21. KAPITEL
Chia und Sheets kamen in dem Moment ins Haus gelaufen, als Anna zu Boden sank.
“Was ist los?” rief Chia und griff nach ihrem Mobiltelefon. “Ist sie krank? Soll ich den Rettungswagen rufen? Was ist passiert?”
Trey deutete auf Anna. “Das ist unsere verschwundene Zwillingsschwester. Sie muss verhaftet werden, aber ich möchte nicht derjenige sein, der das tut, weil ich die Frau heiraten werde, die ihre Tochter sein könnte.”
Chia sah ihn verständnislos an. “Was hast du da …”, begann sie.
“Das ist eine lange Geschichte, und keine besonders erfreuliche”, unterbrach Trey sie und fühlte Annas Puls, der gleichmäßig ging. “Sie ist nur bewusstlos, aber es wird verdammt schwierig, sie vor Gericht zu stellen. Sie hat den Verstand verloren, und ich glaube, an ihrer Stelle wäre es mir nicht anders ergangen. Bringt sie einfach erst mal von hier fort.” Dann ging er zu Olivia.
Sie hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, hielt sich die Ohren zu und kniff die Augen zusammen. Das Heulen, das ihrer Kehle entstieg, machte ihm genauso viel Angst wie der Abend, an dem sie angeschossen worden war.
“Livvie …”
Weder sah sie auf noch beruhigte sie sich.
“Livvie … Sweetheart …”, flehte er sie an, dann schließlich hob er sie hoch und trug sie aus dem Zimmer.
Er brachte sie in ihr Schlafzimmer, drückte mit dem Fuß die Tür hinter sich zu und setzte sich mit ihr so aufs Bett, dass sie auf seinem Schoß saß und er sie sanft wiegen konnte.
“Ich weiß, Baby, ich weiß”, sagte er leise und rieb mit dem Kinn über ihr Haar, während sie sich entsetzt an ihn klammerte. “Es wird wieder gut werden. Du bist meine Liebe, und wir stehen das gemeinsam durch. Du hilfst mir, ich helfe dir. So wie damals, als wir noch Kinder waren.”
Schließlich wurde sie ruhig, zitterte aber weiter. Er wusste, dass seine Stimme zu ihr durchdrang. “Du bist mein Mädchen”, redete er weiter leise auf sie ein. “Das warst du schon immer. Und das weißt du, Livvie. Hör auf dein Herz, und vertrau mir. Ich liebe dich so sehr, Baby, so sehr.”
Er spürte, dass das Zittern allmählich nachließ.
“Es wird alles wieder gut, Livvie. Hörst du? Es wird alles wieder gut.”
“Ja, ich höre dich”, sagte sie.
Die Erleichterung über ihre Reaktion war so gewaltig, dass ihm einen Moment lang der Atem stockte. Er wagte nicht, etwas zu sagen, weil er seiner Stimme nicht traute. Als er sich weit genug zurücklehnte, um Olivia ins Gesicht zu sehen, bemerkte er zwar ihren traurigen Blick, doch er entdeckte auch die Frau, die er kannte und liebte.
“Ich muss kurz mit deinem Großvater reden. Kann ich dich für ein paar Minuten allein lassen?”
Sie nickte.
“Es dauert wirklich nicht lang.”
“Geh schon”, sagte sie. “Tu, was du tun musst, damit das alles endlich vorüber ist.”
“Ich gebe mir alle erdenkliche Mühe.”
“Mehr verlange ich auch nicht von dir”, erwiderte sie.
Nachdem er sie aufs Bett gelegt hatte, rollte sie sich auf der Seite zusammen.
“Ich liebe dich, Baby”, wiederholte er.
“Ich habe dich gar nicht verdient, aber ich bin froh, dass du hier bist.”
Er musste sich mit diesen Worten begnügen, als er das Zimmer verließ.
Ein Rettungswagen hatte Anna inzwischen fortgebracht, Ella kümmerte sich um den schockierten Marcus, als habe sie ihn schon immer umsorgt. Terrence und Carolyn waren diejenigen, die die Ruhe bewahrt hatten.
“Erzählen Sie”, bat Trey ihn.
Terrence entfernte sich einige Schritte, damit Marcus nicht mithören konnte. “Die Frau wurde festgenommen, man hat versucht, ihr ihre Rechte vorzulesen. Aber wir waren alle der einhelligen Meinung, dass sie es weder verstanden noch gehört hat. Die Sanitäter bringen sie ins Dallas Memorial, und die beiden Detectives fahren zusammen mit Mrs. Collier hinterher. Sie sagten, sie würden sich bei Ihnen melden.”
Trey nickte und deutete auf Marcus. “Braucht er einen Arzt?”
“Ich glaube nicht. Er braucht vor allem Zeit.”
“Wer hätte das gedacht?” warf Carolyn ein, die sich zu ihrem Mann stellte und sich bei ihm einhakte. “Wären wir damals nicht nach Italien ausgewandert, hätten wir Anna sicher als die Frau erkannt, die Michael uns vorgestellt hatte.”
“Aber wir waren bereits in Italien”, gab Terrence zurück. “Daran lässt sich nichts mehr ändern, nichts lässt sich rückgängig machen. Mit dieser Erkenntnis muss ich schon mein ganzes Leben klarkommen.”
Carolyn lehnte ihre Schulter an Terrence’ Schulter und fragte an Trey gerichtet: “Was wird mit Anna geschehen?”
“Vermutlich wird sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.”
“Welches Baby sie nun wirklich getötet hat, ist doch immer noch nicht klar, oder?”
“Nein.”
“Aber es lässt sich feststellen?”
“Sobald Sherees DNS-Probe untersucht ist, wissen wir es. Zur Sicherheit wird man aber auch Annas … Larees DNS analysieren, damit kein Zweifel aufkommen kann.”
“Geht es Olivia gut?”
“Nein, aber sie wird sich bald wieder erholen.”
“Es tut mir Leid”, sagte Carolyn. “Aber Sie sollen wissen, dass ich froh bin, Sie in unserer Familie zu haben.”
“Danke”, erwiderte Trey. “Aber die Freude ist ganz meinerseits.”
“Trey!” rief Marcus, dessen Befehlston unverkennbar war. Trey wandte sich ihm zu, ohne an dem Tonfall Anstoß zu nehmen.
“Ja?”
Marcus stand auf. “Egal, was heute ans Licht gekommen ist, Sie sollen wissen, dass wir Ihnen dankbar sind.”
“Ja, Sir”, erwiderte Trey.
“Hatte ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen mich mit Marcus anreden?”
Trey seufzte. “Ja, stimmt.”
Marcus machte einen Schritt nach vorn und reichte ihm die Hand, doch statt sie zu schütteln, nahm er Trey in die Arme. Es war eine kurze Geste, und er ging rasch wieder auf Abstand. “Danke. Ich hatte mich damit abgefunden, dass der Mörder meines Sohns niemals aufgespürt würde und ich diese Frage mit ins Grab nehmen müsste”, erklärte er mit belegter Stimme.
“Aber es gibt immer noch eine andere Frage, nicht wahr?” gab Trey zurück.
Während er sich über die Augen wischte, wurde Marcus wieder ernst. “Sie ist und bleibt meine Enkelin. Es ist egal, wie die Wahrheit aussieht. Sie wird nichts an dem ändern, was zwischen uns ist.”
“Selbst wenn sie die Tochter der Frau ist, die Ihren Sohn ermordete?” wollte er wissen.
Marcus schwankte ein wenig, doch sein Blick blieb auf Treys Gesicht gerichtet. “Selbst dann.”
“Olivia ist in ihrem Schlafzimmer”, sagte Trey. “Ich glaube, sie würde das gern von Ihnen hören.”
Während Marcus aus dem Zimmer ging, wurde Trey mit einem Mal bewusst, dass jemand fehlte. Unruhig suchend schaute er sich um. “Wo ist Ella abgeblieben?” rief er. “Ich habe sie …”
“Ich bin hier, mir geht’s gut”, fiel sie ihm ins Wort, als sie aus der Küche gehumpelt kam. “Hand aufhalten”, wies sie ihn an.
Er gehorchte, ohne nachzudenken, und sah, dass sie ihm zwei Schmerztabletten gab und ihm dann ein Glas Wasser reichte.
“Die nehmen Sie jetzt. Falls Sie nicht schon Kopfschmerzen haben, werden Sie die ganz sicher noch bekommen.”
Trey schluckte die Tabletten, stellte das Glas weg und nahm Ella vorsichtig in die Arme.
“Mir gefällt das überhaupt nicht, dass meine zwei liebsten Frauen zu zerbrechlich sind, um sie anständig in den Arm zu nehmen.”
“Wir sind nicht zerbrechlich”, widersprach sie und drückte sich an ihn. “Wir sehen nur so aus.”
“Danke für alles”, murmelte er.
“Hey, Sie haben mir das Leben gerettet, da ist das doch wohl das Mindeste, was ich für Sie tun kann.”
“Oh, Ella, hören Sie bloß auf”, sagte er leise.
Sie grinste ihn an und entgegnete: “Mein Held.”
Trey stöhnte auf. Ein toller Held war er. Er hatte eben Olivias Welt zum Einsturz gebracht und konnte nur hoffen, sie würde ihm verzeihen.
Nach einer weiteren Woche war Olivias Schulter fast vollständig verheilt. Hin und wieder spürte sie ein leichtes Stechen, vor allem wenn sie etwas Schweres hob, obwohl sie das nicht sollte.
Foster Lawrence war aus der Haft entlassen worden und hatte es – dank der Einladung seiner Schwester – endlich nach Florida geschafft. Er zog bei Sheree ein und würde vorläufig bei ihr wohnen.
Rose war gleich nach Annas Verhaftung zu Olivia gekommen, um nach ihr zu sehen. Olivia war noch in der Lage gewesen, über das Geschehene zu reden, und sie merkte auch, dass Rose ein wenig beleidigt war, da sie sich übergangen fühlte, doch sie konnte nichts daran ändern. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um ihre eigenen Ängste und Zweifel in den Griff zu bekommen.
Tagsüber half es ihr, dass Ella gleich nebenan wohnte und immer einen Ratschlag griffbereit hatte. Und die Nächte wurden in dem Moment erträglich, wenn sie sah, wie Trey nach Feierabend nach Hause gefahren kam.
Die Distanz, die zwischen ihrem Großvater und ihr entstanden war, hatte mit ihr allein zu tun. Er wollte mit ihr über die Vergangenheit reden, doch egal, was er sagte, sie glaubte ihm nicht. Sie wusste nicht mal, ob er ihr je wieder in die Augen würde sehen können, ohne an das zu denken, was Anna enthüllt hatte. Erst einmal musste sie die Abscheu überwinden, die sie empfand, wenn sie sich im Spiegel betrachtete.
Über Tage hinweg hatte sie immer wieder ihr Spiegelbild studiert, ob sie bei sich etwas von den Gesichtszügen der jungen Anna entdecken konnte. Ob da etwas war oder nicht, wusste sie nicht, da der gequälte Ausdruck in ihren Augen das Einzige war, was sie wahrnahm. Sie hatte auch keine Ahnung, was sie machen sollte, wenn sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten würden.
Trey schenkte ihr Kraft und Liebe. Nur durch ihn war es ihr überhaupt möglich, das alles zu ertragen. Sie klammerte sich daran fest, dass er ihr glaubte, und hoffte, das würde genügen.
Dann auf einmal klingelte das Telefon.
“Hallo?” meldete sie sich.
“Ich bin’s. Du musst aufs Revier kommen.”
“Jetzt sofort, Trey? Aber ich …”
“Ein Wagen ist unterwegs, um dich abzuholen. Er wird in fünf Minuten bei dir sein. Marcus ist auch schon auf dem Weg hierher.”
In dem Moment verstand sie. “Das Testergebnis liegt vor, richtig?”
“Ja.”
“Sag mir, was …”
“Nicht jetzt. Ich erkläre alles, wenn ihr beide hier seid. Ich muss jetzt los. Anna wird aus dem Krankenhaus hergebracht.”
“Warum? Ich will sie nicht sehen.”
“Das wirst du aber müssen. Bitte. Vertrau mir.”
“Ja, okay.”
“Danke, Baby. Bis gleich.”
Sie legte auf, zog sich rasch um, da sie noch den Bikini trug, und war gerade rechtzeitig fertig, als an der Tür geklopft wurde. Ein Kollege von Trey war gekommen, um sie abzuholen. Der Weg zum Revier sollte die längste halbe Stunde ihres Lebens werden.
Marcus traf kurz nach Olivia ein, die zusammen mit Trey bereits auf ihn wartete. Er schob trotzig das Kinn vor, da er so wenig wie Olivia daran interessiert war, Anna Walden noch einmal sehen zu müssen. Doch Trey hatte darauf beharrt, und schließlich war er einverstanden gewesen, weil er das endgültige Ergebnis erfahren würde.
“Das ist einfach lächerlich”, murrte er, während Trey voranging.
“Für mich ist das Ganze auch ein Albtraum gewesen”, gab der zurück. “Das können Sie mir glauben.”
Olivia hakte sich bei ihm unter und drückte leicht seinen Arm. “Ich bin auf deiner Seite.”
Trey blieb stehen und küsste sie. “Ich weiß, Honey. Es tut mir Leid, wenn ich so schroff war.”
Sie bogen um eine Ecke und näherten sich einem Fenster, vor dem ein halbes Dutzend Leute stand. Als sie dazukamen, sah Olivia im Raum nebenan Anna an einem Tisch sitzen.
“Marcus, Olivia, das ist mein Vorgesetzter, Lieutenant Harold Warren, und Detective Rodriguez und Detective Sheets kennt ihr ja bereits.”
Beide nickten.
“Der Rest gehört zur Staatsanwaltschaft, vorstellen kann ich jeden Einzelnen später noch. Wir gehen jetzt erst einmal rein. Von hier kann man alles sehen und hören, was drinnen vorgeht, aber von drinnen ist diese Scheibe ein Spiegel. Alles klar?”
“Ja”, sagte Marcus und nahm Olivias Hand. Olivia wollte noch einige Fragen stellen, doch bevor sie dazu kam, wurden sie bereits in das Verhörzimmer gebracht.
“Setzt euch”, sagte Trey. “Egal wo.”
Marcus und Olivia entschieden sich für zwei Stühle, die von ihrem ehemaligen Kindermädchen möglichst weit entfernt waren, während Trey eine Akte aufschlug und vor Anna auf den Tisch legte.
Sie saß da, den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Schoß, und schien nichts von ihrer Umgebung wahrzunehmen.
Trey wusste etwas, was den anderen nicht bekannt war.
“Laree, die Resultate liegen vor.”
Anna regte sich nicht und verzog auch keine Miene.
“Sie weiß nicht, wer Laree ist”, warf Olivia ein.
Trey widersprach nicht, stimmte ihr aber auch nicht zu.
“Sehen Sie sich die Resultate an, Laree. Sie sind die Mutter von einem der Babys, das wissen wir. Sie können es also ebenso gut auch zugeben. Und Sie haben eines der Babys umgebracht. Sie ließen uns glauben, Ihr Baby sei an Marcus Sealy zurückgegeben worden, weil Sie wütend darauf waren, dass das falsche Baby das Vermögen der Sealys erben würde. Aber Sie haben sich geirrt, nicht wahr? Und soll ich Ihnen noch etwas sagen? Ich glaube, im Unterbewusstsein war Ihnen das längst klar. Dieses Resultat belegt eindeutig, dass Sie die Mutter sind.”
Anna hob den Kopf und richtete ihren wilden, wahnsinnigen Blick auf Olivia. “Mein Baby. Mein wunderschönes Baby.”
Olivia hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, doch Trey hatte ihr gesagt, sie solle ihm vertrauen. Also riss sie sich zusammen und blieb sitzen.
Trey zeigte auf Olivia. “Sie ist wunderschön, das stimmt. Aber sie ist nicht Ihr Baby.”
Während Olivia mit solcher Erleichterung auf diese Offenbarung reagierte, dass ihr schwindlig wurde, runzelte Anna die Stirn. “Mein Baby.”
“Sparen Sie sich die Nummer als Verrückte für jemanden auf, der sie Ihnen abkauft”, sagte Trey schroff.
“Mein Baby”, wiederholte sie ungerührt. “Er tat mir weh. Ich tat ihm weh. Ich nahm mir sein Baby und ließ es verschwinden.”
“Ja, dass Sie ein Baby umgebracht haben, ist uns bekannt”, konterte Trey und hielt die DNS-Ergebnisse ihr vors Gesicht. “Sehen Sie hin! Sehen Sie sich den Beweis für das an, was Sie getan haben!”
Anna schaute Trey an und begann dann auf eine unheimliche Weise zu lachen. Als sie verstummte, schaute sie Marcus an. “Dämliche Daumen. Jeder sollte nur zwei Daumen haben. Das ist alles Ihre Schuld.”
Trey zeigte auf das Blatt. “Stimmt. Beide Kinder hatten an einer Hand einen Daumen zu viel. Und die Kinder waren gleich groß, hatten die gleichen dunklen Locken und die gleiche Stupsnase. Was ist passiert? Wieso haben Sie sie verwechselt?”
“Ich kenne mein Baby”, erwiderte sie leise. “Eine Mutter kennt ihr Baby. Halten Sie den Mund, Sie irren sich. Sie irren sich!”
“Dann lesen Sie das hier, und sagen Sie mir ins Gesicht, dass ich lüge.”
“Wo ist mein Baby?” rief Anna mit hoher, singender Stimme. “Ich kann mein Baby nicht mehr finden.”
Mit der flachen Hand schlug Trey auf den Tisch und brüllte Anna an: “Sie können Ihr Baby nicht mehr finden, weil Sie es in einen Koffer gesteckt und dann eingemauert haben. Warum zum Teufel haben Sie das gemacht? Sagen Sie es mir, Laree! Warum haben Sie Ihr eigenes Kind getötet?”
Ihr Mund begann zu zittern, und mit einem Mal atmete sie flach und hastig. “Das ist eine Lüge. Das ist eine Lüge!”
“Dann sehen Sie sich die verdammten Resultate an!”
Sie zuckte zusammen, konnte den Blick aber nicht abwenden. Olivia sah ungläubig mit an, wie der Teil von Annas und Larees Persönlichkeit verschwand, der sie wie verrückt agieren ließ. Sie entdeckte Wut und Zorn, und dann verlor Anna Walden die Beherrschung.
“Das stimmt nicht!” sagte sie und tippte mit dem Zeigefinger auf das Blatt.
“Es stimmt sehr wohl. Dieser Test lügt nie.”
“Sie haben ihn manipuliert, damit dieses Ergebnis dabei herauskommt.”
“Nein. Sherees Test hat exakt das gleiche Resultat ergeben. Das Baby im Koffer ist das Kind, das Sie zur Welt gebracht hatten. Sie töteten Michael und Kay Sealy, Sie raubten deren Kind und ermordeten dann Ihr eigenes Baby. Und jetzt will ich von Ihnen wissen, was Sie damit bezwecken wollten! Sagen Sie es mir, verdammt noch mal. Ich will verstehen, was sich in Ihrem Kopf abgespielt hat!”
Anna wich zurück, als hätte er sie tätlich angegriffen.
Sie nahm das Blatt mit dem DNS-Ergebnis und las es noch einmal, dann kamen ihr die Tränen – erst nur ein paar, dann gab es für sie kein Halten mehr.
“Das muss ein Fehler sein”, beharrte sie. “Ich hatte das Kind an mich genommen und wollte es nicht wieder hergeben. Aber Foster musste sich ja unbedingt einmischen. Ich wollte Olivia behalten und ihnen stattdessen nach ein paar Tagen Sophie zurückgeben. Sie sahen sich so ähnlich, dass niemand einen Unterschied bemerkt hätte. Damit hätte meine Sophie ihren rechtmäßigen Platz als Erbin des Sealy-Vermögens eingenommen.”
“Und was ist geschehen?” fragte Trey.
“Die beiden spielten zusammen, sie saßen auf dem Boden und spielten.” Sie legte die Hände vors Gesicht, als könnte sie so die Erinnerung abwenden. “Ich ließ sie nur für eine Minute aus den Augen, weil ich ihnen etwas zu essen machen wollte. Ich war nicht gemein zu ihnen. Die beiden hatten Hunger.”
“Und dann?”
“Plötzlich hörte ich eines der Kinder schreien. Als ich zurückkam, hatten sie sich beide ausgezogen und standen auf ihrer Kleidung, die sie auf den Boden geworfen hatten. Einen Moment lang konnte ich sie nicht voneinander unterscheiden. Dann bückte sich Olivia und hob ihre Decke auf, und da wusste ich wieder, wer wer war. Meine Sophie griff daraufhin ebenfalls nach der Decke und zog daran, doch Olivia wollte nicht loslassen. Ich gab ihr eine Ohrfeige, aber sie fiel nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf gegen die Kante des Kamins. Ich hörte den Knall, als sie aufprallte, und danach bewegte sie sich nicht mehr. Ich hatte das nicht gewollt, aber es war zu spät, um noch etwas daran zu ändern. Sie lag ganz ruhig da. Ich zog ihr die Sachen an, die sie zuvor getragen hatte, und legte sie aufs Bett. Ich wusste nicht, was ich mit dem Leichnam machen sollte. Mir war nur klar, dass niemand sie finden durfte.”
Trey zwang sich, nicht zu Olivia zu sehen, weil er auf Anna konzentriert bleiben musste. “Aber Sie haben das falsche Kind getötet, Laree. Sie haben Ihr eigenes Baby getötet.”
“Nein, das Mädchen hatte sich die Decke genommen, mit der Olivia zu mir gekommen war.”
“Das beweist überhaupt nichts. Das Ergebnis der DNS-Analyse dagegen sehr wohl. Sie haben Ihr Kind getötet. Foster kam bei Ihnen vorbei, und ehe Sie sich versahen, hatte er ein Lösegeld gefordert, was Ihren Plan völlig auf den Kopf stellte. Und dann brachte er auch noch das Baby zurück, das überlebt hatte, ohne Rücksicht auf Ihre Gefühle zu nehmen.”
“Das ist egal”, gab sie zurück. “Wie es abgelaufen ist, macht nichts aus. Wichtig ist nur, dass Sophie dort war, wohin sie gehörte.”
Trey zeigte auf Olivia. “Nur dass sie nicht Sophie ist.”
“Sie ist Sophie. Als Marcus mich einstellte, hörte sie auf zu weinen – weil sie mein Baby ist.”
“Sie hörte auf zu weinen, weil sie nicht mehr weinen konnte”, widersprach Marcus.
Anna begann zu zittern und sah Olivia an.
“Du bist mein Baby. Sag es ihnen, Darling. Sag ihnen, dass du mein Baby bist.”
Olivia stand auf und verließ das Verhörzimmer.
Anna erhob sich ebenfalls und wollte ihr folgen, doch Trey hielt sie auf. Er drehte sie so, dass sie in den Spiegel schauen konnte, hinter dem ein halbes Dutzend Leute stand, die alle das Drama verfolgt hatten.
“Sehen Sie sich an, Laree. Sehen Sie sich genau an. Sie haben aus Eifersucht und Rachegefühlen heraus Michael und Kay Sealy ermordet, aber das war nicht mal der schlimmste Fehler, den Sie begehen konnten. Der kam erst, als Sie deren Tochter an sich nahmen. Was für eine Frau sind Sie, dass Sie nicht mal Ihr eigenes Kind erkennen konnten? Was für eine Mutter macht das, was Sie getan haben?”
Sie wollte ihr Gesicht bedecken, aber Trey ließ ihre Arme nicht los. Sie schloss die Augen, doch das änderte nichts an den Tatsachen. Und es änderte nichts an den Erinnerungen an diesen kleinen toten Körper, der in diesem Koffer lag, den sie zufällig in einem Schrank gefunden hatte. Sie wollte diese Erinnerung verdrängen und an den Ort in ihrem Geist zurückkehren, an dem die Wahrheit so tief verborgen lag, dass niemand sie finden konnte.
“Und es kommt noch schlimmer, Laree. Der Gerichtsmediziner hat etwas entdeckt, was bei der ersten Untersuchung nicht berücksichtigt worden war, weil niemand so etwas in Erwägung gezogen hatte.”
Sie wollte ihn nicht ansehen, und sie wollte erst recht nicht fragen.
Trey schüttelte sie brutal. “Machen Sie verdammt noch mal die Augen auf und sehen Sie Ihr Spiegelbild an!” fuhr er sie an.
Laree gehorchte.
“Das Baby, das Sie in den Koffer gesteckt und eingemauert haben … das war gar nicht tot. Im Koffer wurden winzige Kratzspuren gefunden, und unter einem Fingernagel fanden sich Spuren von der Innenverkleidung des Koffers.”
Draußen hielt sich Olivia entsetzt die Hände vor den Mund. Chia Rodriguez stellte sich zu ihr und legte wortlos einen Arm um sie.
Marcus ließ den Kopf sinken und starrte auf den Fußboden.
Doch es war Anna, die ihr Spiegelbild betrachtete, die mit dieser unerträglichen Erkenntnis würde leben müssen.
“Sie lügen.”
“Ich wünschte, es wäre so”, gab Trey leise zurück.
Anna stöhnte auf, dann begann sie zu schreien und riss sich an den Haaren, während sie zu Boden sank. Trey betrachtete, wie sie sich krümmte und weiterschrie, dann gab er Marcus ein Zeichen, und zusammen verließen sie das Verhörzimmer.
Olivia wartete draußen auf sie. Tränen liefen ihr übers Gesicht, und ihre Augen hatten einen verzweifelten Ausdruck angenommen.
“Sag bitte, dass es jetzt endlich vorüber ist.”
“Fast”, entgegnete Trey, dann gingen sie zusammen fort.
Die Morgenröte versprach einen wunderbaren Tag.
Ein Monat war vergangen, seit die Wahrheit ans Licht gekommen war. Olivia betrachtete diesen Tag wie einen zweiten Geburtstag. Ihre Identität war nicht länger ein Rätsel, und ihr Glaube an sich selbst war gestärkt worden.
Grampy hatte sich damit abgefunden, dass sie nicht bei Trey ausziehen wollte, obwohl der Brandschaden am Anwesen der Sealys längst so gut wie behoben war. Er und Rose waren bereits wieder eingezogen, auch wenn am Dach noch gearbeitet wurde.
Laree/Anna war nicht fähig gewesen, mit dem Wissen zu leben, was sie Schreckliches getan hatte. Ihr Leben endete in vollkommener Einsamkeit. Nicht einmal einen Monat nach ihrer Rückkehr in die Psychiatrie wurde sie eines Morgens erhängt vorgefunden. Sie hatte den feigen Weg des Selbstmords gewählt, und niemand kam zu ihrer Beerdigung, um sich von ihr zu verabschieden.
Trey hatte in der gesamten Zeit treu zu Olivia gehalten und ihr den Rückhalt gegeben, ohne den sie es wohl nicht geschafft hätte. Bis zu ihrer Hochzeit waren es nur noch ein paar Monate, doch zuvor wollte er noch ein anderes Versprechen einlösen, das er dem toten Baby gegeben hatte.
“Livvie, Honey, bist du fertig?” fragte Trey und sah ins Badezimmer.
“Fast”, antwortete sie. “Meine Arme sind bloß nicht lang genug, damit ich mein Kleid zumachen kann.”
“Dafür bin ich doch da”, sagte er, nahm ihre Haare zur Seite und schloss ihr Kleid. “Schon fertig.” Als sie sich umdrehte, fügte er an: “Und so schön.”
“Danke, Darling”, entgegnete Olivia und legte eine Hand auf sein Jackett. “Ich werde das jetzt nur einmal sagen, aber glaub nicht, ich würde es jemals vergessen.”
“Was denn?”
“Wenn du jedes Versprechen so hältst wie das, das du Sophie gegeben hast, dann kann ich mich wirklich glücklich schätzen.”
Ihm kamen die Tränen bei diesem unerwarteten Kompliment.
“Irgendjemanden muss es schließlich kümmern”, sagte er leise.
“Gut für Sophie, dass du dieser Jemand warst. Und jetzt lass uns zu ihrer Beerdigung gehen. Das hat sie verdient.”