PROLOG

Lake Texoma, im Norden von Dallas, Texas

Marshall Baldwin benutzte den Vorschlaghammer mit dem gleichen kaum vorhandenen Feingefühl, das sein ganzes Leben prägte. Er war stets ein Mann gewesen, der die Dinge in die Hand nahm, und daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass er vor kurzem in den Ruhestand gegangen war. Genaugenommen war es seitdem nur noch schlimmer geworden, denn ihn trieb die Angst an, jemand könnte ihn für “zu alt” halten, um sein Leben noch selbst zu regeln. Jetzt lief ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht, während das Mauerwerk unter den Schlägen des Hammers allmählich nachgab.

Nach den alten Kabeln und der mangelhaften Wärmedämmung in dem alten Cottage zu urteilen, das er erst vor kurzem gekauft hatte, war eine gründliche Renovierung längst überfällig. Außerdem hielt ihn diese Arbeit hervorragend davon ab, ständig darüber nachzudenken, dass man ihn wie einen alternden Zuchtbullen auf die Weide geschickt hatte, der sein Geld nicht mehr wert war. Für Marshall stellte der fünfundsechzigste Geburtstag kein Problem dar, aber er hasste es wie die Pest, deswegen auch gleich als alt angesehen zu werden. Seinen Frust darüber ließ er an den Wänden aus, die er mit dem Vorschlaghammer einriss.

Gerade holte er zum nächsten Schlag aus, als seine Frau Pansy hereinkam, mit der er seit dreiundvierzig Jahren verheiratet war. Einen Moment lang stand sie da, betrachtete das Gesicht ihres Ehemanns, dann seufzte sie.

“Marshall, ist dieser Lärm denn wirklich nötig?”

Er hielt in seiner Bewegung inne und versuchte, ihr keinen verärgerten Blick zuzuwerfen. Schließlich war es nicht Pansys Schuld, dass man ihn in den Ruhestand getrieben hatte.

“Ja”, gab er zurück und schlug wieder auf die Wand ein.

“Maaarrsshhaaall!”

Während ein Regen aus zerschlagener Rigipsplatte und Mauerwerk auf seine leuchtend grüne Kappe niederging, presste Marshall die Lippen zusammen. Warum konnte sie nicht einfach einkaufen gehen oder irgendetwas anderes unternehmen? Wie sollte er den Rest seines Lebens ertragen, wenn sie ihn keinen Moment mehr aus den Augen ließ?

Gerade wollte er erneut ausholen, als Pansy sein Handgelenk packte und ihn stoppte. “Marshall, ich versuche, mit dir zu reden.”

Der Hammer rutschte ihm aus der Hand und fiel mit lautem Knall auf den Holzboden. Ehe Marshall seinem Ärger Luft machen konnte, geriet irgendetwas in der Wand in Bewegung und rutschte zwischen den Holzbohlen ein Stück weit nach unten, bis es aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er konnte nur noch erkennen, dass es sich um etwas Rechteckiges, Braunes handelte.

“Hast du das gesehen?” fragte er.

Pansy nickte. “Was glaubst du, was das war?” Dann packte sie wieder Marshalls Arm, diesmal jedoch vor Begeisterung. “Oh, Marshall! Stell dir vor, wir haben vielleicht einen Schatz entdeckt! Müssen wir den dann zurückgeben?”

Stirnrunzelnd versuchte Marshall, einen Blick in die Öffnung zu werfen. “Auf keinen Fall. Wir haben das Haus wie besichtigt gekauft. Was wir hier finden, gehört uns.”

“Kannst du irgendetwas erkennen?”

“Nur einen Umriss.”

“Versuch doch mal, ob du rankommst”, rief sie aufgeregt.

Er schob einen Arm in die Öffnung in der Mauer, griff nach unten und strich über eine Kante des Objekts, bis er auf der ledernen Struktur etwas Metallenes ertastete. “Das könnte ein Koffer sein.”

Pansy stieß einen begeisterten Schrei aus und hüpfte hin und her. Das hätte zwar besser zu einem jungen Mädchen gepasst, doch es gelang ihr auch mit ihren über sechzig Jahren noch recht gut. Ihre Begeisterung war sogar so ansteckend, dass Marshall unwillkürlich lächeln musste.

“Freu dich nicht zu früh”, warnte er sie. “Vielleicht ist der Koffer leer.”

“Ganz sicher nicht”, erwiderte sie. “Warum sollte sich denn jemand die Mühe machen, einen leeren Koffer in einer Wand zu verstecken?”

Er musste ihr Recht geben, sagte aber nichts, da er versuchte, den Koffer zu fassen. Dann endlich hatte er den Griff gefunden, doch als er zu ziehen begann, musste er einsehen, dass die Öffnung in der Mauer nicht groß genug war. Widerwillig ließ er los.

“Das Loch ist zu klein”, murmelte er.

Pansy zeigte auf den Vorschlaghammer, den sie ihm eben noch aus den Händen hatte reißen wollen. “Dann mach es größer.”

Genau das tat er auch, und als er ein paar Minuten darauf einen erneuten Versuch wagte, bekam er den Koffer frei.

“Oh, Marshall! Ich möchte zu gern wissen, was da drin ist. Mach ihn auf, schnell!”

“Es geht nicht”, antwortete er nach dem ersten erfolglosen Versuch. “Die Schlösser sind eingerostet.”

“Dann brech ihn auf”, forderte sie ihn auf und reichte ihm ein Stemmeisen.

Er grinste, als er hörte, dass Pansy mit einem Mal wie ausgewechselt war. Er nahm das Stemmeisen und schob es in den Spalt neben einem Schloss, das nach einer raschen Drehung nachgab.

Pansy begann begeistert zu kichern. “Er könnte voller Geld sein, ist dir das klar?”

“Wir werden es gleich wissen.” Er widmete sich dem zweiten Schloss, das genauso schnell aufsprang.

Sekundenlang sah er Pansy an, um die Spannung zu erhöhen, dann klappte er den Deckel hoch.

Es folgte ein langes Schweigen, schließlich stöhnte Pansy auf, legte die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.

Marshall betrachtete nach wie vor den Inhalt des Koffers, unfähig zu begreifen, was er da sah. Es war … ein Skelett. Das Skelett eines Kindes! Das konnte nicht sein! Sein Herz begann heftiger zu schlagen, und er befürchtete fast, er könnte jetzt und hier einen Herzinfarkt erleiden. In diesem Moment krabbelte ein kleiner schwarzer Käfer aus einer der leeren Augenhöhlen, woraufhin Marshall so sehr erschrak, dass er zurückwich und den Deckel losließ, der nach hinten wegklappte.

“Oh mein Gott”, flüsterte er und zog Pansy hoch, als er selbst aufstand. Er drückte ihren Kopf gegen seine Brust, und eine Weile standen sie beide einfach nur da, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen. Dann endlich bekam er sich unter Kontrolle und fasste seine Frau an den Schultern. “Na komm, Pansy, beruhige dich. Hast du dein Handy dabei?” fragte er. Während sie zu ihrer Handtasche ging, fuhr er sich mit zitternder Hand übers Gesicht.

Wortlos reichte sie ihm den Apparat, Marshall holte tief Luft, dann tippte er die Notrufnummer ein.

Pansy sah zum Koffer. “Wer kann denn bloß so etwas tun?”

“Keine Ahnung, und ich danke Gott dafür, dass ich nicht derjenige bin, der das herausfinden muss.”

Eine Frauenstimme meldete sich: “Neun-eins-eins. Welchen Notfall möchten Sie melden?”

Wieder atmete er tief durch. “Mein Name ist Marshall Baldwin. Ich habe ein Haus gekauft, das vier Meilen westlich des Fish Shack nahe dem Steg Nummer vier am Lake Texoma gelegen ist. Sie müssen sofort die Polizei herschicken.”

“Und welche Art von Notfall liegt vor?”

“Ich habe gerade eben einen Koffer mit einem Skelett darin gefunden.”

Es folgte eine kurze Pause, dann fragte die Frau am anderen Ende: “Entschuldigen Sie, Sir, aber habe ich richtig verstanden, dass Sie ein Skelett in einem Koffer gefunden haben?”

“Ja.”

“Wie groß ist der Koffer?”

“Nicht sehr groß”, antwortete Marshall leise. “Und das Skelett ist auch nicht sehr groß. Es ist ein Kind, das heißt … es sind die sterblichen Überreste eines sehr kleinen Kindes.”