10. KAPITEL
Drei Tage waren seit Olivias Operation vergangen, drei Tage, die Treys Leben auf den Kopf gestellt hatten. Er war so in Sorge um sie gewesen, dass er völlig spontan reagiert hatte, als sie ihn um eine zweite Chance bat. Jetzt zählte er jede Stunde seines Arbeitstages bis zum Feierabend, bis er endlich zu ihr ins Krankenhaus zurückkehren konnte. Auch wenn sie die meiste Zeit schlief, genügte es ihm, sie beobachten zu können, wie sie dalag, ruhig atmete und sich von dem Anschlag erholte.
Zwar hatte Dennis Rawlins seine Verbrechen gestanden, doch seine geistige Verfassung war für den Richter Grund genug gewesen, eine umfassende psychologische Untersuchung anzuordnen. Vorübergehend war er in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen worden, was für Trey nichts anderes bedeutete, als dass der Mann für seine Morde nicht würde büßen müssen.
Eine Erkenntnis hatte Rawlins Festnahme zumindest erbracht. Zur Zeit der Entführung und der Morde an den Sealys war Rawlins vierzehn Jahre alt und in einer Militärakademie untergebracht gewesen, so dass es keine Verbindung zwischen seinem Mordversuch und dem ersten Verbrechen geben konnte.
Trey wusste, dass es hilfreich war, mögliche Verdächtige ausschließen zu können, doch es brachte ihn nicht wirklich weiter. Foster Lawrence wurde nach wie vor gesucht, aber das hatte keine Priorität für die Polizei, da man ihm lediglich einige Fragen stellen wollte. Abgesehen davon war Trey ohnehin davon überzeugt, dass Lawrence sich längst abgesetzt hatte, falls er überhaupt hergekommen war. Ihm blieb für den Moment nichts anderes übrig, als auf die DNS-Ergebnisse und auf die Ankunft von Terrence und Carolyn Sealy aus Mailand zu warten. Wenn sich auch daraus nichts ergeben sollte, dann steckte er endgültig in einer Sackgasse.
Angesichts dieser entmutigenden Perspektive wollte er sich noch einmal die Dinge ansehen, die sich im Koffer mit der Kinderleiche befunden hatten. Vielleicht war ihnen irgendein Detail entgangen, das sie auf eine andere Fährte bringen konnte.
Trey war mit seinen Gedanken ganz bei der Arbeit. Als er sich zur Asservatenkammer begab, warf der diensthabende hagere Sergeant ihm einen neugierigen Blick zu, als er sich eintrug.
“Hey, Bonney, hast du wieder mal eine Frau aus einer misslichen Lage gerettet?” fragte der Mann.
“Was ist los mit dir, Bodine? Eifersüchtig?” gab Trey zurück.
“Nein, bin ich nicht”, entgegnete Bodine. “Es war nur eine Frage.”
Trey grinste ihn an. Er wusste, dass Russell um jede Frau, die nicht seine eigene war, einen weiten Bogen machte. Jeder bei der Polizei kannte seine Frau Peggy, und jeder wusste auch von dem Messer.
In sechs Monaten würde Russell Bodine pensioniert werden, er war seit fast vierzig Jahren verheiratet, und das einzige Mal, dass er seine Frau betrogen hatte, war es bekannt geworden, noch bevor er nach Hause gekommen war. Er hatte sich ins Bett fallen lassen und war wieder aufgewacht, als er in seinem Schritt die kalte Klinge eines Messers spürte.
Wortlos begann Peggy, ihm mit dem Messer die Schamhaare zu rasieren, während er sie anflehte, sie möge ihm nicht wehtun. Er versprach ihr hoch und heilig, ihr nie wieder untreu zu werden, wenn sie ihm bloß seine Männlichkeit beließ. Das tat sie auch, allerdings sorgte sie dafür, dass er sein Versprechen nie vergaß. Das Letzte, was er jeden Abend sah, bevor er das Licht im Schlafzimmer ausmachte, war eben jenes Messer, das gegenüber seinem Bett an der Wand hing.
“Was brauchst du denn?” fragte Russell, während er Trey die Tür aufschloss.
“Die Sachen aus dem Koffer vom Lake Texoma, der mit dem toten Kind.”
Russell schüttelte den Kopf und ging zwischen den Regalen vor ihm her. “Muss schon ein richtiger Mistkerl gewesen sein, der einem Baby so etwas antut”, sagte er und zog einen Karton hervor, den er auf einem Tisch abstellte. “Brauchst du die Sachen länger?”
“Ich weiß nicht mal, ob ich sie überhaupt brauche. Wenn das Labor bei den DNS-Tests nicht findet, haben wir gar nichts in der Hand. Von daher möchte ich nur sicher gehen, dass wir nicht doch vielleicht etwas übersehen haben.”
“Na, dann viel Glück”, gab Russell zurück und fügte an: “Meine Bemerkung vorhin war übrigens nicht so gemeint.”
“Ist schon okay”, sagte Trey.
Russell wandte sich ab, ging wieder nach vorn und ließ Trey mit der Kiste allein. In ihr befand sich der Koffer, ferner lagen vier kleine Plastikbeutel darin, die beschriftet und mit Datum versehen waren. Vier Überreste eines jungen Lebens, das viel zu früh ausgelöscht worden war.
Er betrachtete aufmerksam den Koffer, kam jedoch zum gleichen Schluss wie vor ihm Jenner. Der Koffer sah aus wie Tausende andere, die in den siebziger Jahren verkauft wurden, und wies kein Detail auf, das geholfen hätte, den damaligen Eigentümer zu identifizieren. Trey stellte ihn zur Seite und widmete sich den Plastikbeuteln.
Im ersten von ihnen befand sich eine einzelne Socke, die gerade mal so lang war wie sein Zeigefinger. Ursprünglich musste sie weiß gewesen sein, hatte jetzt aber eine schmutzige Färbung angenommen. Am oberen Rand war ein kleiner gelber Punkt zu sehen. Bei genauem Hinsehen kam Trey zu der Ansicht, dass es sich um den Rest einer gelben Ente handeln musste, die aufgestickt worden war. Es brachte ihn aber nicht weiter.
Der zweite Beutel enthielt ein kleines, rosafarbenes Nachthemd. An der Schulter und über den Rücken verteilt waren mehrere dunkle Flecken zu sehen, vermutlich getrocknetes Blut. Er strich über die Stelle, an der das Labor ein Stück Stoff herausgeschnitten hatte, um diese Flecken genauer zu untersuchen. Ihm fiel auf, dass das Etikett abgetrennt worden war, doch aus Erfahrung wusste er, viele Menschen taten das, weil diese oftmals kratzten. Er selbst machte das bei jedem neuen T-Shirt, daher war das Fehlen kein Indiz, das auf den Täter hätte hindeuten können.
Er legte den Beutel zur Seite und griff nach dem dritten, der zugleich der größte war, da sich in ihm ein Großteil einer Babydecke befand. Der Stoff hatte einen blassen Roséton und war verschmutzt, außerdem waren die ausgefransten Überreste einer Einfassung aus Satin zu erkennen. Es gab kein Herstelleretikett und keinerlei Merkmale, die ihm irgendwie hätten helfen können, das tote Baby zu identifizieren.
Auch die Decke legte er weg und widmete sich dem vierten und letzten Beutel. Das Holzkreuz darin war schätzungsweise dreißig Zentimeter groß und eindeutig handgemacht. Er holte es heraus und suchte vergeblich nach einem Hinweis auf den Künstler, der es angefertigt hatte.
Er drehte es um und betrachtete die sechs Worte, die in das Holz eingebrannt worden waren.
Nun ruht sie bei den Engeln
Was sollte das heißen? Hatte jemand das Kind umgebracht und danach dieses Kreuz hergestellt? Oder war es dem Mörder nur zufällig in den Sinn gekommen, das Kreuz in den Koffer zu legen? Ihm schauderte bei dem Gedanken, jemand sei einerseits abgebrüht genug, ein Baby zu töten, in einen Koffer zu stecken und einzumauern, andererseits aber so mitfühlend, dass er ein religiöses Symbol mitgab.
Frustriert packte er alles wieder in die Kiste und ließ die auf dem Tisch stehen, damit Russell sie wieder an den richtigen Platz zurückstellte.
Der sah erstaunt auf, als Trey mit leeren Händen nach vorn kam. “Nichts gefunden?”
Trey schüttelte den Kopf.
“Zu schade”, meinte Russell. “Ich hoffe, du bekommst den Mistkerl zu fassen.”
“Oh ja, ich auch”, erwiderte er. “Danke für deine Hilfe. Und grüß Peggy von mir.”
Russell verzog den Mund. “Peggy ist im Moment sauer auf mich.”
“Sauer genug, um das Messer von der Wand zu nehmen?” fragte Trey.
Russell hasste es, dass jeder auf dem Revier von der Geschichte mit dem Messer wusste, aber er konnte es den anderen nicht verübeln, wenn sie darauf zu sprechen kamen. Immerhin war er so dumm gewesen, sich zu betrinken und ihnen allen davon zu erzählen. Kein Wunder, wenn sie ihn nun alle damit aufzogen.
“Nein, so sauer nicht, aber es reicht, dass ich wohl versuchen muss, mich mit Schmuck bei ihr einzuschmeicheln. Peggy mag Schmuck, musst du wissen.”
“Und was hast du angestellt?”
“Den Rasen gemäht und dabei irgendeine von den Blumen abgeschnitten, die sie gehegt und gepflegt hat. Das Ding sah aus wie ein verdammtes Unkraut, also bin ich mit dem Rasenmäher drüber, weil sie sich sonst immer aufregt, wenn irgendwo was stehen bleibt, was da nicht hingehört.”
Trey grinste.
“Manchmal ist es sauschwer, einer Frau alles recht zu machen”, murmelte Russell. “Du lebst allein, und wenn du klug bist, dann sorgst du dafür, dass es auch so bleibt.”
Er musste an Olivia denken und schüttelte den Kopf. “Ich glaube, manchmal lohnt es sich, das Risiko einzugehen.”
Russell dachte einen Moment lang nach, dann nickte er zustimmend. “Ja, könntest Recht haben. Sag mir Bescheid, wenn ich dir noch irgendwie helfen kann.”
“Wird gemacht”, entgegnete Trey und ging fort.
Olivia saß auf der Bettkante. Sie presste den Mund zusammen, um den Schmerz zu unterdrücken, der mit der Bewegung aufgekommen war. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Ihre linke Schulter war dick verbunden, den Arm trug sie in einer Schlinge. Im rechten Handrücken steckte die Nadel, an die der Infusionsschlauch angeschlossen war, so dass sie sich kaum irgendwo hätte festhalten können, wenn sie aufgestanden wäre. Dazu würde es aber so schnell ohnehin nicht kommen, da sie noch zu unsicher auf den Beinen war. Als Folge der Gehirnerschütterung hatte sie starke Kopfschmerzen, und ihre Unterlippe war nach wie vor ein wenig angeschwollen. Das Einzige, was sie essen konnte, ohne vor Schmerz zusammenzuzucken, waren Dinge wie Pudding und Eiscreme, obwohl sie beides allmählich leid war.
Vom Bett bis zum Badezimmer waren es nur ein paar Schritte, aber der Weg kam ihr unendlich weit vor. Sie wollte schon nach der Krankenschwester klingeln, als die Tür aufging und Trey hereinkam.
“Livvie, Sweetheart”, rief er besorgt und eilte zu ihr. “Was machst du denn da? Warum klingelst du nicht, damit jemand herkommt?”
“Ich wollte nur ins Badezimmer”, murmelte sie und begann gleich darauf zu weinen.
“Oh, Honey, nicht doch”, sagte er und nahm sie in seine Arme. “Ich helfe dir. Kannst du den Infusionsständer selbst schieben, oder soll ich das machen?”
“Ja, das kann ich schon”, erwiderte sie und unterdrückte einen Schluchzer.
Im Badezimmer angekommen wartete er lange genug, bis er sicher war, dass sie nicht fallen würde. “Kann ich dich ab hier allein lassen?” wollte er wissen.
Sie mied seinen Blick und nickte nur.
“Das ist schon okay”, sagte er leise. “Dafür sind Freunde da.”
Mit Tränen in den Augen sah sie hoch zu ihm. “Sind wir Freunde, Trey? Richtige Freunde?”
Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange, da ihre Lippe zweifellos noch schmerzte. “Ja, Baby … richtige Freunde. Ich warte vor der Tür. Wenn du so weit bist, rufst du mich, dann bringe ich dich zurück ins Bett.”
Nach einigen Minuten hörte er die Toilettenspülung, dann rief er: “Livvie?”
Die Tür ging auf, und sie kam mit unsicheren Schritten zurück ins Zimmer.
“Komm her, Darling.” Er hob sie hoch und trug sie zum Bett, während sie den Infusionsständer vor sich her schob.
Augenblicke später lag sie wieder im Bett, Trey nahm den Waschlappen vom Nachttisch und wischte ihr über das Gesicht und die Hände, wobei er darauf achtete, nicht an die Nadel zu kommen.
Olivia weinte noch immer, ohne einen Laut von sich zu geben. Der Anblick der Tränen, die ihr über die Wangen liefen, war einfach zu viel für ihn.
Er nahm ein Taschentuch, tupfte die Tränen ab, dann beugte er sich spontan vor und küsste sie auf den Mund.
Es war eine sanfte Berührung, die erste seit elf Jahren, doch ihm kam es so vor, als habe es diese elf Jahre nie gegeben. Diese Sehnsucht nach ihr war so vertraut wie der Klang ihrer Stimme, wenn sie seinen Namen aussprach. Als er sich wieder aufrichtete, öffnete Olivia die Augen. Noch immer glänzten sie von ihren Tränen.
“Oh, Trey”, flüsterte sie und streckte ihre Hand nach ihm aus.
Er ergriff sie und küsste sie zart.
“Was geschieht gerade?” wollte Livvie wissen.
“Meinst du, was hier und jetzt geschieht, oder was in der Welt allgemein passiert?”
“Beides.”
“Was das Hier und Jetzt angeht, ist es so, dass ich mich gerade wieder in dich verliebe. Was die Welt im Allgemeinen angeht, na ja … da könnte man wohl sagen, dass es schon mal besser lief.”
“Tatsächlich?” fragte Olivia. “Du verliebst dich wieder in mich?”
Sein Blick verfinsterte sich, doch er konnte sie nicht belügen.
“Ja.”
Sie versuchte ein Lächeln, doch die Tränen wollten nicht versiegen.
“Das sollte dich eigentlich freuen”, murmelte Trey, als er wieder nach einem Taschentuch griff und ihre Wangen trockentupfte.
“Ich bin ja gar nicht traurig. Es rührt mich nur, dass du mir vergeben kannst.”
Trey seufzte. “Ach, Livvie … wir waren doch noch Kinder. Ich habe dich damals wirklich geliebt, aber wenn wir beide es zusammen versucht hätten, wäre es schief gegangen. Das weißt du so gut wie ich.”
“Vielleicht.” Dann drehte sie sich so, bis sie ihm ins Gesicht sehen konnte. “Hast du mal darüber nachgedacht, dass wir uns vielleicht niemals wiedergesehen hätten, wenn nicht dieses arme kleine Baby gefunden worden wäre?”
“Ja, das habe ich. Weißt du, was ich glaube?”
Sie sah ihn fragend an.
“Ich glaube, Dinge geschehen aus einem bestimmten Grund, und zwar dann, wenn sie geschehen sollen. Letzte Woche hätte ich mir nicht träumen lassen, dich je wiederzusehen. Vor ein paar Tagen warst du dann auf einmal wieder da, und ich hätte dich fast wieder verloren – und das alles in nur vierundzwanzig Stunden. Als ich von deinem Unfall hörte … ich kann dir nur sagen, ich möchte niemals wieder so empfinden müssen wie in dem Augenblick.”
“Weißt du, was ich dachte, als sich mein Wagen das erste Mal überschlug?”
“Sag es mir”, bat er sie.
“Ich dachte, wie glücklich ich sein darf, die Liebe meines Lebens nicht nur einmal, sondern zweimal zu finden, und wie dumm ich sein muss, dass ich sie beide Male verliere. Ich wünschte mir, ich hätte dich nicht verlassen. Und ich wünschte mir, ich müsste nicht sterben.”
“Du wirst auch nicht sterben, dafür sorgen hier ganz viele Leute.”
“Du gehörst zu den Leuten”, erwiderte sie. “Ich habe die Schwestern reden gehört. Der Mann, der auf mich geschossen hat …”
“Was ist mit ihm?”
“Er war hier, nicht wahr? Er kam noch am gleichen Abend her, um sein Werk zu vollenden.”
Trey seufzte. Früher oder später musste sie von dem Zwischenfall erfahren, jedoch wäre es ihm lieber gewesen, wenn das noch eine Weile gedauert hätte.
“Ja, er war hier. Aber er konnte dir nichts tun, das habe ich verhindern können.”
“Ich weiß”, sagte Olivia. “Du hast mir das Leben gerettet.”
Er reagierte mit einem Schulterzucken.
“Was ist mit dem Mann? Ist er im Gefängnis?”
“Rawlins ist hinter Schloss und Riegel, er wird weder dir noch sonst jemandem je wieder gefährlich werden.”
“Und nun? Was ist mit dem Baby?”
“Der Fall kommt nicht voran. Und das bereitet mir Kopfzerbrechen. Ich habe das Gefühl, dass ich es dem Mädchen schuldig bin.”
“Und die DNS-Tests? Wann bekommst du da Resultate?”
“Keine Ahnung. Ich habe darum gebeten, dass die Proben möglichst schnell bearbeitet werden, aber so etwas braucht seine Zeit. Außerdem muss Terrence Sealy auch noch getestet werden.”
Olivia nickte.
“Was ist eigentlich zwischen ihm und deinem Großvater vorgefallen?” wollte Trey wissen.
Sie legte die Stirn in Falten, dann antwortete sie: “Weißt du, bis zu dem Tag, an dem du gesagt hast, dass er zurück in die Staaten kommt, wusste ich gar nicht so genau, dass zwischen ihnen Streit herrscht. Ich kann mich daran erinnern, wie mein Großvater davon sprach, sie würden zu Feiertagen nach Hause kommen, also an Thanksgiving, Weihnachten und so weiter. Aber ich war zu jung, ich kann mich nicht daran erinnern. Ich glaube, sie zogen schon vor der Entführung nach Italien.” Einen Moment lang dachte sie nach, dann fügte sie an: “Tante Carolyn ist deutlich jünger als Onkel Terrence.”
“Wie viel jünger?”
“Ich bin mir nicht sicher, aber zwanzig Jahre Unterschied dürften es bestimmt sein. Sie ist etwa so alt, wie mein Vater heute wäre.”
Ein Gedanke ging Trey so schnell durch den Kopf, dass er ihn beinahe ignoriert hätte, doch dann fragte er: “Sag mal, Honey, kannst du dich eigentlich daran erinnern, ob dein Großvater an Weihnachten oder Thanksgiving jemals von deinen Eltern sprach? Du weißt schon, Bemerkungen in der Art, wie sehr sie ihm fehlen? Oder hat er von ihnen erzählt?”
“Nein. Niemand hat in meiner Gegenwart jemals von meinen Eltern gesprochen.”
“Wieso nicht?”
“Ich glaube, sie hatten Angst, das könnte bei mir Erinnerungen wecken. Aber in Wahrheit ist es so, dass ich mich überhaupt nicht an sie erinnern kann. Weder an ihre Gesichter noch an irgendwas, was wir gemeinsam unternommen haben.”
Auf einmal wurde ihre Miene ernst, und Olivia begann, nervös an der Decke zu ziehen.
“Findest du, das ist seltsam?” fragte sie. “Meinst du nicht auch, ich müsste mich doch wenigstens an irgendeine Sache erinnern?”
Trey bemerkte ihren ängstlichen Blick und verfluchte sich dafür, dass er das Thema angeschnitten hatte. Sie musste sich auf ihre Genesung konzentrieren, sie durfte sich nicht in Zweifeln ergehen, ob sie womöglich bei der falschen Familie aufgewachsen war.
“Nein, das ist gar nicht seltsam. Ich kenne niemanden, der sich an Dinge erinnern kann, die er in dem Alter erlebt hat”, widersprach er.
Olivia seufzte leise.
“Was ist los? Rede mit mir.”
“Ich kann mich nur an Anna, Grampy und Rose erinnern.”
“Und deswegen glaubst du, du hättest davor woanders gelebt? Willst du dir einreden, den Sealys wurde das falsche Kind zurückgegeben?”
Sie sah zur Seite.
“Ja? Ist es das?” bohrte er nach.
Wieder zog sie an der Decke. Trey sah, wie ihre Hände zitterten.
“Livvie … Darling … was immer geschehen ist, es war nicht deine Schuld. Du warst … und du bist das unschuldige Opfer.”
“Ich weiß, aber …”
“Nein, kein Aber. Außerdem musst du immer eine Sache bedenken.”
Sie sah ihm in die Augen, die von seiner Liebe zu ihr erfüllt waren.
“Denk stets daran, dass es egal ist, wer du vielleicht einmal warst, aber für mich warst du immer Livvie. Ich habe dich damals geliebt, und ich verliebe mich gerade noch einmal in dich. Du wirst immer meine Livvie sein, verstehst du?”
“Ach, Trey, ich habe dich eigentlich gar nicht verdient, aber ich bin so froh, dass du wieder in meinem Leben bist.”
“Ja, Baby, mir geht es genauso”, antwortete er sanft, und als er sie diesmal küsste, erwiderte sie den Kuss.
Die Berührung ihrer Lippen war zart, ihr Atem auf seiner Haut noch zarter. Trey dachte zurück an ihren heftigen, unregelmäßigen Atem, als sie sich geliebt hatten, an die Art, wie sie sich im Moment des Höhepunkts an ihn gepresst hatte. Es war die pure Leidenschaft gewesen, lange bevor ihnen beiden das Herz gebrochen wurde. Er wollte sie wieder lieben, er wollte Olivia als Frau genauso kennen, wie er sie als Mädchen gekannt hatte.