11. KAPITEL

Anna gewöhnte sich besser an Rose, als Marcus es sich hätte träumen lassen. Und so konnte er Olivia guten Gewissens versichern, dass es Anna gut ging. Der geistige Verfall ihres einstigen Kindermädchens machte seiner Enkelin sehr zu schaffen, und so wie er selbst wurde sie von Schuldgefühlen geplagt, dass sie sich so lange Zeit nicht mehr um Anna gekümmert hatte. Worüber er jedoch nicht sprach, das war die bevorstehende Ankunft seines Cousins Terrence.

Marcus dachte zurück an das, was in der Familie über Terrence’ Vater gesagt worden war. Der war das schwarze Schaf der Sealys gewesen, und Terrence hatte das sehr wohl gewusst.

Damals lernten Marcus und Terrence auf einer Party ein Mädchen namens Amelia Fisher kennen, beide verliebten sich in sie, doch sie entschied sich für Marcus. Als sie beide zwei Jahre später heirateten, blieb Terrence der Hochzeitszeremonie fern.

Als Marcus und Amelia ihre Flitterwochen verbrachten, brach sie auf einmal in Weinkrämpfe aus und gestand ihm unter Tränen, dass Terrence sie im Vollrausch am Abend vor der Hochzeit vergewaltigt hatte. Der Schock und die Scham darüber waren zu groß, als dass sie irgendjemandem davon hätte erzählen können. Marcus war zunächst fassungslos, dann wurde er wütend genug, um Terrence umbringen zu können. Noch während er Amelia versicherte, er gebe ihr nicht die Schuld und er werde sie so oder so für alle Zeit lieben, plante er bereits seinen Rachefeldzug gegen Terrence.

Seine Geduld und Liebe sorgten dafür, dass sie ihre Flitterwochen glücklich verbringen konnten, auch wenn jeder Gedanke an Terrence ihn innerlich rasend vor Wut machte. Als sie schließlich wieder zu Hause ankamen, hielt Marcus es nicht länger aus.

Eines Nachts – Amelia war bereits eingeschlafen – schlich er sich aus dem Haus und fuhr zu Terrence’ Apartment. Mit dem Ersatzschlüssel, der unter einer Topfpflanze im Flur versteckt war, gelangte er unbemerkt in die Wohnung und schloss leise die Tür hinter sich ab.

Terrence lag im Bett und wachte auf, als er Schritte im Flur hörte. Noch bevor Marcus in der dunklen Türöffnung auftauchte, wusste er bereits, wer in sein Apartment eingedrungen war. Einerseits hatte er sich vor diesem Moment so sehr gefürchtet wie vor nichts anderem in seinem Leben, auf der anderen Seite war er aber fast schon erleichtert, dass es so weit war. Nachdem er nämlich seinen Rausch ausgeschlafen und begriffen hatte, was er getan hatte, war er voll des Ekels über sich selbst. Doch es war längst zu spät, noch etwas zu ändern.

Nun erwartete ihn seine gerechte Strafe, und er war froh darüber. Er schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf, als Marcus das Zimmer betrat.

“Es tut mir Leid”, sagte er leise. “Es tut mir wirklich Leid.” Mehr brachte er nicht heraus.

Mit geballter Faust holte Marcus aus und schlug Terrence auf den Mund. Der Aufprall hallte in seinem Kopf wie das Knallen einer Peitsche nach, Blut verteilte sich in seinem Mund. Ehe Terrence aufstehen konnte, packte Marcus ihn an den Haaren und zerrte ihn aus dem Bett.

“Du Hurensohn!” presste Marcus heraus. Seine Stimme bebte vor unbändiger Wut. “Du bist es nicht wert, als Mensch bezeichnet zu werden, du bist ein Tier, nichts weiter. Dir sollte es Leid tun, dass du überhaupt geboren wurdest!”

Die Worte schmerzten mehr als der Treffer in sein Gesicht, doch er konnte nicht widersprechen, denn es stimmte, was Marcus sagte.

Dann traf ihn der nächste Schlag.

Terrence versuchte, sich zur Wehr zu setzen, doch gegen die Wut seines Cousins konnte er nicht ankommen. Die Fausthiebe nahmen kein Ende, während Marcus seinem Zorn freien Lauf ließ. Möbel wurden umgeworfen, Lampen zertrümmert. Als Terrence bereits glaubte, er würde das nicht überleben, war es auf einmal vorbei.

Marcus taumelte ein paar Schritte nach hinten, dann drückte er den Rücken durch und straffte die Schultern. Aus einer Platzwunde über dem Auge lief Blut über sein Gesicht, seine Lippen waren blutig und geschwollen. Er hatte sich zwei Finger gebrochen und einen Knöchel ausgerenkt. Die Hände waren so angeschwollen, dass er keine Faust mehr machen konnte, und anstelle dieser unbändigen Wut verspürte er einen schrecklichen Verlust, denn in dieser Nacht war die Einheit ihrer Familie unwiederbringlich zerstört worden.

Um Amelias Ruf und Stolz zu wahren, entschied er, nie wieder ein Wort über das Geschehene zu verlieren, doch die Kluft zwischen ihnen wäre niemals mehr zu kitten. Terrences schändliche Tat würde immer zwischen ihnen stehen.

Als er heimkam, wartete Amelia bereits an der Tür auf ihn. Sie sah das Blut in seinem Gesicht und an den Händen, und sofort begann sie zu weinen. In jener Nacht wurde kein Wort gewechselt, doch langsam schien Amelia sich zu erholen. War sie bislang ernst und verschlossen gewesen, begann sie auf einmal wieder zu lachen. Marcus’ Tat gab ihr offenbar das Gefühl, dass er für Gerechtigkeit gesorgt hatte.

Jahre später war es ausgerechnet Amelia, die sich dafür einsetzte, dem erbitterten Schweigen zwischen den beiden Cousins ein Ende zu setzen. Als Terrence Carolyn heiratete, erklärte sie Marcus, diese offene Feindschaft müsse beigelegt werden. Sie wollte nicht, dass Carolyn darunter litt, von einer Familie ausgeschlossen zu werden, in die sie gerade erst eingeheiratet hatte. Wider jede Vernunft gab er Amelias Wunsch nach.

Olivias Geburt war ein Ereignis, das von der Familie groß gefeiert wurde, und Terrence machte sich voller Stolz den Titel des Onkels zu eigen, obwohl er nur ein Cousin war. Als er und seine Frau dann wegzogen, war Marcus erleichtert, auch wenn es nichts an den Erinnerungen änderte, mit denen er leben musste. Manchmal liefen die alten Bilder immer noch wie ein Film vor seinem inneren Auge ab.

So viele Jahre waren seitdem vergangen, doch er hasste diesen Mann noch immer. Er hatte gehofft, ihn nach dem Wegzug nach Italien nie wiedersehen zu müssen. Durch die Entdeckung des toten Babys war diese Hoffnung nun zunichte gemacht worden. Marcus dachte unwillkürlich darüber nach, ob Terrence wohl der Vater dieses Kindes war. Zumindest würde es eine Menge erklären. Nach dem, was dieser Mann Amelia angetan hatte, war Marcus davon überzeugt, Terrence könnte auch seine Ehefrau betrogen haben. Allerdings konnte er sich nicht dazu durchringen, in seinem Cousin einen potentiellen Mörder zu sehen, erst recht keinen, der sein eigenes Kind umbrachte. Er hatte Olivia nach allen Regeln der Kunst verwöhnt, bis er schließlich ihr liebster Verwandter geworden war – abgesehen natürlich von ihrem Grampy. Aber damals war sie auch noch ein kleines Kind gewesen. Terrence und Carolyn waren fortgezogen, noch bevor die Entführung geschah.

Und morgen würden diese beiden in sein Leben zurückkehren. Es war fast mehr, als Marcus ertragen konnte, zumal er jeden Tag mit all diesen schrecklichen Erinnerungen zu Olivia ins Krankenhaus ging.

Olivia saß auf einem Stuhl und sah den beiden Krankenschwestern zu, wie die das Bettzeug wechselten. Ihr Geplapper nahm sie kaum wahr. Erst als Treys Name fiel, horchte sie auf. Immer wieder hatte sie bruchstückhaft etwas darüber mitbekommen, wie heldenhaft er gewesen war, aber sie wollte die ganze Geschichte hören.

“Entschuldigung, aber was haben Sie da gerade eben über Detective Bonney gesagt?” warf sie ein.

Die kleinere, rothaarige Krankenschwester verdrehte amüsiert die Augen. “Sie meinen, abgesehen von der Tatsache, dass er ein solcher Schatz ist?”

Olivia grinste sie an. “Ja, abgesehen davon.”

“Ach, wir sprachen nur gerade darüber, wie er den Kerl geschnappt hat, der im Materialraum das Feuer gelegt hatte.”

“Der Mann, der mich umbringen wollte?” fragte Olivia.

Die Schwester nickte, dann schilderte sie äußerst lebhaft, wie Trey den Mann überwältigt hatte. “Das war wie in einem Actionfilm”, fügte sie dann noch an.

Olivia lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie hatte den Mann gesehen, das wahnsinnige Aufblitzen in seinen Augen bemerkt. Dass er es bis in dieses Zimmer geschafft hatte und ihrem Leben fast ein Ende gesetzt hätte, war ein schrecklicher Gedanke. Ohne Treys Einschreiten wäre es ihm gelungen, seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Ein paar Minuten später waren die Schwestern fertig. “Möchten Sie sich wieder hinlegen?” fragte die Rothaarige.

“Nein, ich glaube, ich bleibe lieber noch eine Weile hier sitzen.”

“Der Doktor meint, Sie können morgen zurück nach Hause”, merkte die Schwester an. “Sie sind bestimmt froh darüber, aber Sie haben sich auch gut erholt, wissen Sie?”

“Ja, ich weiß”, entgegnete Olivia. “Ich habe großes Glück gehabt.”

“Oh ja, das haben Sie, Honey. Sie müssen einen sehr aufmerksamen Schutzengel haben … abgesehen natürlich von diesem Detective, den ich zum Anbeißen finde.”

Olivia lächelte, obwohl ihr nicht danach war. Der Stress der letzten zwei Wochen holte sie nun allmählich ein, und kaum hatten die Krankenschwestern das Zimmer verlassen, begann sie wieder zu weinen. Zum ersten Mal in ihrem Leben war ihr bewusst geworden, wie schnell alles vorüber sein konnte. Sie und ihr Großvater hatten eben noch ein privilegiertes Leben im Luxus geführt, und nur einen Tag später wurde ihre ganze Vergangenheit in den Zeitungen ausgebreitet. Noch bevor sie das hatte verarbeiten können, versuchte jemand, sie umzubringen – und das gleich zweimal. Sie wollte wieder ihr sicheres Leben zurückhaben.

Schweren Herzens verließ Marcus den Aufzug und zwang sich, durch den Flur zu Olivias Zimmer zu gehen. Er musste dieses Gefühl eines drohenden Unheils in den Griff bekommen, doch wie er das anstellen sollte, wusste er nicht. Das Interesse der Medien, die polizeilichen Ermittlungen und die Rückkehr unerwünschter Verwandter war mehr, als er bewältigen konnte. Ein Teil von ihm wünschte sich, er könnte mit Olivia noch einmal diese Reise nach Europa unternehmen, allerdings dieses mal ohne Rückflugticket.

Hinzu kamen die Sorgen um Anna. Ihre Anwesenheit in seinem Haus hätte ihm eigentlich normal erscheinen sollen, schließlich war sie sechzehn Jahre lang Mitglied dieses Haushalts gewesen, ehe sie mit einer großzügigen Pension, einem Haus und einem Auto in den Ruhestand gegangen war. Doch ihre schlechte geistige Verfassung machte Marcus nur noch mehr zu schaffen, der mit Olivias Zustand und den ständigen Nachfragen der Medien bereits mehr als genug belastet war.

Und dann waren da noch seine Gewissensbisse, die Olivias Leben angingen. Er wusste nicht, worüber er sich mehr ärgern sollte – darüber, dass er jeden Mann vergrault hatte, an dem sie jemals interessiert gewesen war, oder darüber, dass sie es wortlos hingenommen hatte. Erst jetzt wurde ihm allmählich bewusst, wie sehr Olivia ihr Leben lang von Schuldgefühlen heimgesucht worden sein musste. Aus irgendeinem Grund gab sie sich die Schuld am Mord an ihren Eltern und an ihrer eigenen Entführung. Eine solche Denkweise ergab zwar keinen Sinn, aber Schuld war auch selten ein rationales Gefühl.

Er dachte an Terrence und Carolyn, die bald eintreffen würden, und fragte sich, ob es tatsächlich eine Verbindung zwischen den Sealys und dem Mord an einem Kind geben konnte. Wenn ja, wer war dann dieses kleine Mädchen gewesen?

An der Tür zu Olivias Zimmer angekommen, verdrängte er diese düsteren Gedanken. Sie brauchte seine positive Unterstützung, nicht noch mehr Probleme. Doch als er eintrat, wurde ihm klar, dass sie selbst auch keinen guten Tag hatte.

Olivia zitterte am ganzen Körper, so heftig schluchzte sie. Sie bekam nichts davon mit, dass ihr Großvater ins Zimmer kam. Erst als sie seine Stimme hörte, sah sie auf.

“Olivia, Darling! Was ist los? Ist etwas passiert?”

Sie versuchte, sich zusammenzureißen, aber dafür war es längst zu spät. “Ach, Grampy … es ist alles so schrecklich.”

Sanft zog Marcus sie vom Stuhl hoch und drückte sie an sich. “Ich weiß, mein Darling, ich weiß. Aber alles wird wieder besser werden.”

“Aber ich weiß nicht, wie ich das alles aushalten soll. Jedes Mal, wenn jemand ins Zimmer kommt, den ich nicht kenne, frage ich mich, was derjenige von mir denkt. Jemand wollte mich umbringen, und dann ist da noch das arme Baby. Letzte Nacht habe ich geträumt, ich bin in dem Koffer, und ich weine und weine, aber niemand kommt, um mich zu retten.”

Marcus stöhnte leise auf. “Oh, Sweetheart, das ist alles viel zu viel für dich. Du weißt, du warst nicht in diesem Koffer. Und ich hätte alles gegeben, wenn dieser Verrückte nicht hinter dir, sondern hinter mehr her gewesen wäre. Ich wünschte, ich könnte dir beweisen, dass du meine Enkelin bist. Aber ich kann dir nur immer und immer wieder sagen, was ich glaube. Du bist meine Enkelin. Du hast an nichts Schuld, und du bist das Opfer gewesen. Morgen bringe ich dich zurück nach Hause, wo du hingehörst.”

“Ich möchte jetzt gehen”, erklärte Olivia. “Ich will hier nicht noch eine Nacht verbringen. Hier habe ich Angst, die Augen zuzumachen, weil wieder ein Verrückter hereinkommen könnte, der das zu Ende führt, was der andere Mann nicht geschafft hat.”

“Ich werde mit dem Arzt reden”, versprach er ihr. “Wenn er dich noch nicht entlassen will, dann werde ich einen Wachdienst beauftragen, damit niemand hereinkommt, der hier nichts zu suchen hat.”

Olivia drückte sich an ihren Großvater und weinte noch immer ungehemmt, als Trey ins Zimmer kam.

Seit er die Auswertung der DNS-Proben erhalten hatte, war ihm unwohl bei dem Gedanken, Olivia zu besuchen. Anstatt für Klarheit zu sorgen, hatten die Ergebnisse die Verwirrung nur noch größer werden lassen. Als er im Haus der Sealys anrief, um mit Marcus zu sprechen, erfuhr er, dass der bereits auf dem Weg ins Krankenhaus war. So sehr Trey sich innerlich auch sträubte, den beiden gegenüberzutreten, war er doch dankbar dafür, den Sachverhalt nur einmal erklären zu müssen.

Sofort war er zum Krankenhaus gefahren. Am Abend zuvor hatte er Olivia noch gesehen, und da war es ihr gut gegangen. Umso erstaunter war er, sie nun in Tränen aufgelöst vorzufinden.

“Was ist passiert?” rief er besorgt und eilte zu ihr.

Marcus schüttelte den Kopf. “Es ist alles in Ordnung. Ihr geht es gut, jedenfalls in körperlicher Hinsicht.”

Erleichtert strich Trey ihr über den Hinterkopf und berührte sie dann an der Schulter.

“Honey, wir müssen uns unterhalten”, erklärte er.

Als sie sich zu ihm umdrehte, verließ ihn der Mut. Wenn sie so bestürzt war, wie sie aussah, würden seine Neuigkeiten alles nur noch schlimmer machen.

“Was gibt es denn?” wollte sie wissen.

“Die DNS-Ergebnisse sind eingetroffen.”

Olivia versteifte sich, als würde sie sich gegen einen Schlag in die Magengegend wappnen. “Und?”

“Du bist zweifelsfrei eine Sealy”, begann er. “Das lässt sich eindeutig beweisen.”

“Gott sei Dank”, seufzte sie und schwankte leicht.

Ehe Marcus sie festhalten konnte, hatte Trey sie bereits in den Arm genommen und brachte sie zurück zum Bett.

“Leg dich hin, Livvie, du bist ja kreidebleich.”

Erst als sie ihren Kopf auf das Kissen sinken ließ, merkte Olivia, wie sehr sie zitterte. Ihr brach der kalte Schweiß aus, während es ihr vorkam, als würde sich das Bett um sich selbst drehen.

“Mir geht’s gut”, murmelte sie, kniff aber die Augen zu, bis das Schwindelgefühl nachließ.

“Es geht dir nicht gut”, widersprach Marcus. “Du bist schon viel zu lange auf, und unsere Unterhaltung war auch nicht gut für dich.”

Trey sah aufmerksam zwischen den beiden hin und her, wollte aber nicht fragen, was Marcus damit meinte.

“Es ist vorbei, nicht wahr, Trey?” fragte sie. “Michael und Kay Sealy sind tatsächlich meine Eltern, stimmt’s?”

Einen Moment lang zögerte er. Was er zu sagen hatte, würde alles nur noch verworrener machen. “Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber du bist eindeutig Marcus’ Enkelin.”

Beide sahen sie ihn irritiert an. “Was soll das heißen?” fragte Marcus.

“Olivias DNS und die DNS des toten Babys zeigen, dass die beiden mit Ihnen verwandt sind.”

Der alte Mann stand sprachlos da. “Mein Gott”, flüsterte er schließlich und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl sinken.

“Ich verstehe das nicht”, sagte Olivia.

“Michael”, murmelte ihr Großvater.

Trey atmete erleichtert auf, dass er Marcus nicht die Bedeutung dieser Erkenntnis erklären musste.

Der schien auf dem Stuhl in sich zusammenzusinken, aber Olivia verstand noch immer nicht.

“Würde mir freundlicherweise jemand erklären, was hier los ist?” verlangte sie aufgebracht.

Trey setzte sich auf die Bettkante und legte eine Hand auf ihren Arm, während er sich wünschte, es ihr irgendwie schonender beibringen zu können. “Michael und Kay Sealy hatten eine Tochter namens Olivia.”

“Ja, das bin ich”, erwiderte sie.

“Nicht unbedingt.” Trey mied es, ihr in die Augen zu sehen. “Du und das tote Baby, ihr hattet beide denselben Vater, aber nicht dieselbe Mutter. Ohne eine DNS-Probe von Kay Sealy können wir nicht beweisen, wer wer ist.” Er sah zu Marcus. “Lebt noch irgendjemand von Kays Familie?”

“Nicht dass ich wüsste.”

“Das macht es natürlich noch etwas komplizierter”, meinte Trey, während Olivia seine Hand umklammerte.

“Aber selbst wenn sie meine Halbschwester gewesen wäre, hätten wir doch nicht so identisch ausgesehen, dass Grampy mich nicht erkannt hätte.” Sie warf ihrem Großvater einen Blick zu, damit der ihre Worte bestätigte. “Das hast du doch gesagt, nicht wahr, Grampy? Du hättest es gemerkt, wenn sie das falsche Baby zurückgegeben hätten.”

“Auf jeden Fall”, beteuerte Marcus, war sich aber längst nicht mehr so sicher.

“Ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen”, sagte Trey nach einer kurzen Pause.

“Wussten Sie, dass Ihr Sohn eine Affäre hatte?”

Die Frage traf Marcus wie ein Schlag ins Gesicht. Olivia betrachtete ihn und wurde von neuen Zweifeln geplagt, als sie seine Miene sah. “Oh Gott, Grampy. Was ist, wenn …”

“Hör auf”, unterbrach er sie. “Kein Wort mehr. Ich sagte, ich habe meine Enkelin wiedererkannt, oder etwa nicht? Ich werde das nicht noch einmal sagen.” Egal, wie oft er es noch beteuern würde, die aufgekommenen Zweifel ließen sich nicht mehr ausräumen.

Olivia schlug die Hände vors Gesicht und rollte sich auf die Seite. “Das ist doch alles ein einziger Albtraum”, flüsterte sie.

Trey hätte alles dafür gegeben, diese Nachricht nicht überbringen zu müssen, doch er hatte keine andere Wahl. Erneut sah er zu Marcus und wartete auf eine Antwort. Als nichts geschah, hakte er nach: “Marcus?”

“Ich wusste nichts davon, wirklich nicht. Michael ging immer so liebevoll mit Kay um. Die einzige Frau, der er außer Kay Aufmerksamkeit schenkte, war Carolyn, die Frau von Terrence, aber sie gehörte da schon zur Familie.”

“Das hat nichts zu sagen”, wandte Trey ein. “Sind Sie sich sicher, dass es keine anderen Frauen gab? Vielleicht auf der Arbeit? Jemand, mit dem er täglich zu tun hatte? Gab es irgendeine Frau, die zur gleichen Zeit schwanger war wie Kay?”

“Mein Gott”, entgegnete Marcus. “Das kann nicht wahr sein. Ich werde nicht glauben, dass mein Sohn sein eigenes Kind ermorden ließ!”

“So muss es auch nicht gewesen sein”, gab Trey zu bedenken. “Sie sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen, solange wir nicht mehr wissen.”

“Was soll es da sonst noch zu wissen geben?” konterte Marcus. “Mein Sohn hat zwei Frauen geschwängert, nahezu gleichzeitig. Sie sagten doch, das tote Baby müsse etwa zur gleichen Zeit zur Welt gekommen sein wie Olivia, nicht wahr?”

“Der Gerichtsmediziner glaubt, zum Zeitpunkt der Entführung dürfte der Altersunterschied nicht mehr als einen Monat betragen haben.”

“Ich glaube, ich verstehe noch immer nicht, um was es eigentlich geht”, warf Olivia ein.

“Als das Verbrechen geschah”, erklärte Trey, “konnten die Behörden nicht mit Sicherheit sagen, dass Foster Lawrence der einzige Entführer war. Er holte zwar das Lösegeld ab, doch man konnte ihn nie mit den Morden in Verbindung bringen. Das war einer der Gründe, warum er von der Todesstrafe verschont blieb. Von meinem Lieutenant weiß ich, dass man immer von einem zweiten Täter ausgegangen war, der auch die Morde begangen hatte. Vor Gericht beharrte Lawrence darauf, er habe mit den Morden nichts zu tun, er habe nur das Baby freigelassen. Er sagte, wo er an dem Einkaufszentrum geparkt und wo er das Baby im Gebäude zurückgelassen hatte. Ein Angestellter konnte bestätigen, dass ein Mann, der wie Lawrence aussah, um die besagte Zeit das Einkaufszentrum betrat. Sollte Lawrence einen Komplizen gehabt haben, dann hat er ihn bis heute nicht verraten.”

“Und Sie denken jetzt, dieser Komplize könnte eine Frau gewesen sein”, folgerte Marcus.

“Möglich wäre es”, bestätigte Trey.

“Ich weiß nicht, ich kann keinen klaren Gedanken fassen”, meinte Marcus. “Ich muss nach Hause fahren. Vielleicht fällt mir etwas ein, wenn ich unsere alten Fotoalben durchsehe.”

“Und was ist mit Onkel Terrence und Tante Carolyn?” wollte Olivia wissen. “Wenn mein Vater … der Vater von beiden Kindern ist, dann ist Onkel Terrence doch aus dem Schneider.”

“Ja, das wird wohl so sein”, gab Trey zurück. “Aber da wir jetzt nach einer Frau suchen müssen … was ist mit Carolyn? Sie sagten, sie und Michael hätten sich gut verstanden?”

Marcus’ Gesicht lief rot an. “Sie kann unmöglich eine Verdächtige sein! Ich habe nie ihren Ruf schädigen wollen! Ich wollte lediglich damit sagen, dass sie und Michael gut miteinander auskamen. Ich sollte wohl anfügen, dass Kay ihre beste Freundin war. Es ist völlig undenkbar, dass Carolyn Sealy von meinem Sohn schwanger war, das Kind bekam und dann ein zwei Jahre altes Mädchen vor der ganzen Familie verschwieg, bis … bis sie es umbrachte und einmauerte!”

“Ich wollte damit nicht unterstellen, Carolyn Sealy sei die Mutter”, entgegnete Trey. “Aber wenn sie sich gut mit Ihrem Sohn verstand, wusste sie vielleicht über das Doppelleben, das Michael allen anderen verschwieg, seine Frau und Sie selbst eingeschlossen. Ich werde mit ihr reden müssen.”

Wieder sackte Marcus in sich zusammen, und Trey bedauerte es, so wütend geworden zu sein. “Hören Sie, Marcus, ich versuche, es für Sie so leicht wie möglich zu machen. Ich weiß, wie sehr Ihnen und Olivia das Ganze zu schaffen macht, aber Sie sollten nicht vergessen, wie das alles angefangen hat. Ein Kind wurde ermordet, und ich habe nichts weiter als ein paar Knochen, einen Koffer, ein Söckchen, ein blutiges Nachthemd, ein Holzkreuz und eine rosafarbene Decke. Ich sagte Ihnen bereits, ich werde den Mörder finden, und so lange werde ich keine Ruhe geben.”

Marcus nickte knapp. “Es tut mir Leid. Das ist Ihre Ermittlung, und ich will Sie dabei nicht beeinflussen. Ich versuche lediglich, meine Familie zu beschützen.”

“Das verstehe ich”, sagte Trey. “Aber nach allem, was Sie mir erzählt haben, werden Sie verstehen können, warum ich Ihre Familie nicht aus dem Fall heraushalten kann. Ihr Sohn ist der Vater des toten Babys. Wenn wir herausfinden, wer die Mutter war, können wir vielleicht auch aufdecken, wer Micheal und Kay umbrachte und wer Olivia entführte.”

“Aber wer hat das Baby ermordet?” wollte Marcus wissen.

Trey konnte Olivia nicht ansehen, während er antwortete: “Ich glaube, das werden wir wissen, wenn klar ist, welches Baby damals gestorben ist.”

Olivia rollte sich auf dem Bett zusammen. Ihr war schlecht, und sie hatte Angst.

Marcus wollte mit ihr reden, doch die Enthüllungen hatten ihn so sehr mitgenommen, dass er sich nur entschuldigen konnte und dann das Zimmer verließ, während er ihr noch versprach, sie in Kürze anzurufen.