8. KAPITEL
“Olivia! Olivia! Wach auf. Die Operation ist überstanden, du kannst die Augen aufmachen. Hörst du mich? Du musst die Augen aufmachen.”
Sie stöhnte leise.
“Ich weiß, du hast Schmerzen. Es tut mir so Leid. Aber der Doktor hat dir ein Schmerzmittel gegeben, das wird bald wirken. Wir bringen dir erst mal eine warme Decke, wie wäre das?”
Wieder stöhnte sie und versuchte, die Augen zu öffnen. Sie musste sich an etwas Bestimmtes erinnern, doch es wollte ihr nicht einfallen. Während sie sich zu konzentrieren versuchte, spürte sie, dass ihr eine Decke übergelegt wurde. Sie nahm das Gewicht wahr, dann die angenehme Wärme, bis sie in eine beruhigende Bewusstlosigkeit fiel.
“Ist sie wach? Ich muss mit meinem Baby reden.”
Olivia nahm die Stimme wahr. Nanna? Das klang nach Nanna.
“Olivia, Darling. Ich bin es, Grampy. Wir sind für dich da, Darling, mach dir keine Sorgen. Alles wird wieder gut.”
Grampy! Das war Grampy. Aber wieso sind Nanna und Grampy bei mir im Schlafzimmer?
Sie wollte etwas erwidern, doch ihr Mund war so schrecklich trocken. Mit der Zunge strich sie über ihre Lippen und stöhnte wieder leise.
“Schmerzen …”
Jemand berührte ihre Hand, ihre Stirn. Sie spürte warmen Atem, der über ihre Wange strich.
“Ich weiß, Livvie. Es tut mir so Leid.”
Trey … bist du das?
Als hätte er ihre Gedanken lesen können, antwortete er: “Ich bin’s, Trey.”
Das Bild eines Mannes, der eine Waffe auf ihr Gesicht gerichtet hielt, tauchte vor Olivias geistigem Auge so plötzlich auf, dass sie zusammenzuckte. Die Bewegung löste einen stechenden Schmerz aus, durch den ihr Tränen kamen.
“Trey … Schmerzen”, flüsterte sie.
Er war sich noch nie so hilflos vorgekommen wie in diesem Moment. Am liebsten hätte er sie festgehalten, sie beschützt und ihr den Schmerz genommen, doch er konnte nichts anderes machen, als banale Sätze zu sprechen, die nichts bewirkten.
“Ich weiß, Honey. Es tut mir Leid, aber der Doktor sagt, dass du wieder ganz gesund werden wirst.”
Es tat ihr gut, das von Trey zu hören. Er würde sie nicht belügen. Trey war ein Cop, erinnerte sie sich. Sie musste ihm sagen, dass man auf sie geschossen hatte.
“Schuss.”
Trey verzog den Mund. “Ich weiß. Die Polizei sucht bereits nach dem Täter.”
Ihm hatte sie immer vertrauen können. Sie hätte wissen sollen, dass er die Sache in die Hand nehmen würde.
“Schlafen …”, sagte sie mit einem Seufzer.
Marcus kam ans Krankenbett und gab ihr einen Kuss auf die Wange. “Ja, Darling, schlaf ruhig. Wir werden hier auf dich warten.”
Anna verabschiedete sich von ihr mit einer sanften Berührung auf der Stirn. “Darling, ich bin es, deine Nanna. Mach dir keine Sorgen. Wenn du nach Hause kommst, werde ich mich wieder um dich kümmern. So wie damals, als du noch klein warst.”
Nanna? Nanna! Wieder zuckte Olivia zusammen. Daran hatte sie sich erinnern wollen.
“Grampy? Grampy!”
“Ich bin hier, mein Liebling.”
Abermals fuhr sie sich über die Lippen und bemühte sich, ihre Gedanken in Worte umzuformen. “Pass auf … Nanna … nicht ganz da …”
Sie wollte noch mehr sagen, doch das Schmerzmittel zeigte Wirkung und ließ ihre Gedanken so bleischwer werden wie ihre Arme und Beine. Langsam entglitt ihr die Realität, und sie versank in einem tiefen, schwarzen Loch.
Olivias Worte ließen Anna nervös werden. Sie zog sich vom Krankenbett zurück, ohne die beiden Männer anzusehen, dann strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Warum Olivia das gesagt hatte, war ihr nicht klar. Sie wusste nur, dass es ihr nicht gefiel. Die anderen sahen sie an, doch genau das behagte ihr nicht. Dass sie nicht mehr hübsch war, das war ihr sehr wohl bewusst. Was die anderen nicht wussten, war die Tatsache, dass es ihr egal war. Sie hatte den wertvollsten Teil ihres Lebens bereits hinter sich, von nun an ging es nur noch darum, die restliche Zeit totzuschlagen.
“Ich bin ganz da”, murmelte sie. “Ich bin ganz da.”
Marcus war aufgefallen, in welcher Verfassung Anna im Krankenhaus angekommen war, doch er hatte sich nichts dabei gedacht. Die Sorge um Olivia war größer gewesen, als sich damit zu befassen, welchen Eindruck Anna auf ihn machte. Doch jetzt betrachtete er sie mit anderen Augen und begann sich zu fragen, ob ihr leerer Blick tatsächlich nur Angst um Olivia widerspiegelte oder ob sie vielleicht auch Angst um sich selbst hatte.
“Anna”, sagte er und nahm sie am Ellbogen. “Warum gehen Sie ni…”
“Ich bin doch ganz da, oder? Sie sehen mich doch … oder nicht?” fragte sie.
Trey sah zu Marcus, dann wandte er den Blick ab, als sei er Zeuge von etwas geworden, das ihn eigentlich nichts anging.
Für Marcus war bei diesen Worten klar, dass wirklich irgendetwas nicht stimmte. Olivia musste es als Erste bemerkt haben, und es machte ihr so sehr zu schaffen, dass sie darüber ihre Schmerzen zu vergessen schien.
“Ja, meine Liebe, wir alle können Sie sehen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wie wäre es, wenn wir zu Ihnen fahren und eine Tasche packen, damit Sie für ein paar Tage bei mir im Haus bleiben können?”
“Oh nein … ich kann nicht weg … das habe ich auch schon Olivia gesagt.”
Marcus legte einen Arm um ihre Schultern, um sie zu beruhigen. “Sie sollen Ihr Zuhause doch gar nicht verlassen. Ich möchte nur, dass Sie eine Weile mitkommen, damit Sie sich um Olivia kümmern können. Sie haben doch gesagt, Sie wollten mir helfen und auf Olivia aufpassen.”
“Ja … ja”, gab sie nachdenklich zurück. “Auf Olivia aufpassen. Aber … sie ist doch hier.”
“Noch ist sie hier, das ist richtig. Aber Sie müssen sich doch eingelebt haben, wenn Olivia nach Hause kommt, nicht wahr? Rose kocht immer noch für uns. Sie erinnern sich bestimmt noch an Rose. Sie würde sich über etwas Gesellschaft sicher freuen.”
“Rose macht guten Hackbraten”, erklärte Anna.
Marcus stieß einen leisen Seufzer aus. Er hatte nicht geahnt, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Er vermutete, dass sie entweder einen Schlaganfall erlitten hatte, bei dem ein Teil ihres Gedächtnisses in Mitleidenschaft gezogen worden war, oder aber sie zeigte die ersten Symptome von Alzheimer. In jedem Fall hielt er es für das Beste, sie mit zu sich nach Hause zu nehmen.
“Ja, das stimmt”, bestätigte er. “Also? Kommen Sie für eine Weile zu uns?”
Sie sah zu Olivia, schließlich nickte sie. “Ja, bis es ihr besser geht. Dann muss ich zurück nach Hause, einverstanden?”
“Einverstanden”, sagte Marcus und sah zu Trey, der den Blick sofort richtig deutete.
“Gehen Sie ruhig und erledigen Sie, was Sie zu erledigen haben. Ich werde hier bleiben.”
“Sie haben ja meine Nummer.”
Trey klopfte auf die Jackentasche, in der Marcus’ Visitenkarte steckte. “Ja, und Sie wissen, wie Sie mich erreichen können.”
Es missfiel Marcus, Olivia so früh bereits wieder zu verlassen, doch Anna konnte unmöglich hier bleiben.
“Ist sie in Sicherheit?” fragte er Trey. “Ich meine, der Mann, der auf sie geschossen hat, ist noch nicht gefasst. Was, wenn er …”
“Ich lasse einen Wachmann vor dem Zimmer postieren”, erwiderte er.
Marcus nickte, dann hielt er ihm die Hand hin. “Es tut mir Leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennen lernen mussten, aber ich freue mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.”
“Die Freude ist ganz meinerseits”, gab Trey zurück und schüttelte ihm die Hand.
Olivia stöhnte wieder leise auf. Trey drehte sich zu ihr um, während Marcus Anna aus dem Zimmer brachte.
Nachdem er sich einen Stuhl herangezogen hatte, setzte sich Trey neben das Krankenbett. Im Moment sollten die anderen Jagd auf Verbrecher machen. Für ihn war nur wichtig, dass keiner von denen in dieses Zimmer gelangte.
Dennis Rawlins war einen Schritt zu weit gegangen. Er war Teil jener Gewalt geworden, von der er behauptete, sie zu verabscheuen. Doch zu seiner Überraschung war ihm dieser Schritt gut gelungen. Bomben zu legen war etwas Anonymes, man sah seinen Opfern nicht in die Augen. Das war diesmal anders gewesen. Er hatte sich einen Plan zurechtgelegt, seiner Gegnerin in die Augen gesehen und sie dann ausgelöscht. Es bereitete ihm ein gutes Gefühl, aber es gab noch einige Dinge, die er zu erledigen hatte.
Nach dem Attentat hatte er den Freeway an der nächsten Ausfahrt verlassen, war auf direktem Weg zu einem ihm bekannten Schrottplatz gefahren, der um diese Zeit unbewacht war. Er benutzte das Zufahrtstor mit dem defekten Schloss und stellte den Van inmitten der rostigen Wracks ab. Der Wagen war alt genug und ausreichend ramponiert, um zwischen den anderen Karren nicht aufzufallen. Niemand würde den Van dort jemals entdecken.
Er nahm jeden Fetzen Papier aus dem Wagen, auf dem sein Name stand, verwischte die Fingerabdrücke und steckte Schlüssel und Waffe ein, dann verließ er den Platz auf dem Weg, den er gekommen war. Auf halber Strecke zum Tor fiel ihm ein größtenteils ausgeschlachteter 52er Chevrolet auf und er nahm spontan die Waffe aus der Tasche, um sie unter den halb verrotteten Rücksitz zu schieben.
Dann ging er weiter, zog das Tor hinter sich zu und schlenderte die Straße entlang, bis der Schrottplatz gut eine Meile hinter ihm lag. Niemand würde ihn hier noch mit den Autowracks in Verbindung bringen. Er winkte ein Taxi an den Straßenrand und ließ sich nach Hause fahren, wo er die Tür hinter sich verriegelte und sich auf dem Weg ins Schlafzimmer die Kleidung vom Leib streifte.
Nachdem er geduscht hatte, zog er eine Jogginghose an, ging in die Küche und machte sich ein Sandwich mit Wurst und Käse, goss sich ein Glas Milch ein, während er eine Melodie summte. Dann schüttete er eine Handvoll Chips auf den Teller zum Sandwich und hielt abrupt inne, da es soeben sechs Uhr wurde und die Kuckucksuhr über dem Telefon sich meldete.
Unwillkürlich musste er lächeln, als der kleine Mann hinter der rechten Klappe auftauchte und vor einer ebenso kleinen Frau davonlief, die ihm nachstellte. Die Uhr hatte früher seiner Mutter gehört. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er immer dieses kleine Schauspiel beobachtet. Diese vertraute Szene vermittelte ihm ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, so als befinde sich seine Mutter im Nebenzimmer und würde jeden Moment auftauchen. In Wahrheit war sie schon seit Jahren tot. Als die Verfolgungsjagd vorüber war, trug er den Teller ins Wohnzimmer, wo er während der Abendnachrichten essen wollte.
Er griff nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und lehnte sich genüsslich nach hinten. Nach dem zweiten Bissen wurde Olivia Sealys erwähnt. Schnell stellte er den Ton lauter, um ja kein Detail zu versäumen, wenn über den tödlichen Unfall berichtet wurde.
“…am Nachmittag. Zeugenaussagen zufolge soll es sich beim Tatfahrzeug um einen älteren dunklen Van oder Geländewagen handeln. Der Fahrer soll ein Weißer sein, etwa fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt, möglicherweise trug er eine weiße Baseballkappe. Wenn Sie Informationen zu diesem Verbrechen haben, setzen Sie sich bitte mit dem Dallas Police Department in Verbindung. Alle Anrufe werden vertraulich behandelt. Miss Sealy befindet sich weiterhin im Dallas Memorial, ihr Zustand wird als ernst, aber stabil bezeichnet.”
Dennis verschluckte sich vor Schreck und begann zu husten.
Sie war nicht tot? Wie zum Teufel konnte das sein? Er hatte aus nächster Nähe auf sie geschossen. Er hatte das ganze Magazin geleert, und er hatte gesehen, wie der Wagen die Leitplanke durchbrach und sich überschlug.
Und trotzdem war sie nicht tot?
Was hatte das zu bedeuten?
Er sah auf sein Essen und stellte den Teller zur Seite. Ihm wurde übel, seine Hände zitterten.
“Oh Herr … ich habe es doch versucht”, flüsterte er, ging dann auf die Knie und betete.
Als er die Augen schloss, sah er wieder die toten Kinder, die auf dem Rasen verstreut lagen und deren verdrehte, blutige Leiber ihn an sein Versagen erinnerten.
“Ich habe es versucht”, wiederholte er. “Oh Gott, vergib mir.” Er stöhnte und beugte sich vor, bis sein Gesicht den Boden berührte, während er weiter den Gott anbetete, der in seinem Kopf lebte. “Gib mir noch eine Chance, Herr. Diesmal werde ich alles richtig machen, ich verspreche es dir.”
Entweder wollte Gott nicht mit ihm reden, oder er war einfach nicht zu Hause, denn Dennis hörte nichts weiter als sein eigenes Schluchzen. Er konnte nur wieder die Augen schließen und weiter beten, damit er von seinen Sünden reingewaschen wurde.
Es war nach Mitternacht, als Trey den Korridor betrat. Er musste dafür nicht auf die Uhr sehen, ein Blick zu den Schwestern genügte, um zu wissen, dass die Nachtschicht ihren Dienst angetreten hatte. Für eine Weile blieb ihm nichts anderes übrig, als Olivias Zimmer zu verlassen, damit ihre Verbände gewechselt und ihr Zustand kontrolliert werden konnte.
Nur wenige Schritte hinter der Tür bleib er stehen. Mehr Abstand wollte er nicht zwischen Olivia und sich kommen lassen. Einmal pro Stunde rief Marcus an, um sich nach seiner Enkelin zu erkundigen. Der alte Mann tat ihm Leid, fühlte er sich doch offenbar hin und her gerissen zwischen der Sorge um Olivia und der Sorge um eine Frau, die sichtlich Schwierigkeiten hatte, sich um sich selbst zu kümmern.
Trey fühlte mit dem Mann mit, doch insgeheim war er froh darüber, mit Olivia allein sein zu können. Immer wieder wachte sie kurz auf, aber es reichte nie, um zu verstehen, was um sie herum vorging. Doch dieser gelegentliche Blick in ihre blauen Augen und das Wissen, dass ihr Zustand stabil war und sich allmählich verbesserte, genügte ihm bereits.
Bei den Schwestern hatte er sich beliebt gemacht, seit die wussten, dass er und Olivia in ihrer Jugend ein Paar gewesen waren. Seitdem war es ihm gestattet, den Pausenraum der Krankenschwestern zu benutzen. Worauf er bislang aber vergeblich wartete, war die Mitteilung, der Schütze sei gefasst. Dass der Kerl, der Livvie hatte umbringen wollen, noch immer auf freiem Fuß war, gefiel ihm gar nicht. Umso wachsamer beobachtete er jeden Mann, der an dem Krankenzimmer vorüberging. Der einzige Mann, der zu Olivia durfte, war ihr Arzt, und Trey wusste, er würde den Täter auf den ersten Blick erkennen. Mehr konnte er nicht tun, alles andere musste jetzt das Department leisten.
Am Ende des Korridors angekommen, starrte er auf den Parkplatz, als eine der Schwestern nach ihm rief. “Detective Bonney … Detective Bonney.”
Er drehte sich um.
“Sie können jetzt wieder hineingehen”, sagte sie.
Trey bedankte sich mit einem Kopfnicken und verließ den Platz am Fenster in dem Moment, als ein Taxi vor dem Eingang zum Krankenhaus anhielt und einen Fahrgast aussteigen ließ.
Die Besuchszeit war längst vorüber, doch Dennis kannte sich im Krankenhaus gut aus. Seine Mutter hatte die letzten acht Wochen ihres Lebens hier verbracht, während ein Tumor in ihrem Bauch sie langsam aufgezehrt hatte. Einige Wochen vor der Diagnose, dass sie an Krebs erkrankt war, hatte er ihr eines Abends im Vollrausch gestanden, für den stümperhaften Bombenanschlag auf die Abtreibungsklinik verantwortlich zu sein. Seine Mutter hatte mit Entsetzen reagiert und ihn aus dem Haus geworfen, das er als sein Heim betrachtete. In den folgenden Tagen betete sie zu Gott, er möge sie von ihrer Schuld freisprechen, die sie mittrug, weil sie eine so bösartige Kreatur zur Welt gebracht hatte. Als der Tumor festgestellt wurde, hielt sie das für ein Zeichen Gottes, der sie damit für ihre Mitschuld bestrafte, und weigerte sich, einer Operation oder einer anderen medizinischen Behandlung zuzustimmen.
Schließlich wurden die Schmerzen so schlimm, dass sie seine Mutter an den Rand des Wahnsinns trieben. Dennis setzte sich daraufhin über ihren Entschluss hinweg und brachte sie ins Krankenhaus. Die Ärzte bemühten sich um eine Behandlung, doch sie weigerte sich, nannte aber auch keine Begründung für ihr Verhalten. Sie nahm den Tod als jene Strafe hin, die sie von ihrer Schuld befreite.
Zwar war sie vor nunmehr neun Jahren gestorben, doch Dennis bekam sofort eine Gänsehaut, als er die Notaufnahme betrat. Seine Vermutung, dass dort Hochbetrieb herrschen würde, erwies sich als richtig. Das Wartezimmer war voll, und das Personal hatte mehr als genug damit zu tun, die Patienten aufzunehmen. Er setzte sich auf einen Platz nahe der Tür, verlor sich eine Weile im Lärm und in der Menge, bis er herausgefunden hatte, welche Mitarbeiter sich wohin begaben.
Auf einmal fuhr ein Rettungswagen vor, gefolgt von zwei Polizeifahrzeugen. Dennis stand auf, und nutzte die allgemeine Unruhe des offensichtlich schwer verletzten Neuzugangs, um durch die Tür zu schlüpfen, die nur dem Personal Zutritt gestattete. Er begab sich zum Materialraum, den er von seinem Platz aus hatte sehen können, und zog die Tür hinter sich zu, gleichzeitig schaltete er das Licht ein.
Schnell fand er einen Overall und zog ihn an, dann nahm er einen Putzeimer auf Rollen, einen Mop, mehrere Putzlappen und eine Sprühflasche Desinfektionsmittel, verließ den kleinen Raum und machte sich auf den Weg durch das Gebäude.
Niemand nahm von ihm Notiz, während er sich auf den Weg zum dritten Stock machte. Olivia Sealy musste dort untergebracht sein, da er sich noch gut daran erinnern konnte, wohin Patienten unmittelbar nach einer Operation kamen. Zielstrebig ging er durch die Korridore und schob mit dem Mop den Eimer vor sich her.
Auf der Etage herrschte aufgrund des Schichtwechsels ein geschäftiges Treiben. Das war sein Glück, denn so konnte er sich auf der Station bewegen, ohne allzu schnell aufzufallen. Kaum war das Schwesternzimmer einen Moment lang unbeaufsichtigt, nutzte er seine Chance. Keine halbe Minute später hatte er herausgefunden, wo Olivia Sealy lag, dann ging er zum nächsten Materialraum.
Eine Schwester mit einem Tablett in der Hand kam ihm entgegen und warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu, dann eilte sie weiter. Er zog sich in den Raum zurück, nahm eine Rolle Papiertücher aus dem Regal, riss einige davon ab und stopfte sie in den Eimer. Er zündete sie mit einem Streichholz an und wartete nur lange genug, um sicher zu sein, dass die Tücher Feuer gefangen hatten, dann verließ er rasch den Raum. Olivias Zimmer war im Flur das drittletzte. Langsam bewegte er sich dorthin und hielt die Tür im Auge.
Nur wenige Sekunden vergingen, dann bahnte sich der Rauch seinen Weg unter der Tür des Materialraums hindurch in den Korridor. Dass Dennis damit eine weitere Katastrophe auslösen könnte, war ihm nicht bewusst. Er dachte nicht darüber nach, ob das Feuer womöglich außer Kontrolle geraten und noch mehr unschuldige Menschen ihr Leben verlieren könnten. Ihm ging es nur darum, vor seinem Schöpfer Wiedergutmachung zu leisten.
Eine Minute war inzwischen verstrichen. Eine Krankenschwester kam aus einem Zimmer in den Flur, ging aber in die andere Richtung weg und sah nichts von der Rauchwolke, die allmählich dichter wurde. Plötzlich schrillte der Feueralarm los, der jeden, der sich aus eigener Kraft bewegen konnte, aus den Zimmern in den Gang eilen ließ.
Irgendjemand schrie, ein anderer brüllte etwas Unverständliches, fast gleichzeitig setzte die Sprinkleranlage ein.
Als die Tür, an der Dennis stehen geblieben war, geöffnet wurde, machte er einen Schritt nach hinten, da ein großer, kräftiger Mann aus dem Zimmer gelaufen kam, in dem Olivia Sealy lag.
Dennis zuckte zusammen. Mit diesem Mann hatte er nicht gerechnet. Ihm kam in den Sinn, dass sein Plan womöglich nicht ausgereift war, doch es war längst zu spät, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen.
Kaum war ihm der Mann nicht mehr im Weg, schlüpfte Dennis in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Mit einem Mal empfand er einen solchen inneren Frieden, dass ihm die Tränen kamen. Das Wasser aus der Sprinkleranlage lief ihm übers Gesicht, doch er konnte Olivia klar und deutlich sehen. Durch sie würde er sich von allen Sünden reinwaschen. Er holte tief Luft und näherte sich dem Bett.
Trey erkannte schnell, woher der Rauch kam. Als er die Tür zum Materialraum öffnete, sah er den brennenden Eimer und zog ihn sofort nach draußen in den Flur, ehe die Flammen auf die Putzmittel übergreifen konnten. Eine Schwester kam mit einem Feuerlöscher zu ihm gelaufen und erstickte das Feuer, während Trey dastand und verwundert den Eimer betrachtete.
“Lassen Sie die Sprinkleranlage abstellen”, sagte er zu der Krankenschwester. “Das war’s.”
Sie lief zum Telefon, während ihre Kolleginnen Aufnehmer und Tücher holten, um das Wasser aufzuwischen.
Jemand hatte eine Rolle Papiertücher in Brand gesetzt … aber warum? Der Rauch verzog sich bereits, und Trey wunderte sich, was dieses Manöver hatte bewirken sollen. Warum sollte jemand …?
Sein Herz stockte einen Moment lang, als er sich umdrehte und sah, dass die Tür zu Livvies Zimmer geschlossen war. Er wusste mit Sicherheit, er hatte sie offen gelassen.
“War irgendjemand in Olivia Sealys Zimmer?” rief er panisch.
Die Schwestern sahen sich gegenseitig an, schüttelten dann aber den Kopf.
“Rufen Sie den Sicherheitsdienst”, wies er sie an und stürmte auf die Tür zu.
Wasser strömte Dennis über den Hinterkopf und die Hände, als er sich über Olivia Sealy beugte. Seine Finger umschlossen ihre Kehle, er spürte, wie warm ihre Haut war, er fühlte ihren Puls unter der Haut. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Die Macht über Leben und Tod lag buchstäblich in seinen Händen.
So also muss sich Gott fühlen.
Er atmete langsam aus, sein Herz schlug vor Aufregung schneller.
“Im Namen des Vaters, des Sohnes und …”
Plötzlich wurde Dennis nach hinten gerissen, das Wasser lief ihm ins Gesicht. Seine Knie knickten ein, als er eine tiefe, wütende Stimme dicht an seinem Ohr hörte.
“Nimm die Hände weg, sonst bist du ein toter Mann.”
Dennis erstarrte und blinzelte, um besser sehen zu können, doch das Wasser tropfte ihm weiter in die Augen und machte es ihm unmöglich, etwas zu erkennen. Der Gedanke, Widerstand zu leisten, kam ihm nie in den Sinn. Was ihm jedoch bewusst wurde, war die Tatsache, dass er neun Jahre lang auf diesen Moment gewartet hatte. Die Gerechtigkeit hatte ihn ereilt, bevor er Wiedergutmachung hatte leisten können. Ein wenig überraschte es ihn, darüber Erleichterung zu empfinden.
“Der Herr befahl es mir. Ich tue nur, was er mir …”
“Kein Wort mehr, und nimm jetzt endlich die Hände von ihr!” brüllte Trey, während er den Mann an den Schultern packte und mit einem kräftigen Ruck nach hinten zerrte.
Kaum hatte Dennis die Hände ein Stück hochgenommen, wurde er rückwärts aus dem Zimmer geschleift. Die Sprinkleranlage wurde abgeschaltet, und er konnte den Mann erkennen, der seinen Plan vereitelt hatte.
Er spürte den Zorn des Mannes, als habe der körperliche Gewalt angewendet. Etwas verriet ihm, dass dieser Fremde ihm ohne zu zögern das Genick brechen würde, wenn er sich ihm widersetzte. Es war ein verlockender Gedanke, weil er Dennis damit von seinem Elend erlösen würde.
Nur eine kleine Bewegung, die als Widerstand zu deuten war.
Komm schon, Dennis, tu wenigstens einmal in deinem Leben das Richtige.
Die höhnische Aufforderung erschien ihm so real wie der Mann, in dessen Griff er sich befand.
Eine Bewegung. Ein Aufbegehren, und dann würde er vor Gott treten.
Doch ihm fehlte der nötige Mut, und damit ging für Dennis Rawlins die Erkenntnis einher, dass sich seine größte Angst erfüllen würde. Sobald er seinem Schöpfer gegenübertrat, würde das Blut von Kindern an seinen Händen kleben. Und er würde eingestehen müssen, dass er zu feige war, das Richtige zu tun, wenn es hart auf hart kam.
Trey drückte den Mann mit dem Gesicht gegen die Wand und legte ihm Handschellen an, noch bevor sich der Sicherheitsdienst um ihn kümmern konnte. Als er ihn sich genauer ansah, erkannte er den Mann wieder, der vor dem kriminaltechnischen Labor mit einem Protestplakat umhergelaufen war.
“Halten Sie ihn fest!” wies er den Sicherheitsmann an und lief zurück zu Olivias Bett.
Obwohl Bettwäsche und Kleidung durchnässt waren, schlief Livvie immer noch fest und ahnte nicht, wie nah sie ein weiteres Mal dem Tod gekommen war.
Er berührte ihren Arm und lauschte auf den gleichmäßigen Herzschlag, den die Apparaturen neben ihrem Bett als leise Piepstöne hörbar machten. Alles war noch so wie kurz zuvor, ehe er in den Flur gelaufen war. Als er mit dem Handrücken über ihre Wange streichen wollte, merkte er, wie sehr er zitterte.
Zum zweiten Mal hätte er Livvie beinah verloren. Der bloße Gedanke bereitete ihm Übelkeit. Er strich ihr eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht, dann atmete er tief durch, um sich zu beruhigen.
Sie hatte den Mund leicht geöffnet, die Unterlippe war ein wenig angeschwollen. Kleinere Schrammen waren auf ihrer Wange zu sehen, außerdem ein größerer Kratzer auf ihrer Stirn. Livvie wirkte, als hätte sie sich einen Nahkampf mit einer Wildkatze geliefert und verloren.
Zugleich hatte sie noch nie schöner ausgesehen als in diesem Moment.
Er drückte ihr einen zarten Kuss auf die Wange, dann auf die Stirn. Von ihren Lippen war er nur ein paar Zentimeter entfernt, als er flüsterte: “Oh, Livvie … du ahnst gar nicht, was du in mir bewegst.” Wieder beugte er sich ein Stück weit vor, und diesmal berührte er ihren Mund, aber so hauchzart, dass es fast nicht zu spüren war. Als er sich aufrichtete, standen ihm Tränen in den Augen.
Während er zur Tür ging, zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und rief Chia Rodriguez an. Als sie sich meldete, hörte er ihrer Stimme an, dass sie verschlafen und wütend war.
“Ich hoffe, es ist etwas Wichtiges”, brummte sie.
“Chia, ich bin’s, Trey. Ich habe den Schützen.”
“Was soll das heißen, du hast ihn?” fragte sie und war sofort hellwach.
“Ich weiß nicht, wie er heißt, aber er liegt im Krankenhausflur und trägt meine Handschellen. Der Sicherheitsdienst bewacht ihn im Moment, aber es ist dein Fall, und ich dachte mir, du würdest ihn vielleicht gern selbst einkassieren.”
“Was ist denn passiert? Wie kannst du …?”
“Ich erkläre es dir, wenn du herkommst”, unterbrach er sie und beendete das Telefonat.