3. KAPITEL

Treys Bericht war für Lieutenant Warren Grund genug, die Ermittlungen fortzusetzen. Es gab jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte, um eine Verbindung zwischen dem Skelett vom Lake Texoma und der Sealy-Entführung herzustellen. Warren war aber davon überzeugt, dass hier kein Zufall im Spiel sein konnte.

Sheriff Jenner hatte unterdessen eine Ergänzung zu seinem Bericht nach Dallas gefaxt und den Koffer mitsamt den Knochen ans Police Department geschickt. Damit lag nun eine komplette Liste aller Vorbesitzer des Hauses vor, und die Eigentümer, die zum Zeitpunkt der Ermordung des Kindes dort gewohnt hatten, waren identifiziert. Zwar bewies das nicht, dass das Kind auch in dem Haus umgekommen war, doch es war immerhin ein Anfang.

Zumindest schien das so, bis sich Warren den Bericht vornahm. Denn der Eigentümer zu der Zeit – David Lehrman – war bereits ein Jahr vor der Sealy-Entführung bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, und seine Frau Carol war gleich danach zurück nach Boston gezogen. Drei Jahre lang stand das Haus leer, bis Mrs. Lehrman es endlich versteigern ließ.

Damit wurde der Kreis der Verdächtigen keineswegs enger gezogen, denn in diesen drei Jahren konnte sich jeder Zutritt zum Haus verschafft haben. Als würde das nicht genügen, hatte Lieutenant Warren auch noch die Reportermeute am Hals, die unbedingt etwas erfahren wollte.

Schon jetzt wurde Tag für Tag in den Medien die alte Geschichte vom Mord an Olivias Eltern während der Entführung durchgekaut, und in jedem Bericht betonte man, wie sehr diese Ereignisse Marcus Sealy zu schaffen gemacht hatten. Es folgten Fotos und Filmaufnahmen von der Verhaftung von Foster Lawrence und natürlich vom Gerichtsverfahren gegen ihn. Erst gestern hatte der Fall eine ganz neue Wendung genommen, da einer der Reporter auf die Idee gekommen war, sich näher mit Lawrence zu befassen. Dass der erst vor kurzem aus der Haft entlassen worden war, nährte weitere Spekulationen, mit denen sich Warren auch noch befassen durfte.

Es war nicht auszuschließen, dass er nach Dallas kam, um das Lösegeld an sich zu nehmen, das man nie gefunden hatte. Eine Million Dollar mochten es durchaus wert sein, für fünfundzwanzig Jahre ins Gefängnis zu gehen.

Warren hatte ein ungutes Gefühl. Es wurde höchste Zeit, mit Marcus und Olivia Sealy zu reden. Er griff nach dem Telefonhörer.

In der vergangenen Nacht hatte Trey kaum geschlafen, und wenn es ihm doch einmal gelungen war, dann verfolgte ihn in seinen Träumen das Mädchen, in das er sich auf der High School hoffnungslos verliebt und das ihm das Herz gebrochen hatte. Seit Olivias Erklärung, es sei für sie beide besser, getrennte Wege zu gehen, war er ihr nicht mehr begegnet. Zu der Zeit war für ihn der Gedanke unerträglich gewesen, sie könnte sich mit einem anderen Mann treffen. Keine andere Frau war ihm seitdem jemals so unter die Haut gegangen wie Olivia. Dass ihn nur noch zehn Autominuten quer durch Dallas von einem Wiedersehen mit ihr trennten, hätte zweitrangig sein müssen, da er sie aus dienstlichen Gründen befragen musste. Doch das Gegenteil war der Fall, und er fühlte sich so nervös wie schon lange nicht mehr.

Auch Dennis Rawlins war nervös, allerdings mehr aus Vorfreude. Nicht mehr lange, dann würde die Welt wissen, was die Sealys mit dem toten Kind zu tun hatten. Ihm war es gleich, dass er dabei die Wahrheit verdrehte. Er brauchte den Protest als Ventil, um seinen Seelenfrieden zu wahren.

Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Olivia Sealy bedroht. Sie war einer Sache ausgesetzt, die sie nicht kontrollieren konnte. In ihrem Herzen fühlte sie, dass sie dort war, wo sie hingehörte. Sie kannte die Familienfotos, die Ähnlichkeit zu ihren Eltern konnte niemand leugnen. Die Augen hatte sie von ihrem Vater, ebenso das Lächeln, wie ihr Großvater immer wieder beteuerte. Trotzdem fiel es ihr schwer, die zeitliche Nähe zum Tod des Mädchens zu ignorieren. Das Gleiche galt auch für die Anomalie, die sie gemeinsam hatten. Sie betrachtete die kleine Narbe an ihrer linken Hand und rieb geistesabwesend über die Stelle, an der sich früher einmal der zusätzliche Daumen befunden hatte. Es war so gut wie unmöglich, diese Übereinstimmungen als Zufälle abzutun, doch sie musste glauben, dass nicht mehr hinter der Angelegenheit steckte.

Und nun würde auch noch ein Detective des Dallas Police Department vorbeikommen und Fragen zu ihrer Entführung stellen, an die sie sich nicht erinnern konnte.

Sie sah auf die Uhr, es war fast zehn. Zeit, sich fertig zu machen. Der Detective sollte nicht unnötig warten. Und je eher sie seine Fragen beantwortete, umso schneller würde dieser Albtraum enden. Mit einem leisen Seufzer zog sie ihre Schuhe an, drehte sich zum Spiegel und überprüfte ein letztes Mal ihr Aussehen.

Olivia war ein Stück größer als ihre Mutter – Marcus hatte ihr das gesagt –, aber ihr Vater war deutlich hoch gewachsener als sie selbst gewesen. Als sie an ihn dachte, wurde sie traurig, da ihr all die Jahre fehlten, die sie so gern mit ihren Eltern verbracht hätte. Dann aber kam sie sich egoistisch vor, so etwas zu denken, schließlich hatte sie immer noch Grampy.

Als sie die Bluse glattstrich und gedankenverloren wahrnahm, wie gut das Moosgrün zu der rostfarbenen Hose passte, musste sie sich unwillkürlich fragen, weshalb sie sich so viele Gedanken über ihre Kleidung machte. Die war doch nicht der Grund, weshalb der Detective zu ihr kam. Sie schluckte, da sie einen Kloß im Hals hatte, während sie gegen das Gefühl ankämpfte, jeden Moment in Tränen ausbrechen zu müssen.

In diesem Moment ging die Türglocke.

“Hoffentlich geht das ohne Probleme über die Bühne”, murmelte sie und ging zur Treppe.

Rose öffnete bereits die Tür, als Olivia sich dem Fuß der Treppe näherte. Der Mann trat ein, und fast gleichzeitig schien alles nur noch in Zeitlupe abzulaufen.

Oh mein Gott! Trey? Trey Bonney?

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie ihren Großvater, der aus der Bibliothek kam und auf den Mann im Foyer zuging. Die Sonne fiel durch das bogenförmige Bleiglasfenster über der Eingangstür und zeichnete ein buntes Muster auf den blaugemaserten Marmorboden, das etwas von einem Gemälde von Monet hatte. Olivias Herz schien langsamer zu schlagen, während Erinnerungen wach wurden.

“Trey, ich habe solche Angst.”

Es geht mir nicht anders, Livvie. Ich fürchte, ich könnte etwas verkehrt machen oder dich enttäuschen. Und ich weiß, es wird für dich schmerzhaft sein.”

Sie verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, während sie ihm voller Leidenschaft in die Augen sah. Ein Dutzend Mal waren sie diesem Moment so nahe gewesen, und immer wieder hatten sie kurz davor einen Rückzieher gemacht. Miteinander zu schlafen, war eine große Sache, die noch bedeutender wurde, wenn es das erste Mal war. Olivia war noch Jungfrau, und Trey wusste das.

Ich höre sofort auf, Livvie. Du musst es nur sagen, dann höre ich auf.”

Olivia bekam eine Gänsehaut. “Nein, Trey, ich will es … ich will dich. Ich liebe dich doch so sehr.”

Sie spürte, wie ein Beben durch Treys Körper ging, als er sich vorbeugte, um sie zu küssen.

Olivia Sealy, du bist mein Ein und Alles.”

Sie seufzte, und dann gab sie sich dem Unausweichlichen hin.

Rose schloss hinter Trey die Tür und riss Olivia aus ihren Gedanken. Wie in Trance ging sie weiter und ertastete mit der Schuhspitze die nächste Stufe. Wegschauen wollte sie nicht, da sie fürchtete, Trey könnte sich in Luft auflösen. Am Fuß der Treppe angekommen, blieb sie stehen und dachte an die endlosen Nächte, in denen sie im Traum seine dunklen Augen und dieses markante, schiefe Lächeln gesehen hatte. Was hatte er mit diesem Chaos zu tun, das über ihr Leben hereingebrochen war?

Trey ertappte sich dabei, dass er gebannt den Atem anhielt, als er klingelte. Erst als die Tür aufging und er eine Frau sah, die die Haushälterin zu sein schien, riss er sich endlich zusammen.

“Mein Name ist Detective Bonney. Ich möchte zu Mr. Sealy, bitte.”

Rose ging zur Seite und ließ ihn eintreten. “Ah, Detective. Er erwartet Sie bereits.”

“Ich bin schon da”, meldete sich Marcus zu Wort, der durch den Flur geeilt kam und Trey rasch die Hand schüttelte, ehe er sich zu Rose umdrehte: “Danke, Rose. Bringen Sie uns bitte Kaffee in die Bibliothek.”

“Ja, Sir. Bin gleich da.”

Marcus war die Freundlichkeit in Person, als er wieder Trey ansah. “Detective Bonney?”

Er nickte und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie absurd diese Situation war. Das war der Mann, der Olivia den Umgang mit Trey verboten hatte, weil er und seine Familie für die Sealys nicht gut genug waren. Und nun war ausgerechnet er hier, um ein Urteil über die Wahrheit von Marcus Sealys Vergangenheit zu fällen, der sich ganz offensichtlich weder an Trey selbst noch an seinen Namen erinnern konnte.

“Ja, ich bin Detective Bonney. Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen. Ich weiß, daß Sie und Ihre Familie es im Moment nicht leicht haben.”

Marcus lächelte ihn weiter freundlich an, doch seine Augen verrieten, dass es nur Fassade war. “Ich bin froh, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, die Identität dieses Kindes herauszufinden.”

“Danke”, sagte Trey. “Ich werde versuchen, es so kurz wie möglich zu machen.”

Schließlich stieß der ältere Mann einen Seufzer aus und ergab sich in sein Schicksal. “Kommen Sie mit, Detective Bonney. In der Bibliothek können wir uns besser unterhalten.”

Als Marcus sich umdrehte, sah er Olivia am Fuß der Treppe stehen.

“Olivia … Darling”, sprach er leise. “Ich wusste nicht, dass du da bist. Das hier ist Detective Bonney. Detective … meine Enkelin, Olivia Sealy.”

Sie war blass und zitterte am ganzen Leib. Besorgt über ihre Verfassung legte Marcus einen Arm um ihre Schultern und nahm Olivia mit in die Bibliothek. Dass sie kein Wort mit dem Besucher gewechselt hatte, war ihm nicht aufgefallen.

In dem Moment, als Trey in Olivia Sealys Gesicht sah, schienen die letzten elf Jahre wie weggewischt. Er verspürte wieder diese Panik wie an dem Tag, an dem sie sich von ihm getrennt hatte. Damals war er sich nicht sicher gewesen, wie er ohne sie leben sollte. Was er jetzt dachte, war ihm nicht klar. Er wusste nur, das Wiedersehen hätte besser unter anderen Umständen stattgefunden.

Olivia war immer ein hübsches Mädchen gewesen, doch die letzten elf Jahre hatten aus ihr eine atemberaubende Schönheit gemacht. Nach ihrer Miene zu urteilen, war sie allerdings nicht sehr erfreut darüber, ihn wiederzusehen.

Olivia konnte keinen klaren Gedanken fassen, seit sie Trey ins Haus hatte kommen sehen. Dass er der Detective war, auf den sie gewartet hatten, wollte sie kaum glauben. So viele Jahre lang waren sie sich nicht mehr begegnet, Jahre, in denen sie immer wieder von Schuldgefühlen geplagt worden war, weil ihr der Mut gefehlt hatte, sich gegen ihren Großvater zu behaupten und für ihre Liebe zu kämpfen. Der Streit, der über Trey entbrannt war, zählte zu den schlimmsten Zeiten ihres Lebens.

Marcus war der festen Ansicht gewesen, sie sei noch zu jung für eine romantische Beziehung. Außerdem sei der Junge nicht standesgemäß. Immer wieder hatte sie versucht, ihren Willen durchzusetzen, doch am Ende kam sie der Forderung ihres Großvaters nach und trennte sich von Trey. Sie wusste, sie tat ihm damit weh, während er vermutlich nicht glaubte, dass sie ebenso darunter litt. Bis zum heutigen Tag verglich sie jede neue Beziehung mit den Gefühlen, die sie für Trey empfunden hatte, und bislang war ihr kein Mann begegnet, der es mit ihm hätte aufnehmen können.

Und nun war er durch eine Laune des Schicksals hergekommen, um ihren Großvater zu dem toten Kind zu befragen. Aber er hielt es doch sicher nicht für möglich, dass einer von ihnen etwas mit dieser schrecklichen Tat zu tun haben könnte, oder?

Sie wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte, als ihr Großvater sie ansprach, seinen Arm um sie legte und sie mit in die Bibliothek nahm. Sie fürchtete sich vor dem Blick, den er ihr womöglich zuwerfen würde, sobald er sie sah. Wenn Trey noch immer wütend auf sie war, dann besaß er jetzt die Macht, ihr und ihrem Großvater das Leben schwer zu machen.

Marcus nahm nichts von ihren Bedenken wahr, sondern ließ Olivia Platz nehmen und bat Trey, sich in den Sessel gleich neben ihr zu setzen.

Einen Augenblick herrschte Schweigen, das sich dann so sehr in die Länge zog, bis es Trey vorkam, als dürfe niemand diese Stille stören. Während Marcus mit einigen Papieren auf seinem Schreibtisch befasst war, wagte Trey einen Blick zu Olivia.

Sie sah blass aus, und ihre Augen waren auf einen Punkt oberhalb des Kamins gerichtet. Ob sie wegen des toten Mädchens so aufgewühlt war, oder ob es damit zusammenhing, dass er der Cop war, der sie befragen würde, vermochte er nicht zu sagen. Doch das war auch nicht von Bedeutung, denn er hatte seine Arbeit zu erledigen, und je eher das geschah, desto früher konnte er gehen. Schließlich kam Marcus zu ihnen und setzte sich zu seiner Enkelin aufs Sofa. Trey sah mit an, wie der alte Mann Olivias Hand sanft drückte und sich dann zurücklehnte.

“Nun, Detective, wie kann ich Ihnen behilflich sein?”

“Ich muss Ihnen einige Fragen stellen”, antwortete er und zog einen Notizblock aus der Tasche. Dass die damaligen Eigentümer des Hauses nichts mit dem Tod des Kindes zu tun haben konnten, darüber herrschte Einigkeit, dennoch durfte er keine Spur außer Acht lassen. “Kannten Sie mal ein Ehepaar namens David und Carol Lehrman?”

“Nein, wieso?” gab Marcus ohne Zögern zurück. “Wer sind diese Leute?”

“Sind Sie sich ganz sicher? Das ist immerhin Jahrzehnte her.”

Unüberhörbar ungehalten konterte Marcus: “Ich bin alt, aber nicht senil. Jedenfalls noch nicht. Wenn ich sage, ich kenne sie nicht, dann kenne ich sie auch nicht.”

Sichtlich verärgert über die von Trey geäußerten Zweifel wollte Olivia etwas hinzufügen, doch ihr Großvater schüttelte wortlos den Kopf. Es kostete sie all ihre Zurückhaltung, zu schweigen.

Er hörte den Sarkasmus in Marcus’ Stimme, und er fühlte die Wut dieses Mannes. Doch Olivias Großvater war nicht der Einzige, der Grund hatte, um wütend zu sein. Da war dieser Koffer mit den Knochen eines toten Kindes, und beim Gedanken daran konnte Trey kein Mitgefühl mit einem Mann haben, dem es lediglich zu viel war, ein paar Fragen zu beantworten.

Äußerlich konnte man Trey nichts von diesem Zorn anmerken, doch sein Tonfall war deutlich gereizt. “Hören Sie, Mr. Sealy. Es tut mir sehr Leid, wenn es Sie stört, einige Fragen gestellt zu bekommen. Aber mich stört es noch viel mehr, dass jemand ein totes Kleinkind in einen Koffer gesteckt und eingemauert hat und dass offenbar niemand in den letzten fünfundzwanzig Jahren dieses Kind vermisst hat. Mich stört es, dass jemand glaubt, er sei ungeschoren mit einem Mord davongekommen.”

“Sie haben natürlich Recht, Detective Bonney”, gab Marcus betreten zurück. “Entschuldigen Sie mein Verhalten. Es ist nur so, dass Olivia und ich seit Tagen von Journalisten bestürmt werden, und allmählich ist meine Geduld erschöpft. Aber ich sollte das nicht an Ihnen auslassen. Es tut mir Leid.”

Trey zuckte mit den Schultern und nickte verstehend. “Ich bin selbst auch ein wenig gereizt. Was halten Sie davon, wenn wir einfach noch mal von vorn anfangen?”

“Einverstanden.”

Als er Olivia ausatmen hörte, hätte er sich am liebsten ihr zugewandt, doch das wagte er nicht. Stattdessen konzentrierte er sich auf sein Notizbuch und sah wieder zu Marcus.

“Sie hatten nur ein Kind, stimmt das?”

Marcus nickte bedächtig. “Ja, einen Sohn. Michael.”

“Und er und seine Frau Kay hatten ebenfalls nur ein Kind?”

“Ja, meine Enkelin Olivia.”

Vorsichtig sah Trey in ihre Richtung. Sie saß auf der äußersten Kante des Sofas, die Hände in den Schoß gelegt, die Miene angespannt. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hätte sie ihn wohl am liebsten geohrfeigt.

“Sonst noch jemand? Irgendwelche Cousins oder Cousinen? Jemand, der ein Kind hatte, das damals genauso alt war wie Liv… wie Ihre Enkelin?”

Der alte Mann stieß einen von Herzen kommenden Seufzer aus und stützte die Ellbogen auf seine Knie. “Früher waren die Sealys zahlreich, doch drei Kriege und diverse Naturkatastrophen haben ihren Preis gefordert. Ich habe eine Cousine zweiten Grades, aber sie ist Nonne, womit von ihr natürlich kein Nachwuchs zu erwarten ist. Ich hatte einen Bruder, der homosexuell war. Mit neunundzwanzig nahm er sich in einem Hotel in Paris das Leben, nachdem sein Geliebter ihn verlassen hatte. Damit blieben nur meine jüngere Schwester und ich, um unsere Familie fortbestehen zu lassen. Mit meiner Frau hatte ich nur den einen Sohn, und meine Schwester hat nie geheiratet, auch wenn ich mir sicher bin, dass sie zu ihrer Zeit vielen Männern das Herz gebrochen hat.”

“Wo lebt sie?” wollte Trey wissen.

“Zusammen mit einem Dutzend Katzen in einem alten Leuchtturm vor der Küste von Maine”, antwortete er grinsend. “Sie malt den Leuchtturm und verkauft die Bilder an Touristen. Kein Ehemann, keine Kinder.”

“Was ist mit Onkel Terrence und Tante Carolyn?” warf Olivia ein.

Marcus schüttelte den Kopf. “Sie hatten nie Kinder.”

Trey hielt inne. Die Anspannung war dem Tonfall des alten Mannes anzuhören, während seine Miene gelassen wirkte. “Wo leben die beiden?” fragte er schließlich.

“Schon seit Jahren in Italien.”

“Seit wie vielen Jahren?”

“Ich weiß nicht … ach so, auf jeden Fall seit über fünfundzwanzig Jahren. Ich bin sicher, sie lebten schon nicht mehr hier, als Olivia entführt worden ist. Terrence ist übrigens nicht mein Bruder, sondern ein Cousin.”

“War bei ihm die gleiche genetische Besonderheit aufgetreten wie bei den anderen Sealys?”

“Was? Oh, Sie meinen den überzähligen Daumen?”

Trey nickte.

“Vermutlich ja”, erwiderte Marcus nachdenklich.

“Wo haben sie gelebt, bevor sie nach Italien auswanderten?”

“Bei seiner Familie nördlich von Sherman.”

Er notierte die Angaben, während er sich die Landkarte vorstellte. Sherman lag gut eine Autostunde vom Lake Texoma entfernt, vielleicht sogar etwas weniger, abhängig davon, welcher Teil des Sees das Ziel war.

“Können Sie mir ihre Telefonnummer und ihre Adresse geben?”

Marcus runzelte die Stirn. “Ich habe zwar eine Nummer und eine Adresse, aber ich weiß nicht, wie aktuell beides ist. Wir haben schon seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt.”

“Gibt es dafür einen Grund?” wunderte sich Trey.

“Wir hatten nie viel füreinander übrig”, erklärte er. “Sie kennen sicher den Spruch, dass man sich seine Freunde aussuchen kann, aber nicht seine Familie. Die beiden sind nach Italien gezogen, kurz nachdem Terrence sein Geschäft in den Sand gesetzt und sich seinen Ruf ruiniert hatte.”

“Wieso ausgerechnet Italien?”

“Carolyns Familie hatte dort ein Ferienhaus, das sie von ihrem Vater erbte. Ich vermute, es war die ideale Wahl, um sich abzusetzen.”

“Ich muss die Adresse trotzdem haben”, beharrte Trey.

“Ja, natürlich.” Marcus stand auf und ging zum Schreibtisch, nach kurzer Suche kam er mit einer Karte zurück.

Trey notierte die Angaben, dann gab er ihm die Karte wieder. “Mr. Sealy, das ist eine sehr persönliche Frage, aber ich muss sie Ihnen stellen. Sie sind seit vielen Jahren verwitwet, richtig?”

“Ja”, antwortete er. “Aber worauf wollen Sie hinaus?”

“Es wäre nichts Ungewöhnliches, wenn Sie in dieser Zeit eine intime Beziehung zu einer anderen Frau gehabt hätten.”

Marcus lief rot an, wahrte aber seine Fassung. “Das mag so sein, wie Sie es sagen, aber es gab keinerlei Beziehung.”

“Dann können Sie mit Sicherheit ausschließen, dass Sie nicht noch ein Kind gezeugt haben?”

Seine Finger hielten krampfhaft die Armlehne des Sofas fest. “Ja, Detective, das kann ich ausschließen.”

Trey sah zu Olivia, die aufgebracht wirkte. Was er als Nächstes fragen musste, würde sie nicht besänftigen. “Als Ihre Enkelin entführt wurde …”, begann er vorsichtig.

“Ja?” fragte Marcus gereizt.

“Sie war sieben Tage lang verschwunden, richtig?”

Er nickte.

“Sind Sie sich hundertprozentig sicher, dass die Entführer Ihnen dasselbe Kind zurückgaben, das sie entführt hatten?”

Olivia schnappte nach Luft, dann stand sie abrupt auf, doch Marcus nahm ihr Handgelenk und zog sie an sich. Er lächelte sie besänftigend an und warf Trey einen wütenden Blick zu.

“Ich kenne mein eigen Fleisch und Blut, Detective. Ich denke, das war dann alles.”

Trey klappte sein Notizbuch zu und steckte es weg. Sie beide hatten nun eindeutig genug von ihm, aber er war noch nicht fertig. “Fast, Mr. Sealy. Es gibt da nur noch eine Sache, um die ich Sie bitten muss.”

“Und das wäre?”

“Wir benötigen DNS-Proben von Ihnen und Olivia.”

Sie drehte sich um, bis sie Trey ins Gesicht sehen konnte. Seit er das Haus betreten hatte, war es das erste Mal, dass sie sich wirklich ansahen. Der Schmerz, der sich in ihren Augen widerspiegelte, war fast zu viel für ihn.

“Ich kann nicht fassen, was …”, begann Marcus, doch sie unterbrach ihn rasch.

“Nein, Grampy, das ist schon in Ordnung. Es macht mir nichts aus, vor allem wenn es uns dann endlich diese Leute vom Hals hält.”

Trey zuckte innerlich zusammen, da ihm klar war, wen sie mit “diese Leute” meinte.

“Wir werden morgen unseren Hausarzt informieren, damit er alles weitere veranlasst”, erklärte Marcus daraufhin.

“Tut mir Leid, Sir, aber wegen der Schwere des Falls muss der Test in einer von unseren Einrichtungen vorgenommen werden.”

“Wo sollen wir hinkommen, Detective Bonney?” fragte Olivia.

“Ich werde Sie beide zum Labor fahren.”

“Das können wir auch selbst machen”, sagte Marcus.

“Nein, Sir. Ich muss Sie zum Labor begleiten.”

“Und wenn wir das nicht wollen?” fuhr Olivia ihn daraufhin an.

Ihre Wut war so unbändig, dass jedes ihrer Worte wie eine schallende Ohrfeige bei ihm ankam. Dabei war es nicht seine Schuld, dass er ihr solche Unannehmlichkeiten bereiten musste. Jeder andere hätte genau das Gleiche getan.

“Hören Sie”, entgegnete Trey und versuchte trotz der persönlichen Anfeindung professionelle Gelassenheit zu wahren. “Das ist nicht meine Idee, und es ist auch nicht meine Schuld. Ich führe lediglich eine Anweisung meines Vorgesetzten aus, und dazu gehört, dass ich beweise oder widerlege, ob es Verbindungen zwischen Ihnen und dem toten Kind gibt. Ich werde Sie beide morgen früh um zehn Uhr abholen, ins Labor fahren und wieder nach Hause bringen. Mit etwas Glück werden Sie mich danach nie wiedersehen.”

In dem Moment kam Rose mit einer Kaffeekanne und drei Tassen auf einem Tablett in die Bibliothek. Trey nickte ihr höflich zu und sagte: “Ma’am, es tut mir Leid, aber ich werde auf den Kaffee verzichten müssen. Trotzdem vielen Dank für die Mühe.”

Die Haushälterin, die nichts von der gereizten Stimmung im Raum wahrnahm, lächelte ihn an. “Dann vielleicht nächstes Mal.”

Marcus stand auf, als Trey zur Tür ging. “Machen Sie sich keine Mühe”, murmelte er. “Ich finde schon allein raus.”

Auch wenn ihm die Begegnung mit dem Detective gar nicht gefiel, wollte Marcus nicht unhöflich sein. “Olivia, Darling”, sagte er. “Würdest du Detective Bonney bitte zur Tür begleiten?”

Sie wollte es nicht, aber ein Nein hätte ihren Großvater nur misstrauisch gemacht, und dann hätte sie ihm Dinge erzählen müssen, an die sie ihn nicht erinnern wollte.

“Selbstverständlich”, antwortete sie, ging an Trey vorbei und blieb nur einmal kurz stehen, um sich zu vergewissern, dass er ihr auch folgte.

Als sie sah, wie er sich auf die Unterlippe biss, wusste sie, dass er sich in ihrer Gegenwart genauso unbehaglich fühlte wie umgekehrt. Sie schwieg beharrlich, doch als sie an der Haustür ankamen, kämpfte sie vergeblich mit den Tränen.

Trey seufzte bei diesem Anblick und fuhr sich durchs Haar. “Livvie … hör zu”, sagte er.

Niemand außer ihm hatte sie je so genannt. Der Name brachte zu viele traurige Erinnerungen zurück. “Trey … ich wusste nicht, dass …”

Er hob eine Hand und unterbrach sie leise: “Es ist schon okay, ich verstehe es.” Dann aber verzog er einen Mundwinkel. “Nein, das stimmt eigentlich nicht. Ich verstehe es nicht. Bestenfalls kann ich erahnen, was ihr beide gerade durchmacht. Es tut mir Leid, wenn ich so schmerzhafte Erinnerungen heraufbeschwören muss, aber wenn du das Haus gesehen hättest … und den Koffer … und seinen Inhalt …” Wieder seufzte er. “Irgendjemand hat ein kleines Kind ermordet, Livvie, und ich werde alles tun, damit er seine gerechte Strafe bekommt.”

“Ich weiß”, erwiderte Olivia. “Das verstehen wir ja auch. Aber es macht mir solche Angst. Jede Frage von dir bedroht meine Existenz … meine Identität. Außerdem hatte ich nicht damit gerechnet, den Detective persönlich zu kennen, der sich um den Fall kümmert.” Sie atmete durch und fügte an: “Es tut mir Leid.”

Trey zuckte mit den Schultern. “Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest.”

“Oh doch, das gibt es. Ich war zuvor nicht stark genug, aber ich werde es dir jetzt sagen, wenn auch Jahre zu spät.”

“Hör auf, Livvie. Das ist so lange her. Du musst nicht …”

“Ich war ein Feigling”, erklärte sie und hob trotzig das Kinn. “Ich wusste nicht, wie ich mich gegen meinen Großvater durchsetzen sollte. Ich fühlte mich immer schuldig, dass man mich entführt hatte.”

“Wieso schuldig?”

“Weil Grampy dadurch seinen einzigen Sohn verlor. Ich gab seinen Forderungen nach, obwohl ich es gar nicht wollte. Mir war nicht klar, was ich dadurch verlieren würde.” Sie stieß einen Seufzer aus. “Ich kann nur sagen, es tut mir Leid. Ich weiß, es ist lange her. Aber ich wäre froh, wenn ich wüsste, dass du es mir nicht nachträgst.”

Trey hätte sie am liebsten in die Arme genommen, begnügte sich aber mit einem Händedruck. “Ich trage dir nichts nach”, sagte er leise. “Ich hole euch morgen um zehn Uhr ab.”

“Wir werden rechtzeitig fertig sein”, versprach sie und öffnete ihm die Tür.

Auf der Schwelle blieb Trey stehen und drehte sich um. “Du musst dir keine Gedanken machen. Ich werde deinen Großvater nicht daran erinnern, wer ich bin und was zwischen dir und mir war. Das gehört der Vergangenheit an, okay?”

Olivia nickte, auch wenn sie ihm zu gern widersprochen hätte. Ihre Erinnerungen an ihn verband sie nur mit Liebe und Leidenschaft – und mit der Erkenntnis, dass er für sie nie der Vergangenheit angehören würde.

Schulterzuckend erwiderte sie: “Zum Teil ja. Aber solange wir nicht wissen, wer das tote Mädchen war und wer es auf dem Gewissen hat, wird die Vergangenheit uns nicht in Ruhe lassen.”

Es gab nichts, was Trey hätte sagen können, um ihr Mut zu machen. Darum verließ er schweigend das Haus und stieg in seinen Wagen ein. Als er die Auffahrt hinunterfuhr, sah er in den Rückspiegel und bemerkte, dass Olivia noch immer in der offenen Tür stand. Er hätte schwören können, dass sie weinte.