PROLOG
Ghost Ranch, Abiquiu (New Mexico), 7. August 2010
»Aber ich versichere Ihnen, ich bin nicht tot«, erklärte Henry Merriam aufgebracht.
Mit wachsender Fassungslosigkeit hörte er sich die Antwort an. »Ob ich …?« Er hielt das Telefon von seinem Ohr weg, um besser hineinschreien zu können. »Ja, ich bin vollkommen sicher!«
Er schrie so laut, dass Barb, die am Empfangspult die Post sortierte, alles mitbekam. Sie lächelte. Es war schön zu hören, dass er wieder der Alte war, streitlustig und voller Energie. Mr Merriam besuchte nun schon seit fast vierzig Jahren im Sommer oder Herbst die Bildungsprogramme der Ghost Ranch und war damit schon länger dabei als alle Verwaltungsmitarbeiter, einschließlich Barb selbst, und fast alle Dozenten. In ihren neunzehn Jahren dort hatte er so ziemlich jeden Kurs belegt, den es gab, von der »Geschichte der Eisenbahn in New Mexico« bis hin zum Hackbrett-Unterricht.
Diese Woche war es »heiteres Korbflechten«, obwohl er alles andere als heiter war, seit er seine Frau Ruth drei Jahre zuvor in einem Pflegeheim für Alzheimerpatienten hatte unterbringen müssen. Seitdem waren seine zwei Wochen hier jedes Jahr eher eine einsame Flucht aus seinem trostlosen Alltag anstatt wie früher angenehme Bildungsaufenthalte. Aus einem der nettesten Stammkunden, einem heiteren, intelligenten und höflichen älteren Herrn, auf den sie sich jeden Sommer gefreut hatte, war ein wandelnder Geist geworden, einer von vielen einsamen Menschen, die, deprimiert und vom Alter gebeugt, nichts mit sich anzufangen wussten.
Daher freute es sie, ihn so putzmunter zu sehen. Da es auf den Zimmern keine Telefone gab und der Handyempfang auf der Ranch extrem unzuverlässig war, bekam sie oft Privatgespräche mit, wenn Kursteilnehmer das Wandtelefon am Empfang benutzten. Sie hatte schon allerlei seltsame Gesprächsfetzen aufgeschnappt.
Aber »ich bin nicht tot«, das war wirklich einsame Spitze.
»Ich weiß noch ganz genau, was ich in meiner Galerie verkauft habe und was nicht«, sagte er, »und ich versichere Ihnen, ich habe nie … Mir ist egal, was im Katalog steht. Ich …« Er sah Barb an und verdrehte die Augen. »Ich … Natürlich ist mir das wichtig! Was glauben Sie denn? Wenn Sie nicht … Also gut, ich fahre selbst runter und kläre die Sache, was halten Sie davon? Ja, morgen, warum nicht? … Alles klar, halb drei. Ja, ja, ich weiß, wo ich hinmuss.«
Mit einem Kopfschütteln legte er auf. »Ist es denn zu fassen?«
»Gibt’s Probleme, Mr Merriam?«, fragte Barb mit einem Lächeln. »Kann ich irgendwie behilflich sein?«
»Ach, es ist nichts, Barb. Nur eine Verwechslung. Ist der Kaffee frisch?«
»Kommt drauf an, was Sie mit frisch meinen, aber bedienen Sie sich, falls Sie es riskieren wollen«, sagte sie. »Ich habe zufällig mitbekommen … Sie hatten mal eine Galerie? Ich dachte immer, Sie wären Professor.«
»Ja, stimmt«, sagte er, nahm sich einen Pappbecher von dem Stapel neben der Kanne und goss ihn halb voll. »Aber ganz früher … vor einer Ewigkeit, in einem anderen Leben … da hatte ich tatsächlich eine Galerie in Albuquerque.« Er hielt inne und dachte daran zurück. »Die Galería Xanadu«, fügte er leise hinzu.
»Und?«, fragte Barb nach, während er gedankenverloren Coffee-Mate in seinen Kaffee rührte.
Mit einem Seufzer fand er wieder in die Gegenwart zurück: »Und heute Morgen kriege ich eine E-Mail von einem alten Geschäftsfreund, also von dem Sohn eines alten Freunds, der auch in der Branche tätig ist. Der wollte ein Gemälde für einen Kunden aus Dubai kaufen und hat die Geschichte des Bildes überprüft. Da hat er gelesen, dass es in den Siebzigerjahren mal in meiner Galerie zum Verkauf stand. Er wollte wissen, ob ich das Bild noch vor Augen hätte und ihm sagen könnte, was ich davon halte. Aber ich konnte mich überhaupt nicht dran erinnern, deshalb war ich auch so aufgebracht.«
Barb war ein wenig verwirrt. »Aber das ist doch schon vierzig Jahre her«, sagte sie sanft. »Da kann man doch von niemandem erwarten …«
Er warf ihr einen bösen Blick zu. »So verkalkt bin ich noch nicht, junge Frau. Ich meine nicht, dass ich mich nicht erinnern kann, das Bild verkauft zu haben. Im Gegenteil, ich weiß ganz genau, dass ich es nicht verkauft habe.«
Sie verstand immer noch nicht richtig. »Ähm …«
»Anders ausgedrückt«, fügte er etwas freundlicher hinzu, »ich bin mir sicher, dass ich das Bild nie in Händen hatte. Ich hätte es ganz bestimmt nicht vergessen. Nicht dieses Bild.«
»Sie meinen also … Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Ich meine …« Er verzog das Gesicht. »Dieser Kaffee ist wirklich scheußlich.«
»Ich habe Sie gewarnt.«
Er nahm trotzdem noch einen Schluck. »Ich meine, dass dieses Bild nie in meinem Besitz war, das ist alles. Und es gefällt mir gar nicht, dass jemand etwas anderes behauptet. Deshalb habe ich mich beschwert.« Er lächelte matt. »Daraufhin hat man mir erklärt, ich könnte unmöglich ich sein, weil ich schon eine ganze Weile tot wäre. Und … na ja, den Rest haben Sie ja gehört.«
»Ach so, also müssen Sie morgen nach Albuquerque, um die Sache zu klären?«
»Nein, nur nach Santa Fe. Aber das bedeutet, dass ich meinen Workshop morgen Nachmittag verpasse: dekorative Eichengriffe …« Er seufzte. »Darauf hatte ich mich schon gefreut.«
»Ach, Ms Mayfarth wird Ihnen sicher gern über alles berichten, was Sie verpassen.«
»Meinen Sie?« Sein Gesicht hellte sich auf.
»Ganz bestimmt. Ich rede mit ihr. Mr Merriam? Als Sie gesagt haben, Sie seien nicht tot …«
Er sah sie über seinen Kaffeebecher hinweg an, die weißen Augenbrauen fragend hochgezogen.
»Hat man Ihnen da geglaubt?«
Da sah sie ihn zum ersten Mal seit drei Jahren breit lächeln. »Falls nicht, dann gibt es morgen eine große Überraschung, wenn ich dort zur Tür hereinspaziere.«
Wie seltsam doch alles war. Früher, als Ruthie noch sie selbst war, hatte er sich immer darauf gefreut, allein Auto zu fahren, weil er dann nicht ihre endlosen Wegbeschreibungen, Anweisungen und Warnungen über sich ergehen lassen musste. Jetzt, wo er immer allein unterwegs war, fand er es furchtbar. Was hätte er nicht dafür gegeben, sie neben sich zu haben und sich anzuhören, dass das Tempolimit neunzig und nicht fünfundneunzig Stundenkilometer war. Oder dass auf dem Rastplatz vor ihnen ein alter Pick-up stand, der ihr gar nicht gefiel und der vielleicht ganz plötzlich vor ihm auf die Fahrbahn fahren würde.
Auf dem Rastplatz vor ihm war wirklich ein Pick-up, den er genau beäugte, so als hätte Ruthie tatsächlich etwas gesagt. Er fuhr auf dem Highway 84 zwischen der Ghost Ranch und Abiquiu in südlicher Richtung mitten durch die Wüste. Dies war eine der einsamsten und verkehrsärmsten Strecken im ganzen Land und er fuhr sie zweimal im Jahr, vom Flughafen Albuquerque über Santa Fe und hoch zur Ghost Ranch und dann wieder zurück. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor ein Fahrzeug auf diesem primitiven Rastplatz gesehen zu haben, einer kahlen Parkbucht mitten in der Einöde, wo das Unkraut durch die Risse im Asphalt wuchs und ein paar halb verrottete Picknicktische herumstanden.
Plötzlich vorsichtig, fast ein bisschen nervös, drosselte er das Tempo ein wenig. Wenn Ruthie wirklich da gewesen wäre, hätte sie ihn gar nicht fahren lassen – nicht mit fünfundachtzig, nach zwei Herzinfarkten und mit einem Bypass. Aber Dr. Bernstein hatte gesagt, er müsse das Autofahren nicht ganz aufgeben, er solle nur nicht zu schnell fahren und auf längeren Fahrten öfter Pausen einlegen, um sich die Beine zu vertreten.
Er überlegte, selbst auf den Rastplatz zu fahren und ein paarmal um seinen gemieteten Kompaktwagen zu laufen, aber eigentlich gefiel ihm dieser Pick-up auch nicht. Ein schwerer, alter Ford 250. Sein Schwager Walter hatte mal so einen gehabt und damit Brennholz transportiert. Dieser hier war grob mit orange-blauen Flammen bemalt und am Steuer saß ein Jugendlicher mit verkehrt herum aufgesetzter Baseballmütze. Als er näher kam, sah Henry, dass der Junge mit einem dünnen Zigarillo im Mundwinkel in ein Handy sprach. Ihre Blicke trafen sich kurz und der Junge bedachte ihn mit einem, wie er fand, höhnischen Grinsen.
Das gefiel Henry überhaupt nicht und er trat ein bisschen fester aufs Gas, bis der Tacho fünfundneunzig Stundenkilometer anzeigte. Er war froh, als eine Kurve kam und der Pick-up hinter einer roten Felswand verschwand. Er näherte sich dem Teil der Strecke, den er am wenigsten mochte, circa anderthalb Kilometer lang, eng und kurvenreich, links eine senkrechte Felswand, die nicht nur gefährlich nah an die Fahrbahn kam, sondern auch die Sicht behinderte, und rechts ein steiles Gefälle, dreißig Meter hinunter zum Chama River, der träge mäandernd in der Sonne glitzerte. Er ging auf fünfundsechzig zurück. Immer wenn er hier entlanggefahren war, in den ganzen Jahren, hatte er sich vorgenommen, der Verkehrsbehörde vorzuschlagen, an dieser Stelle eine Geschwindigkeitsbegrenzung einzuführen. Aber natürlich hatte er es nie getan und es gab immer noch kein Tempolimit. Wahrscheinlich war das Verkehrsaufkommen hier so niedrig, dass keine Dringlichkeit bestand. Wieso auch? Zwischen hier und dem Colorado River gab es fast nichts außer der Ghost Ranch …
Als er um eine der vielen Kurven fuhr, kam ihm ein Pick-up entgegen, noch circa vierhundert Meter entfernt. Nein, kein Pick-up … Es war das Führerhaus eines riesigen Sattelschleppers. Er war ein bisschen beunruhigt, denn das Ding war unheimlich breit und die Stelle ziemlich schmal. Nervös blickte er nach rechts und suchte nach einer Ausweichmöglichkeit, aber da war nichts, nur die beängstigend nahe Felskante. Er wurde noch langsamer und sah erstaunt, wie das entgegenkommende Fahrzeug über die Mittellinie auf die falsche Straßenseite fuhr und direkt auf ihn zusteuerte.
Er drückte kräftig und lange auf die Hupe. Der Lastwagen reagierte nicht etwa durch Wechseln der Fahrspur, sondern mit einem schrillen, wütenden Trompeten seines Lufthorns. Henry hatte den Eindruck, als würde der Laster immer schneller. Er war nur noch knapp hundert Meter entfernt. Was zum Teufel war denn mit dem Fahrer los? War er betrunken? Sollte das etwa irgendein verrücktes Spiel sein? Er überlegte, auf die Bremse zu treten, aber dazu war es zu spät. Der Laster steuerte geradewegs auf ihn zu wie eine Lenkrakete. Er würde den Toyota mit Leichtigkeit von der Straße und über die Felskante schieben. Henry blieb nichts anderes übrig, als selbst auf die falsche Straßenseite auszuweichen.
Er schwenkte nach links und war total verdutzt, als er seitlich einen anderen Laster rammte. Nein, keinen Laster. Es war der Pick-up vom Rastplatz. Wo in Teufels Namen kam der denn plötzlich her? Er hatte ihn nicht hinter sich herfahren sehen. Instinktiv versuchte er weiter, nach links zu steuern, aber der kleine Kompaktwagen hatte gegen den großen, schweren Pick-up keine Chance. Der ließ sich nicht abdrängen, hielt Schritt und drängte ihn in Richtung Felskante. Seine Augen waren mit der Seitentür des Pick-ups auf einer Höhe; auf der Tür das Bild eines Mädchens im Bikini, von einem Flammenkreis umgeben … »Bimbi«.
Der Pick-up schlenkerte näher heran, schabte am Toyota entlang und stieß ihn auf die Felskante zu.
»Halt! Was machen Sie denn da?«, schrie er. Sein Herz hämmerte in seiner Kehle. Es pochte in seinen Schläfen. »Sind Sie wahnsinnig?« Der Lastwagen aus der Gegenrichtung war jetzt keine fünfzig Meter mehr entfernt, zu nah, um abzubremsen und einen Zusammenstoß zu verhindern, und ohne eine Möglichkeit, die Spur zu wechseln, denn auf der anderen fuhr der Pick-up. Er hielt mit aller Kraft das Lenkrad fest, aber ein weiterer kräftiger Stoß des Pick-ups zwang ihn noch dichter an den Abgrund. Es war schwierig zu … Er musste …
Sein Verstand fing an zu flattern, sich zu verabschieden, ihn im Stich zu lassen. Er konnte nicht mehr richtig denken …
»Ahh!« Plötzlich schnürte es ihm die Brust zu wie mit einem strammen Gürtel, seine Rippen wurden eingedrückt und seine Lungen kollabierten. Fahrzeuge, Straße, Fluss … alles verschwand hinter einem roten Film. Er bekam noch mit, wie die Reifen die Fahrbahn verließen und sich weiterdrehten. Er wartete angespannt auf den Sturz, aber er nahm ihn nicht mehr wahr. Es kam ihm vor, als hinge der Wagen bewegungslos schwebend in Raum und Zeit. Der Film ging von Rot in Schwarz über.
Ruthie.