7. KAPITEL
Olivia war in Gedanken immer noch bei Nanna, als sie sich ihrer Ausfahrt näherte. Den Minivan, der sich von hinten näherte, bemerkte sie erst, als er auf gleicher Höhe mit ihr war und einen bedenklichen Schlenker auf ihre Spur machte.
Sie bekam das Gesicht des Fahrers nur kurz zu sehen, und das galt auch für die Waffe, die er auf sie richtete. Bereits im nächsten Augenblick zerbarst die Seitenscheibe.
Entsetzt schrie Olivia auf und verriss gleichzeitig das Lenkrad, ihr Geländewagen durchbrach die Leitplanke, flog ein Stück weit durch die Luft und schlug auf dem harten Untergrund auf. Sie wurde vom Sicherheitsgurt in den Sitz gepresst, zusätzlich schoss ihr der Airbag entgegen. Ein Stich jagte durch ihre Schulter, der sie aufschreien ließ. Sie hatte das Gefühl, Treys Namen zu rufen, während der Wagen sich überschlug. Dann wurde um sie herum alles schwarz.
Erst als Dennis sah, wie der Geländewagen auf die rechte Spur wechselte, wurde ihm klar, dass die Fahrerin den Freeway verlassen wollte. Seit er wusste, dass Olivia Sealy den Wagen fuhr, nicht aber Marcus, hatte er mit dem Gedanken gespielt, den Plan nicht auszuführen. Doch sie trug den gleichen Namen, und damit trug sie die Schande mit. Ehe er sich anders entscheiden konnte, gab er Gas, wechselte auf die rechte Fahrspur, bis er hinter dem Geländewagen war. Er wartete einen Moment, dann scherte er aus und beschleunigte, um auf gleiche Höhe zu gelangen. Während er so dicht an den anderen Wagen heranfuhr, wie er es für vertretbar hielt, richtete er die Waffe auf die Fahrerin, drückte ab und trat das Gaspedal durch.
Im Seitenspiegel sah er, wie der Geländewagen ins Schlingern geriet und die Leitplanke durchbrach. Vor Erleichterung kamen ihm die Tränen. Heute Nacht würde er frei von Schuldgefühlen schlafen können.
“Ja, Herr, es ist vollbracht”, flüsterte er, ohne noch einen Blick in den Rückspiegel zu werfen.
Trey war auf dem Heimweg, als er über Funk von einem Unfall mit einer verletzten Person erfuhr. Er dachte darüber nach, wie vergänglich ein Menschenleben doch war. Für irgendjemanden würde die Welt von einer Sekunde auf die andere völlig anders aussehen. Trey hoffte für das Unfallopfer das Beste, widmete sich dann aber wieder anderen Themen.
Seit dem Morgen wollte ihm Livvie nicht mehr aus dem Kopf gehen. Das geteilte Banana Split hatte eine Fülle an Erinnerungen aufleben lassen. Erinnerungen an diese erste Liebe und an den Schmerz, als sie endete. Eine Weile hing er dem albernen Gedanken nach, ob es wohl möglich war, das wieder aufleben zu lassen, was einmal zwischen ihnen gewesen war. Doch da war auch die Erkenntnis, dass sich Livvie seit der Schule kaum verändert hatte. Sie war zwar eine erwachsene Frau, aber die Kontrolle über ihr Leben lag nicht in ihren Händen. So sehr er sich auch zu ihr hingezogen fühlen mochte, wusste er nur zu gut, dass er gar nicht erst etwas in dieser Richtung versuchen durfte.
Um sich davon abzulenken, widmete er sich der banalen Frage, ob er zum Abendessen die Reste vom Vortag aufwärmen oder irgendwo etwas zu essen mitnehmen sollte. Seine Meinung tendierte eben zu einer Portion Hähnchen, als sein Mobiltelefon klingelte. Er sah, dass Lieutenant Warren ihn zu erreichen versuchte, doch der Gedanke, zurück ins Büro zitiert zu werden, behagte ihm überhaupt nicht. Sekundenlang überlegte Trey, ob er sich einfach nicht melden sollte. Dann aber riss er sich zusammen und tat, wofür man ihn bezahlte.
“Ja?”
“Wo sind Sie, Trey?”
Am liebsten hätte er aufgestöhnt. Diese Frage genügte, um zu wissen, dass er gleich kehrtmachen durfte. Das kam davon, dass er auf den Anruf überhaupt erst reagiert hatte.
“Fast zu Hause, Sir. Was gibt es?”
“Probleme. Auf Olivia Sealy wurde geschossen, sie ist von der Fahrbahn abgekommen und wird im Moment ins Dallas Memorial gebracht. Fahren Sie sofort hin. Rodriguez und Sheets kümmern sich zwar um den Fall, aber Sie kennen die Familie gut. Wenn Sie irgendetwas herausfinden, lassen Sie es Rodriguez wissen.”
“Geschossen? Habe ich das richtig verstanden?”
“Ja, geschossen. Eine Bestätigung liegt mir noch nicht vor, aber es heißt, sie weise neben ihren anderen Verletzungen auch eine Schusswunde auf.”
“Andere Verletzungen?”
“Ja, Trey, und …”
Entsetzt hielt er am Straßenrand an. Der Lieutenant redete zwar immer noch, doch seine Worte ergaben für Trey keinen Sinn mehr. Er konnte nur an Livvies ausgelassenes Lachen denken, als sie ihm am Mittag die heiße Soße von ihrem gemeinsamen Banana Split stibitzt hatte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er wieder Luft holen konnte, dann fragte er hastig: “Wie schwer ist sie verletzt? Ist der Schütze gefasst? Wurde Marcus Sealy informiert?”
“Ich habe noch keine präzisen Angaben zu ihren Verletzungen. Der Schütze konnte bislang nicht gefasst werden. Und Mr. Sealy wurde in Kenntnis gesetzt. Fahren Sie ins Krankenhaus und versuchen Sie, so viel wie möglich herauszufinden. Ich habe so ein Gefühl, dass es mit dem toten Mädchen in diesem Koffer zu tun hat, auch wenn ich mir nicht erklären kann, welchen Zusammenhang es da geben sollte.”
“Bin schon unterwegs”, sagte Trey und steckte sein Mobiltelefon ein. Er schaltete das rote Signallicht ein, wendete und fuhr in Richtung Krankenhaus.
Olivia roch und schmeckte Blut. Es musste ihr eigenes Blut sein, obwohl sie nicht wusste, wie das möglich sein konnte. Angst und Schmerz stürmten auf sie ein, als sie sich aufsetzen wollte, dann aber merkte, dass sie sich gar nicht bewegen konnte.
“Olivia? Olivia? Wissen Sie, wo Sie sind?” fragte jemand und strich über ihre Stirn.
Nein, dachte sie und glaubte, sie hätte es auch laut ausgesprochen, bis sie hörte, dass die Stimme weiter auf sie einredete.
“Sie sind im Krankenhaus. Sie hatten auf dem Freeway einen Unfall, erinnern Sie sich?”
Eine Waffe … blauer Van … Schreie … jemand schreit … oh Gott, das bin ja ich. “Hilfe”, flüsterte sie.
“Wir helfen Ihnen ja, aber Sie müssen liegen bleiben.”
“Grampy … er muss es wissen …”
“Ihre Familie wurde informiert. Bewegen Sie sich bitte nicht.”
Sie nahm ihre Umwelt mit einem Mal wie in einer Art Dämmerlicht wahr, sie fühlte den Schmerz und hörte Stimmen, doch alles war weit entfernt, so als würde sie neben ihrem Körper stehen.
“Doktor! Ihr Blutdruck sinkt!”
“Die Kugel hat eine Arterie getroffen!”
“Blutgruppe bestimmen …”
“Blutverlust …”
“Sie ist stabilisiert …”
“In den OP mit ihr …”
Auf einmal wurde sie bewegt. Sie erkannte es daran, dass die Deckenleuchten vor ihren Augen vorbeihuschten.
Dann hörte sie eine Stimme, eine tiefe Stimme, die angsterfüllt nach ihr rief. Eine Hand berührte ihre Wange, hastige Schritte neben dem Krankenbett, um mit ihr auf einer Höhe zu bleiben, während sie in den Operationssaal gefahren wurde.
Es war Trey!
Seine Gegenwart wahrzunehmen kam ihr wie ein Trost vor, der ihr zugleich Schmerzen bereitete. Er war zu ihr gekommen, als sie ihn am dringendsten brauchte, doch sie war sich nicht sicher, ob er verstehen würde, was sie wollte. Während sie gegen die Dunkelheit ankämpfte, die sie erneut zu umschließen drohte, hörte sie seine flehenden Worte.
“Livvie … Livvie … ich bin’s, Trey. Halte durch, Baby. Tu’s für mich!”
Trey … ich bin hier. Muss dir etwas sagen. Über den Van. Oh Gott, die Waffe … er hatte eine Waffe … “Geschossen”, war jedoch alles, was sie herausbrachte.
Er konnte nicht mit ansehen, wie sich das Blut auf ihrer Brust weiter ausbreitete. “Ich weiß, Baby, ich weiß. Hast du ihn gesehen? Weißt du, wer es war?”
Eine Krankenschwester schob Trey aus dem Weg, da sie sich dem OP näherten.
“Detective … Sir … Sie können nicht mitkommen.”
Olivia fühlte Treys Hand auf ihrer. Mit aller Kraft, die sie noch aufbringen konnte, klammerte sie sich an ihm fest und zog ihn zu sich.
Er merkte, was sie vorhatte, und beugte sich über sie, da er sah, wie sie die Lippen bewegte. “Was ist, Livvie? Was willst du mir sagen?”
“Schütze … Kindermörder …”
“Ich verstehe nicht, Honey. Was soll das heißen?”
“Das reicht jetzt”, ging die Schwester dazwischen. “Gehen Sie bitte zur Seite.”
Alles roch nach frischem Blut. Er sah, wie ihre Augenlider flatterten, als sie noch einmal versuchte, etwas zu sagen. Doch jede weitere Verzögerung brachte ihr Leben mehr in Gefahr. Trey hätte alles dafür gegeben, um Gewissheit zu bekommen, dass sie überleben würde.
“Schon gut, Livvie, es ist gut. Du kannst es mir nachher sagen.” Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr: “Halt durch, Livvie. Verlass mich nicht noch einmal.”
Trey waren in seiner Karriere als Polizist oft genug Opfer von Schießereien zu Gesicht gekommen, doch nie hatte eines von ihnen ihm so nahe gestanden wie Olivia Sealy. Vor der Tür zum OP warten zu müssen, war mit das Schlimmste, was ihm je widerfahren war. Wie angewurzelt stand er da, zur Untätigkeit verdammt und von dem Gedanken erfüllt, den Bastard zu finden, der ihr das angetan hatte. Er holte tief Luft und legte eine Hand auf die Tür.
“Stirb mir bloß nicht, Livvie”, flüsterte er.
Als er sich umdrehte, sah er Marcus Sealy heranstürmen.
“Wo ist Olivia?” rief er. “Geht es ihr gut?”
Panik stand dem Mann ins Gesicht geschrieben, woraufhin Trey ihm entgegenging und ihn zu einer Sitzgruppe führte.
“Mr. Sealy, setzen Sie sich, dann sage ich Ihnen, was ich weiß.”
Er zitterte so heftig, dass er kaum durchatmen konnte. “Ich bin nicht wie verabredet zum Mittagessen nach Hause gekommen. Hätte ich das bloß getan, dann wäre das alles nie passiert!” Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. “Ich kann sie doch nicht auch noch verlieren”, stöhnte er. “Das kann ich nicht.”
“Zunächst einmal”, erklärte Trey, “ist das nicht Ihr Fehler. Und auch nicht Livvies Fehler.”
Marcus hob langsam den Kopf, und zum ersten Mal sah Trey, was für den Mann wirklich wichtig war, der sich sonst nur für Geld und Macht zu interessieren schien. Dies ließ ihn menschlicher erscheinen.
“Wer hat ihr das angetan?” wollte Marcus wissen. “Warum sollte jemand Olivia irgendetwas antun wollen? Sie ist in dieser Tragödie von Anfang an nur das Opfer gewesen. Sie hat ihre Eltern verloren, und jetzt steht ihre eigene Identität in Frage. Warum wünscht ihr nun auch noch jemand den Tod?”
“Ich weiß es nicht, Sir, aber wir werden es herausfinden.”
“Mein Gott, das ist ja wie in einem Albtraum.”
“Das kann man wohl sagen, Sir”, pflichtete Trey ihm leise bei.
Marcus sah auf und bemerkte, dass der Detective genauso erschüttert zu sein schien wie er selbst. Bonney hatte Olivia doch gerade eben Livvie genannt, ein Kosename, der eine gewisse Vertrautheit voraussetzte. Aber wie sollte das möglich sein, wenn sie sich doch vor kurzem zum ersten Mal begegnet waren?
“Hat Olivia etwas über den Schützen sagen können?” wollte er wissen.
Trey schüttelte den Kopf. “Jedenfalls nichts, was einen Sinn ergeben würde. Sie sprach von …” Mitten im Satz hielt er inne, als ihm etwas bewusst wurde. “Ja, verdammt noch mal!”
“Was ist?”
“Ich glaube, ich weiß jetzt, was sie sagen wollte”, erwiderte Trey. “Ich muss telefonieren.”
“Warten Sie! Ich habe ein Recht zu erfahren, was …”
“Wenn ich richtig liege, werden Sie es als Erster erfahren”, gab Trey zurück und lief zum nächsten Ausgang. Er musste den Lieutenant anrufen, doch in diesem Teil der Klinik durfte er kein Mobiltelefon benutzen.
Draußen angekommen rief er auf der Wache an und wurde direkt zu Chia durchgestellt, die sich noch am Tatort aufhielt und Zeugen befragte. Beim ersten Klingeln meldete sie sich. “Rodriguez.”
“Chia, ich bin’s, Trey. Ich habe vielleicht eine Spur.”
“Ich hoffe, die ist besser als das, was die Augenzeugen zu bieten haben. Zwei sahen einen schwarzen Van, einer einen blauen. Einer hielt den Fahrer für einen Mann, der andere ist sich nicht sicher, und der dritte sah dem Wagen nach, der die Leitplanke durchbrach. Das Kennzeichen hat sich keiner von ihnen gemerkt. Also, was hast du?”
“Hast du noch diesen Bekannten bei KLPG?”
“Ja, aber was hat das mit …”
“Lass mich erst erzählen”, unterbrach er sie. “Heute Morgen wimmelte es vor Reportern, als ich mit den Sealys am Labor ankam. Sie wollten unbedingt Sealy und seine Enkelin filmen, was sie ganz bestimmt auch geschafft haben.”
“Und?”
“Zwischen den Reportern hielt sich ein Typ auf, der einen wirren Eindruck machte und ein Plakat mit der Aufschrift ‘Kindermörder’ hochhielt. Wenn ihn jemand gefilmt haben sollte, dann musst du ihn dir ansehen und herausfinden, wer er ist. Wenn du das geschafft hast, soll er dir erklären, welches Alibi er für die letzten drei Stunden hat.”
“Warum?”
“Bevor Olivia Sealy in den OP gebracht wurde, sagte sie zu mir: ‘Schütze … Kindermörder.’ Dieser Auflauf vor dem Labor hatte ihr sehr zu schaffen gemacht, deshalb weiß ich nicht, ob sie jetzt nur etwas verwechselt oder ob sie mir sagen wollte, dass dieser Mann auf sie geschossen hat. So oder so müssen wir es herausfinden.”
“Geht klar”, erwiderte Chia. “Und danke.”
“Wenn du den Kerl findest, der auf sie geschossen hat, dann habe ich zu danken”, sagte Trey, beendete das Gespräch und kehrte ins Krankenhaus zurück.
Marcus saß noch immer da und wartete.
Obwohl es noch viel zu früh war, fragte Trey, während er sich zu ihm setzte: “Schon irgendetwas gehört?”
Der ältere Mann schüttelte den Kopf. “Wissen Sie inzwischen, wer ihr das angetan hat?”
Trey zögerte kurz. “Wir sind uns noch nicht sicher. Olivia sagte zwar noch etwas, aber das muss nichts zu bedeuten haben. Ich habe die Information weitergegeben, aber es kann noch eine Weile dauern, bis wir Genaueres wissen.”
Während sich Marcus abwandte, streckte Trey die Beine aus, lehnte sich nach hinten und schloss die Augen. Er hatte sich noch nie auf dieser Seite eines Verbrechens befunden, und es gefiel ihm überhaupt nicht, so hilflos zu sein. Er versuchte, sich in Marcus’ Lage zu versetzen, doch es war ihm nicht möglich, das zu begreifen, was dieser Mann fühlen musste. Er hatte bereits den Sohn und die Schwiegertochter durch ein schreckliches Verbrechen verloren, und nun kämpfte auch seine Enkelin mit dem Tode.
Nach einer Weile setzte er sich auf.
“Mr. Sealy?”
Marcus sah zu ihm. “Ja?”
“Möchten Sie einen Kaffee?”
“Nein, trotzdem vielen Dank.”
Wieder verstrichen ein paar Minuten, dann war es abermals Trey, der dem Schweigen ein Ende setzte. “Kann ich irgendjemanden für Sie anrufen? Einen Verwandten … einen engen Freund der Familie?”
“Nein”, entgegnete Marcus. “Es gibt niemanden, der …” Plötzlich stutzte er. “Oh nein, daran habe ich nicht gedacht. Sie wird es in den Nachrichten gehört haben und außer sich sein vor Sorge.”
“Wer?” fragte Trey. “Ich kann gerne für Sie …”
“Nein, nein, schon gut. Vielen Dank. Es handelt sich um Olivias früheres Kindermädchen. Die beiden stehen sich sehr nah. Ich muss ihr von dem …” Seine Stimme versagte, und Tränen liefen ihm über die Wangen. “Ich kann es nicht in Worte fassen. Ich muss ein Telefon suchen, dann werde ich sie persönlich anrufen.” Aufgeregt schaute er sich um, wo am ehesten ein Telefon zu finden sein könnte.
Trey zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und hielt es Marcus hin, der soeben aufgestanden war.
“Danke, mein Sohn.”
“Es ist nur ein Telefon.”
“Ich meine, dass Sie hier sind … dass Sie hier mit mir warten.”
Trey musste schlucken, ehe er antworten konnte: “Sir, ich möchte im Moment nirgendwo anders sein.”
Er sah Marcus nach, der nun ebenfalls das Krankenhaus verließ, um zu telefonieren. Ein paar Minuten vergingen, dann kehrte er zurück und gab Trey das Telefon. “Schon etwas gehört?” fragte er.
“Nein, Sir.”
Eine Weile beobachtete Marcus ihn und versuchte, aus Trey schlau zu werden. Sein Verhalten ging über das eines Cops hinaus, der ein Verbrechen aufklären wollte, doch das ergab keinen Sinn. Schließlich kannten sie sich doch erst seit zwei Tagen.
“Detective Bonney, darf ich Sie etwas fragen?”
“Natürlich, Sir.”
“Als Sie vorhin von meiner Enkelin sprachen, da nannten Sie sie Livvie.”
Treys Herz setzte einen Schlag lang aus. Es gab nichts, wofür er sich schämen musste. Eigentlich hätte er es gleich bei der ersten Begegnung sagen sollen. Langsam beugte er sich vor und sah Marcus an. “Tatsächlich?” entgegnete er. “Das war mir gar nicht aufgefallen. Aber es erstaunt mich nicht, immerhin habe ich sie auf der High School auch immer so genannt.”
Marcus’ Augen wurden größer. “Auf der High School? Sie und Olivia kennen sich seit der High School?” Er runzelte die Stirn. “Mich wundert, dass sie nie von Ihnen gesprochen hat.”
“Nun, zu der Zeit fanden Sie, ich sei kein Umgang für Ihre Enkelin. Sie wird sicher angenommen haben, dass Sie noch immer so über mich denken.” Mit einem Lächeln auf den Lippen zuckte er beiläufig die Schultern. “Aber das ist alles Jahre her, die Zeiten ändern sich, und die Menschen ändern sich schließlich auch, nicht wahr, Sir?”
Er versuchte, sich an eine Zeit zu erinnern, als er Olivia irgendetwas verboten hatte, und schüttelte schließlich den Kopf. “Sie müssen sich irren”, sagte er leise. “Ich wüsste nicht, dass ich jemals …” In diesem Moment kehrte die Erinnerung zurück. “Bonney! William Bonney! Natürlich … Trey. Jetzt weiß ich es wieder. Sie waren der Junge, der …”
“Der Ihre Enkelin geliebt hatte?” warf Trey rasch ein. “Ja, genau, der war ich.”
Marcus lehnte sich ungläubig zurück. “Ich hoffe, Sie tragen mir das nicht nach. Olivia war jung, und ich wollte sie nur beschützen.”
Für einige Sekunden sah Trey ihn nur schweigend an, dann lächelte er höflich. “Natürlich nicht, Sir. Wir waren damals noch Kinder. Wie ich bereits sagte, die Zeiten ändern sich und die Menschen ebenfalls. Aber Livvies … ich meine, Olivias Wohl ist mir nach wie vor wichtig. Ich nehme an, Sie können mir zumindest das zugestehen.”
Mit einem Mal schämte sich Marcus. Er wusste nicht warum, und er wusste auch nicht, was er sagen sollte, doch ihm war klar, er hatte es seinerzeit übertrieben. Olivia war so sehr von ihm behütet worden, dass es ihr gar nicht möglich gewesen war, eigenständig zu handeln. Dabei schmerzte es noch mehr, von ihr niemals Widerspruch gehört zu haben. In seinem Bemühen, sie zu beschützen, hatte er ihr die Möglichkeit genommen, eigene Entscheidungen zu treffen und dabei Fehler zu machen, aus denen sie hätte lernen können.
Entmutigt ließ er die Schultern sinken.
“Es tut mir Leid”, sagte er leise. “Natürlich können und sollen Sie das tun, was Sie für richtig halten. Mir war nicht klar … ich meine, ich wollte niemals …” Sein Blick war auf den Fußboden gerichtet, er verschränkte die Hände und musste schlucken, da seine Stimme versagte. “Wenn das hier vorüber ist, würde ich Sie gern in meinem Haus als Gast willkommen heißen. Wann immer Sie wollen.”
Trey konnte dem Mann anmerken, wie viel Überwindung es ihn gekostet hatte, sein damaliges Fehlverhalten einzugestehen. “Danke”, erwiderte er ruhig. “Wenn das hier vorüber ist.”
Nachdem sie beide wieder eine Weile geschwiegen hatten, fiel es Trey ein, Marcus nach dem Telefonat mit dem Kindermädchen zu fragen. “Sir”, begann er.
Der ältere Mann sah auf. “Sagen Sie bitte Marcus.”
Für einen Moment zögerte Trey, nickte dann aber. “Wenn Sie mich Trey nennen.”
“Einverstanden, Trey. Was wollten Sie fragen?”
“Der Anruf … konnten Sie das Kindermädchen erreichen?”
“Oh ja, zum Glück. Anna war entsetzlich aufgeregt, wie ich es erwartet hatte. Anna Walden war nicht nur Olivias Kindermädchen, sondern auch die einzige Mutterfigur, die meine Enkelin je hatte. Olivia fühlt sich ihr sehr verbunden, und sie war kurz vor dem … dem Zwischenfall sogar noch bei ihr gewesen.”
“Tatsächlich?” erwiderte Trey.
Marcus sah auf die Uhr. “Ich habe einen Wagen zu ihr geschickt, damit sie herkommen kann. Sie müsste bald eintreffen. Wenn Sie dann noch hier sind, werden Sie sie kennen lernen.”
“Ich werde ganz sicher noch hier sein”, gab Trey etwas schroff zurück. “Ich bleibe hier, bis ich weiß, dass es Livvie gut geht.”
“Ja, natürlich”, seufzte Marcus leise. “Ich meinte es nicht so … Ich weiß gar nicht mehr, was ich eigentlich meine und rede.” Er ließ den Kopf sinken, während er mit zitternder Stimme weitersprach: “Mein Gott, warum musste das bloß passieren? Warum musste das wieder passieren?”
Foster Lawrence ging wie in Trance durch die Straßen, seit er herausgefunden hatte, was mit dem Geld geschehen war. Er wusste nicht, wo er sich befand und wie er ins Hotel zurückkommen sollte, doch es kümmerte ihn auch nicht. Immer wieder dachte er über seine missliche Lage nach, und es gab einfach nichts, was er hätte unternehmen können. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte er sich von der Aussicht auf eine Million Dollar den Kopf verdrehen lassen und war dafür im Gefängnis gelandet. Sein Wissen, wo das Lösegeld versteckt war, half ihm durch die Zeit der Haft. Und jetzt war dieses Geld verschwunden. Das einzig Gute war, dass er sich im Moment als freier Mann bezeichnen konnte. Wie lange das jedoch so bleiben würde, stand auf einem anderen Blatt. Nach allem, was er gehört hatte, wollten ihn die Behörden noch immer befragen.
Im Gefängnis in Lompoc war er sicherer gewesen als jetzt und hier. Er wusste nicht, was es mit diesem toten Baby auf sich hatte, doch wenn es einen Zusammenhang zur Sealy-Entführung gab, konnte er sich schon jetzt ausrechnen, wem man die Schuld in die Schuhe schieben würde. Sein Problem war, dass er nicht wusste, wo er mit seiner Suche nach dem wahren Schuldigen beginnen sollte. Er hatte ja nicht mal eine Ahnung, ob der noch lebte.
Vielleicht sollte er sofort zur Polizei gehen und sich die Fragen stellen lassen, auf die man von ihm Antworten hören wollte. Rückblickend hätte er schon damals alles sagen sollen, doch sein Hass auf die Behörden und seine emotionale Bindung zum Mörder waren zu stark gewesen, um klar denken zu können. Das hatte ihn eine Million Dollar und fünfundzwanzig Jahre seines Lebens gekostet. Und jetzt lief er Gefahr, seine neugewonnene Freiheit abermals zu verlieren. Doch diesmal würde er nicht wieder für fünfundzwanzig Jahre in den Knast wandern. Kein Grund konnte so gut sein, um das zu rechtfertigen.
Vor einem Schaufenster blieb er stehen und starrte mit leerem Blick auf die eingeschalteten Fernsehapparate, große, flache Geräte, die kaum noch an Fernseher erinnerten. Auf einmal war auf den gut dreißig Bildschirmen die gleiche Eilmeldung zu sehen, die für Foster bedeutete, dass sein Leben sich ab jetzt noch etwas schwieriger gestalten würde.
Er las die Zeilen, die unter den Bildern eingeblendet wurden, und erfuhr, dass jemand versucht hatte, Olivia Sealy umzubringen, die inzwischen ins Dallas Memorial Hospital eingeliefert worden war.
Als eine andere Meldung folgte, wandte er sich ab und ging langsam weiter. Es wurde zwar allmählich Nacht, aber das kümmerte ihn nicht. Am liebsten wäre er immer weiter und weiter gelaufen, bis er Dallas und schließlich ganz Texas hinter sich gelassen und vergessen hatte.
Doch egal, wie weit er lief, er würde diesem Schlamassel nicht entkommen können. Jemand hatte heute versucht, Olivia Sealy umzubringen, und obwohl nicht klar war, wie schwer ihre Verletzungen waren, würde man seinen Namen in diesem Zusammenhang wieder und wieder erwähnen. Wenn er jetzt die Stadt verließ, würde er vielleicht bis an sein Lebensende auf der Flucht sein. Wenn er sich allerdings der Polizei stellte, bestand die Gefahr, für den Rest seines Daseins wieder hinter Gittern zu verschwinden. Er wusste nicht, was er machen sollte.
Ein Polizeiwagen mit eingeschalteter Sirene raste vorüber, und aus Gewohnheit drückte Foster sich in eine dunkle Ecke, um zu warten, bis der Wagen außer Sichtweite war. Als er wieder hervorkam, hielt ein Taxi an, um einen Fahrgast aussteigen zu lassen. Spontan stieg er ein, nannte dem Fahrer die Adresse und ließ sich zu seinem Hotel bringen. Was er unternehmen sollte, war ihm noch nicht klar. Aber wenigstens würde er diese Nacht in seinem Hotelzimmer in relativem Komfort und in Sicherheit verbringen können.
Trey und Marcus saßen zur gleichen Zeit im Krankenhaus und warteten darauf, etwas Neues über Olivias Zustand zu erfahren. Hinzu kam die Sorge, dass Anna Walden noch immer nicht eingetroffen war. Marcus war beunruhigt, doch er wollte seinen Platz so lange nicht verlassen, bis er erfahren hatte, wie es seiner Enkelin ging. Vor drei Stunden hatte man mit der Operation begonnen, und mit jeder Minute in Ungewissheit wuchs die Angst.
Als Trey bereits zu glauben begann, er würde jeden Moment den Verstand verlieren, kam am anderen Ende des Korridors mit einem Mal Unruhe auf. Er und Marcus sahen in dem Moment auf, als eine untersetzte, in Tränen aufgelöste Frau um die Ecke geeilt kam.
“Oh”, sagte Marcus. “Das ist Anna.” Er stand rasch auf und lief ihr entgegen, wobei ihm entging, dass sich aus der entgegengesetzten Richtung der Doktor näherte.
Trey dagegen sah den Mann und erhob sich sofort, während sich in der Magengegend ein flaues Gefühl regte. So sehr er wissen wollte, wie es Olivia ging, so sehr fürchtete er sich zugleich vor dem, was der Mediziner ihnen berichten würde.
“Gehören Sie zu Olivia Sealys Familie?” fragte der Arzt ihn.
“Ja”, log Trey ohne zu zögern. “Aber lassen Sie mich erst ihren Großvater dazuholen.” Er lief durch den Gang zu Marcus, nahm in der Eile jedoch von der Frau kaum Notiz. “Marcus, kommen Sie. Der Arzt will mit uns reden!”
“Oh ja, natürlich”, erwiderte er. “Kommen Sie, Anna, Sie werden das auch hören wollen.”
“Oh Gott, oh Gott … mein Baby … mein Baby”, jammerte Anna und ließ sich plötzlich gegen die Wand sinken.
Trey packte sie am Ellbogen, während Marcus sie auf der anderen Seite stützte. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, Anna durch den Gang zu führen. Trey sah, wie erregt und verwirrt die Frau war, doch das geriet sofort in Vergessenheit, als sich der Arzt ihnen zuwandte.
“Olivia hat die Operation hervorragend überstanden. Die Kugel traf sie von hinten in die Schulter und verletzte eine Arterie. In dem Moment, in dem der Schuss auf sie abgefeuert wurde, muss sie sich ein wenig zur Seite gedreht haben. Das Projektil ist unterhalb des Schlüsselbeins wieder ausgetreten.”
Trey kamen vor Erleichterung die Tränen, als er den Arzt reden hörte.
“Alle übrigen Verletzungen sind vergleichsweise harmlos. Dank Sicherheitsgurt und Airbag hat sie keine Knochenbrüche erlitten. Sie hat eine leichte Gehirnerschütterung, aber das ist nur normal, da sich ihr Wagen mehrfach überschlagen hat. Allerdings hat sie viel Blut verloren und musste eine Transfusion bekommen.”
Marcus sah entsetzt drein. “Benötigt sie noch mehr Blut? Ich spende gern, wir haben die gleiche Blutgruppe.”
“Ich spende auch”, meldete sich Trey zu Wort, fragte dann aber: “Welche Blutgruppe hat sie?”
“A negativ”, antwortete der Arzt. “Eine von den selteneren.”
“Oh, ich habe Null positiv.”
Anna schien wie aus einer Trance aufzuwachen und erklärte: “Ich kann spenden.”
“Welche Blutgruppe haben Sie?”
Wieder nahm sie diesen leicht verwirrten Ausdruck an. “Ich … ich weiß nicht. Aber ich kann ganz bestimmt helfen. Olivia ist mein kleines Mädchen. Ich habe sie großgezogen, müssen Sie wissen.”
Marcus tätschelte besänftigend ihren Arm. “Ja, das haben Sie, Anna, und ich wüsste nicht, was wir ohne Sie hätten tun sollen.”
“Aber ich will Blut spenden”, beteuerte sie.
Rasch mischte sich der Arzt ein: “Sie alle können gern spenden. Wir benötigen immer Blutkonserven.”
“Dann wäre das ja geklärt”, sagte Anna, nun wieder scheinbar ganz bei der Sache. “Meinem kleinen Mädchen wird es also wieder gut gehen, nicht wahr?”
“Ja, sofern keine Komplikationen eintreten, die wir jetzt noch nicht absehen können.”
“Ich möchte sie sehen”, erklärte Marcus.
“Ich komme mit.” Anna war von ihrem Platz innerhalb der Familie fest überzeugt.
Trey fühlte sich ausgeschlossen. So sehr er Olivia auch sehen wollte, war ihm doch klar, dass es nicht dazu kommen würde.
Aber Marcus deutete seinen Gesichtsausdruck richtig und sagte zu Treys Überraschung: “Detective Bonney kommt ebenfalls mit. Er ist ein alter Schulfreund von Olivia.”
Anna horchte auf und betrachtete Trey interessiert. “Sie kannten mein kleines Mädchen?”
“Ja, Ma’am, das ist richtig. Wir waren zusammen auf der High School.”
Sie machte eine nachdenkliche Miene, äußerte sich aber nicht weiter.
“Können wir jetzt zu ihr?” wollte Trey wissen.
“Sie ist noch nicht aufgewacht”, erläuterte der Arzt. “Was halten Sie davon, wenn wir uns zuerst um die Blutspenden kümmern? Danach können Sie dann zu ihr.”
“Gut, ich muss nur noch kurz telefonieren”, entgegnete Trey. “Ich komme gleich nach.”
Er entfernte sich von den anderen und rief Chia an. “Trey hier, hast du das Band?”
“Ja, wir haben mehrere Einstellungen, auf denen der Kerl gut zu sehen ist. Beim Sender kannte ihn niemand, aber wir durchsuchen gerade die Datenbank.”
“Wenn du seine Adresse findest, dann lass es mich wissen. Ich will dabei sein, wenn du ihn festnimmst.”
“Gibt es bei dem Fall irgendetwas, was du mir nicht gesagt hast?” fragte sie irritiert.
“Es ist etwas Persönliches”, antwortete er leise. “Gib mir einfach nur Bescheid.” Dann beendete Trey das Gespräch.