. »Na klar, er kommt oft her. Er wohnt in Santa Fe. Er nimmt auch an der Konferenz teil. Sie werden ihn sicher treffen.«
»Das wäre schön. Wie sieht er denn aus?«
»Hmm …« Sie verdrehte die Augen, während sie sein Bild heraufbeschwor. »Na ja, er ist kaum zu übersehen«, sagte sie lächelnd. »Gut eins neunzig groß und ziemlich stämmig. Er hat rote Haare und sein Bart sieht aus wie orange Stahlwolle …«
Alix blinzelte nervös. Groß, stämmig, roter Bart … »Raucht er … raucht er Pfeife?«, fragte sie, während sie versuchte, ihre wachsende Aufregung zu verbergen.
»Wie ein Schlot. Ich habe ihn noch nie ohne Pfeife gesehen. Es beruhigt ihn, sagt er.«
»Tatsächlich?«, sagte eine der Köchinnen. »Dann würde ich ihn gern mal sehen, wenn er unruhig ist.«
»Ja«, sagte Janet lachend, »er ist so groß und kräftig, aber trotzdem ein Nervenbündel. Er weigert sich, seine Medikamente zu nehmen. Er sagt, sie würden seine Kreativität unterdrücken. Aber was er nicht begreift: Er ist einfach zu kreativ. Er hat einfach keine klare Linie. Ein Jahr malt er neoimpressionistisch, im nächsten surrealistisch und so weiter. Ich finde, er müsste einen Stil entwickeln, seinen eigenen Stil, verstehen Sie? Den Brandon-Teal-Stil …«
Schließlich fiel ihr Alix’ seltsamer Gesichtsausdruck auf. »Oh, habe ich etwas Falsches gesagt? Ist er ein Freund von Ihnen?«
Alix hörte gar nicht mehr richtig zu, seit Janet rote Haare, Bart und Pfeife erwähnt hatte. Oh Gott! Einfach unfassbar! Sie hatte darüber sogar ihr Teilchen vergessen, vorübergehend jedenfalls.
»Entschuldigung«, sagte sie, »haben Sie eine Frage gestellt?«
»Ich habe gefragt, ob Sie ihn kennen.«
»Ich glaube, äh, ich bin schon mal irgendwo über ihn gestolpert«, sagte Alix.