4. KAPITEL
Seit zwei Wochen war Foster Lawrence inzwischen aus dem Gefängnis, aber an ein Leben in Freiheit hatte er sich noch nicht gewöhnen können. Egal wo er sich aufhielt – sobald er einen Türknauf zu fassen bekam, regte sich für einen Sekundenbruchteil Panik in ihm, weil er fürchtete, die Tür könnte verschlossen sein. Nach fünfundzwanzig Jahren hinter Gittern war er auch nicht mehr in der Lage, nachts das Licht auszumachen, außerdem aß er viel zu hastig.
Die Welt, wie er sie kannte, existierte nicht mehr. Jetzt wurde alles von Computern und neuen Technologien beherrscht. Es gab kleine Mobiltelefone, mit denen man Fotos machen konnte und die Klingeltöne von Bach spielten. Jungs trugen Sweatshirts und Jeans, die drei Nummern zu groß waren, während sich die Mädchen so spärlich mit Stoff bedeckten, dass er sich wunderte, wie ihre Eltern sie so überhaupt aus dem Haus ließen. Fernseher waren auf einmal flach, und mit Sex wurde so gut wie alles verkauft – von Zahnpasta bis hin zu Backmischungen.
Er kam sich in seinem eigenen Land wie ein Fremder vor. Doch mit dem, was in Dallas auf ihn wartete, würde er bald diesen neuen Luxus genießen können. In den letzten zwei Wochen achtete er stets darauf, dass niemand ihn verfolgte. Er hoffte, die Polizei hatte ihn und das Geld vergessen, das nie gefunden worden war. Mit seinem unauffälligen Job als Tellerwäscher in einem Restaurant konnte er sich eine Weile über Wasser halten, und wenn er sich wirklich sicher war, dass er nicht behelligt wurde, würde er kündigen und sich eine Busfahrkarte nach Dallas kaufen.
“Platz machen”, rief der Busfahrer, als er die Gepäckfächer öffnete, damit die Reisenden ihre Taschen und Koffer an sich nehmen konnten.
Da Foster sein ganzes Hab und Gut in einem Rucksack mit sich trug, konnte er sich diese letzte Phase einer langen und unbequemen Busfahrt ersparen. Er musste nur das Geld holen, das er versteckt hatte, und dann sofort verschwinden.
Er verließ den Busbahnhof und sah hinauf zum Himmel. Die Sonne war bereits untergegangen, und bald würde es dunkel werden. Er hatte nicht vor, die Nacht auf der Straße zu verbringen. Obwohl er fast fünfhundert Dollar bei sich hatte, waren seine Ansprüche so niedrig, dass er jedes noch so einfache Zimmer nehmen würde.
“Taxi gefällig, Mister?”
Foster drehte sich um und sah einen kahlköpfigen, untersetzten Mann neben einem Taxi stehen. Die Geldausgabe erschien ihm zwar wie ein Luxus, doch zum einen war seine Million fast schon in Reichweite, zum anderen wurde es rasch dunkler.
“Ja, warum eigentlich nicht?” erwiderte er, nahm den Rucksack und warf ihn auf den Rücksitz, dann stieg er ein.
“Wohin?”
“Ich brauche für ein paar Tage ein Zimmer. Nicht zu weit von Downtown entfernt, und möglichst billig.”
“Gut, Sir”, sagte der Fahrer und gab Gas.
Als er sich auf seinem Platz zurücklehnte, wurde er etwas ruhiger. Alles würde gut ausgehen. Er war in Dallas und damit zurück an dem Ort, an dem alles angefangen hatte. Ihm war es nur um einen Neuanfang gegangen, und diesen Wunsch hegte er nach wie vor. Mit dem versteckten Geld würde er ihn verwirklichen können.
Einige Minuten später stoppte das Taxi, Foster sah aus dem Seitenfenster. Es war kein Vier-Sterne-Hotel, allerdings war er auch kein Vier-Sterne-Gast, der über ein entsprechendes Konto verfügt hätte. Er bezahlte den Fahrer, nahm seinen Rucksack und stieg aus.
Der Mann am Empfang hatte den Schädel kahl rasiert, trug einen Schnauzbart und war auf beiden Oberarmen tätowiert. Foster bedachte er nur mit einem flüchtigen Blick, dann zog er wieder an seinem Joint.
“Ich brauche ein Zimmer.”
“Fünfundzwanzig pro Nacht – im Voraus”, erwiderte der Mann.
“Und was kostet eine ganze Woche?”
“Hundert – auch im Voraus.”
“Dann nehme ich es erst mal für eine Nacht”, entschied sich Foster und zählte das Geld ab. Gerade wollte er das Bündel einstecken, dann überlegte er es sich anders und legte einen Fünfer zusätzlich auf die Theke.
“Wie sieht’s mit Frauen aus?” wollte er wissen.
Der Kerl sah auf und blinzelte, um durch den Rauch etwas zu erkennen. Als er den Geldschein bemerkte, nahm er zum ersten Mal wirklich Notiz von seinem Gast.
“Wie soll’s mit denen aussehen?” gab er zurück.
“Sind welche verfügbar?”
“Was wollen Sie denn springen lassen?”
“Das hier ist nicht das Taj Mahal”, brummte Foster. “Schicken Sie einfach eine Frau auf mein Zimmer. Solange sie weder einen Schnäuzer noch einen Schwanz hat, bin ich zufrieden.”
Der Mann nahm das Geld an sich und drückte Foster einen Schlüssel in die Hand. “Zimmer 322, dritter Stock. Der Aufzug geht nicht.”
Foster nahm kommentarlos den Schlüssel an sich. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er auf Aufzüge verzichten müssen, da kam es auf einen Tag mehr oder weniger auch nicht mehr an. Er wollte nur ein Zimmer – und eine Frau.
“Denken Sie an die Frau”, sagte er zu dem Mann, der wieder an seinem Joint zog und den Rauch durch die Nase ausatmete. Er nickte und griff nach dem Telefon.
Foster begab sich zu seinem Zimmer, schloss auf und ging hinein. Die Tür fiel automatisch hinter ihm ins Schloss, dennoch verriegelte er sie von innen. Erst dann warf er den Rucksack aufs Bett und steckte den Schlüssel in die Hosentasche. Er hätte auspacken können, hatte aber so wenig bei sich, dass sich die Mühe nicht lohnte. Stattdessen ging er ins Badezimmer.
Die Handtücher hatten einen gräulichen Schleier und waren ziemlich verschlissen, die Seifenstücke wiesen gerade mal das Format von Kreditkarten auf – und waren auch fast so dünn. Etliche der Fliesen waren gesprungen oder abgeschlagen. Rund um den Abfluss der Badewanne zog sich ein breiter, rostiger Kranz, doch der Raum war immer noch dreimal so groß wie die Zelle, die er sich mit einem Mitgefangenen hatte teilen müssen. Das ließ das Badezimmer geradezu verschwenderisch groß erscheinen.
Spontan zog er sich aus und stellte sich unter die Dusche. Ein paar Minuten später war er von Kopf bis Fuß eingeseift und rieb Shampoo in seine langen Haare, als er hörte, dass jemand an der Zimmertür klopfte. Überzeugt davon, dass es sich nur um die bestellte Hure handeln konnte, verließ er die Dusche, wickelte sich ein Handtuch um die Taille und nahm ein zweites, um seine Haare trockenzureiben.
“Wer ist da?” fragte er, als er an der Tür stand.
“Wer immer ich für dich sein soll, Schatz”, antwortete eine Frauenstimme.
Vorfreude regte sich in ihm, dennoch öffnete er die Tür erst einen Spaltbreit, um sich davon zu überzeugen, dass die Frau allein war. Dann packte er sie am Handgelenk und zog sie ins Zimmer.
Rasch schloss er wieder ab, dann betrachtete er die Frau, die dastand und lächelte.
“Hallo, Schatz, wie läuft’s denn so?” fragte sie und schob einen Finger unter den Stoff des nassen Handtuchs, das er sich umgebunden hatte.
Unwillkürlich zuckte er bei der Berührung zusammen. Im Gefängnis hatte er einem Mann die Nase gebrochen, der nichts annähernd so Vertrautes gewagt hatte. Er musste sich vor Augen halten, dass er wieder ein freier Mann war – ein freier Mann, der nicht wusste, ob eine Frau ihn eigentlich noch erregen konnte. Er hatte lange warten müssen, um die Antwort zu erfahren.
“Gut”, sagte er nur und betrachtete die Frau. Sie wäre unter normalen Umständen nicht seine erste Wahl gewesen, aber allzu übel war sie nicht. So wie bei ihm selbst lag auch ihre beste Zeit längst hinter ihr. Nur flüchtig nahm er den dunklen Haaransatz wahr, der ihm verriet, wie schlecht ihre blonde Mähne gefärbt war.
Sie legte ihre Handtasche weg und betrachtete ihn. “Was darf’s denn sein, Schatz? Soll ich dir einen blasen, oder hättest du lieber was anderes?”
Ohne zu antworten legte Foster seine Hände auf ihre vollen, aber schon etwas hängenden Brüste und nahm mit gewaltiger Erleichterung zur Kenntnis, dass sich eine Erektion bemerkbar machte.
“Was gibt’s denn für fünfundzwanzig noch?” fragte er.
“’ne Handmassage. Legst du ‘nen Zwanziger drauf, bekommst du Verkehr oder Anal. Aber wenn du was Perverses willst, wird ‘n Hunderter fällig. Außerdem küsse ich nie auf den Mund.”
Foster dachte darüber nach, wie lange es her war, dass er zum letzten Mal mit einer Frau geschlafen hatte. Aber nach so vielen enthaltsamen Jahren würde er es nicht lange genug aushalten, um zwanzig Dollar mehr zu rechtfertigen.
“Blas mir einen”, erwiderte er knapp, ließ das Handtuch zu Boden fallen und setzte sich auf die Bettkante.
“Erst die Mäuse.” Sie hielt die Hand ausgestreckt und wartete, bis er ihr zwei Zehner und einen Fünfer gab.
Sie steckte die Scheine in ihre Gürteltasche, dann kniete sie sich vor ihm auf den Boden. Foster hatte kaum Zeit, den Anblick zu genießen, wie sich ihre roten Lippen um seine Erektion schlossen, da spürte er bereits, wie ihm heiß wurde und wie sich in ihm ein Druck aufbaute, der auf eine wunderbare Weise schmerzte. Diese Frau wusste, was sie da tat, und sie brachte ihn so schnell zum Höhepunkt, dass er kam, noch bevor er aufstöhnen konnte. Im nächsten Augenblick ließ er sich nach hinten aufs Bett sinken, während sein Leib noch immer zuckte.
“Oh verdammt, das war viel zu schnell”, keuchte er.
Die Frau stand auf, ging ins Badezimmer und begann, sich die Zähne zu putzen. Foster war von dem heftigen Höhepunkt so erschöpft, dass er noch immer ausgestreckt auf dem Bett lag, als sie aus dem Bad kam und sich die Hände abtrocknete.
“Wie lang hast du gesessen, Schatz?”
“Fünfundzwanzig”, antwortete er reflexartig.
Sie grinste ihn breit an. “Kein Wunder, dass du schnell warst. Manche von deiner Sorte kommen schon, wenn sie mich nur ansehen.” Sie kam zurück und stellte sich zu ihm ans Bett. “Wenn du ‘ne Zugabe möchtest, dann sag Marvin Bescheid.”
“Wer ist Marvin?”
“Der Typ vom Empfang, der mich angerufen hat”, erklärte sie.
“Ach so, der.”
Einen Moment lang zögerte sie, dann ging sie zur Tür. “Pass auf dich auf, Schatz, und danke für den Job.”
Nackt wie er war, stand Foster auf und ließ sie aus dem Zimmer. Hinter ihr schloss er wieder ab.
Er setzte sich aufs Bett und griff nach der Fernbedienung. Sein Magen knurrte, und einige Sekunden lang spielte er mit dem Gedanken, sich eine Pizza kommen zu lassen. Dann jedoch begann er, mit der Fernbedienung zu spielen. Was ‘Zappen’ bedeutete, wusste er, obwohl es in seinem Zimmer in Kalifornien keinen Fernseher gab und er sich die Zeit nicht auf diese Weise hatte vertreiben können. Jetzt holte er das nach, musste sich aber mit den wenigen Programmen begnügen, die man im Hotel empfangen konnte. Nachdem er einmal durchgeschaltet hatte, fing er wieder von vorn an, da entdeckte er sein Gesicht auf dem Bildschirm. Ein Nachrichtensprecher erwähnte soeben seinen Namen.
“…nach Foster Lawrence sucht, der bis vor kurzem eine Gefängnisstrafe von fünfundzwanzig Jahren verbüßt hat, da er an der Entführung der Enkelin des Magnaten Marcus Sealy aus Dallas beteiligt gewesen war. Derzeit wollen die Behörden ihn nur im Zusammenhang mit dem Fund einer Kinderleiche nahe dem Lake Texoma befragen. Die Familie Sealy wird von der Polizei gegenwärtig bereits befragt, da es gewisse Übereinstimmungen zwischen dem toten Kind und Olivia Sealy geben soll, jener Enkelin, die in ihrer Kindheit Opfer einer Entführung geworden war.”
Fosters Herz setzte einen Schlag lang aus, seine Finger begannen so heftig zu zittern, dass ihm die Fernbedienung entglitt und auf den Fußboden fiel.
“Scheiße”, murmelte er fassungslos.
Die Vorstellung, noch einmal durch die Hölle mit Namen Gefängnis zu gehen, schien ihm schier unerträglich. Er wusste ganz genau, dass das Mädchen unversehrt nach Hause zurückgekommen war, weil er die Kleine persönlich ins belebte Einkaufszentrum gebracht hatte, um sie dort zurückzulassen.
Es gab einiges, was er an seinem Komplizen nicht gemocht hatte, dennoch war kein Wort über seine Lippen gekommen. Eine Million Dollar waren es wert, eine so lange Wartezeit in Kauf zu nehmen. Doch er hatte nicht einkalkuliert, sich gleich nach seiner Freilassung mit neuen Mordvorwürfen konfrontiert zu sehen. Von dem Mord an Michael und Kay Sealy war ihm erst etwas zu Ohren gekommen, als alles bereits zu spät gewesen war. Von einem toten Kind jedoch hatte er bislang noch nichts gewusst.
Auf einmal kam ihm das Zimmer nicht mehr wie eine Zuflucht, sondern wie eine Zelle vor. Der Typ am Empfang und die Nutte hatten sein Gesicht gesehen, damit waren seine Tage gezählt. Er sprang auf und zog sich in aller Eile an, bis er Herr über seine Panik wurde. So konnte er nicht das Hotel verlassen. Im Fernsehen hatte man ein aktuelles Foto gezeigt, so dass man ihn zweifellos auf der Stelle erkennen würde. Wenn er im Gefängnis eines gelernt hatte, dann Geduld. Zu viel stand auf dem Spiel, als dass er sich einen Fehler erlauben konnte. Anstatt wegzulaufen, überlegte er, welche Möglichkeiten ihm blieben.
Aber das durfte doch nicht wahr sein! Das war einfach nicht fair! Er hatte seine Strafe abgesessen, doch es sah so aus, als wollte Texas noch immer keine Ruhe geben. Am besten hätte er auf der Stelle den Bundesstaat verlassen, doch das ging noch nicht. Erst musste er erledigen, weswegen er hergekommen war. Nur wie? Dank dieser Nachrichtensendung würde er unweigerlich irgendwem auffallen. Einige Minuten später wurde ihm bewusst, dass die Behörden nach einem grauhaarigen Mann mit Pferdeschwanz und Vollbart suchten. Die Zeit war gekommen, sein Äußeres zu verändern.
Mit Hilfe von Rasierschaum und Einwegrasierer trennte er sich von seinem Bart, und mit einem Messer schnitt er sich den Pferdeschwanz ab. Seine untere Gesichtshälfte entpuppte sich nach der Rasur als sehr blass, und seine Haare sahen aus, als wäre er unter einen Rasenmäher geraten. Doch das genügte fürs Erste, um nicht erkannt zu werden, wenn er das Hotel verließ. War er erst einmal draußen, konnte er sich darum kümmern, sein Aussehen nachhaltiger zu verändern.
Nachdem er gepackt hatte, verließ er das Zimmer und ging zur Treppe, blieb dort aber stehen. Womöglich hätte er auch etwas anderes anziehen sollen, um von dem Typen am Empfang nicht wiedererkannt zu werden. Da fiel ihm ein leerer Pizzakarton auf, den jemand einfach ins Treppenhaus geworfen hatte. Foster hob ihn auf und hielt ihn so, als befinde sich noch etwas zu essen darin, dann ging er nach unten.
Im Parterre angekommen, sah Foster, wie der Mann kurz aufblickte, den Pizzakarton bemerkte und sich sofort wieder mit etwas anderem beschäftigte. Wie erhofft hielt der Kerl ihn für einen Pizzaboten, der das falsche Hotel erwischt hatte und wieder auf dem Weg nach draußen war.
Kaum war er auf der Straße angekommen, warf er den Karton fort und beschleunigte seine Schritte. Im Drugstore an der nächsten Ecke deckte er sich mit dem Nötigsten ein, dann hielt er Ausschau nach einem anderen Hotel.
Ein paar Blocks weiter wurde er fündig, fand am Empfang diesmal eine Frau vor, die sich so wenig um ihren Gast scherte wie zuvor der tätowierte Kerl, und bezahlte für eine Nacht. Wenn nichts mehr schief ging, würde er in ein paar Tagen sein Geld haben und längst verschwunden sein, ehe ihm jemand auf die Spur kam.
“Hey, was ist los mit dir, Trey?” fragte Chia Rodriguez, als er von Lieutenant Warrens Büro an seinen Schreibtisch zurückkehrte und frustriert auf seinen Stuhl sank.
“Nichts, außer dass ich meinen Beruf hasse”, gab er zurück.
“Geht es um den Sealy-Fall?”
Er nickte.
“Also wenn ich mir vorstelle”, fuhr sie seufzend fort, “so etwas würde mit einem meiner Kinder geschehen. Jeden Abend schaue ich sie an und bete, dass ich in der Lage sein werde, sie lange genug zu beschützen, bis sie erwachsen sind.” Sie verzog den Mund. “Es gibt sogar Nächte, da liege ich stundenlang wach, weil ich Angst habe, sie könnten einfach verschwinden, wenn ich die Augen zumache. Dann lege ich mich in den Flur vor die Tür zum Kinderzimmer und versuche, dort zu schlafen. Ziemlich verrückt, nicht?”
Trey sah zu Chia. “Das ist nicht verrückt, sondern verdammt unheimlich. Du solltest dich als Sprecherin für Verhütungsmittel engagieren lassen.”
Einen Moment lang sah sie ihn einfach nur an, dann sagte sie: “Ach, Bonney, du weißt doch, wie wir Frauen sind. Entweder lässt das PMS uns ausrasten, oder es ist irgendein anderer Mist. Außerdem wäre es ein Verbrechen, wenn Männer mit so einem grandiosen Hintern, wie du ihn hast, sich nicht fortpflanzen würden.”
Er grinste sie an, weil er wusste, dass Chia diese Reaktion brauchte. In Wahrheit war ihm aber nicht nach Grinsen zu Mute. Er konnte ihre Ängste nur zu gut verstehen, und am liebsten hätte er sie in den Arm genommen, um sie zu trösten und zu beruhigen. Aber sie würde das nicht mögen, und alle anderen würden die Geste nur falsch deuten. Also beließ er es bei dem Gedanken.
Stattdessen griff er nach dem Telefon und wählte die Nummer, die Marcus Sealy ihm gegeben hatte. Er wusste nicht genau, wie groß der Zeitunterschied zu Mailand war, dennoch würde er versuchen, Terrence Sealy zu erreichen.
Nach dem siebten Klingeln wollte er fast schon auflegen, da meldete sich eine Frauenstimme, die außer Atem zu sein schien: “Ciao.”
Trey stutzte, da er nicht daran gedacht hatte, möglicherweise jemanden ans Telefon zu bekommen, der seine Sprache nicht verstand. “Ist das der Anschluss von Terrence Sealy?” fragte er langsam und deutlich.
Einige Sekunden lang war nichts zu hören, dann sprach die Frau weiter, diesmal unüberhörbar erstaunt: “Ja, das ist richtig. Wer … wer sind Sie?”
“Ich bin Detective Trey Bonney vom Dallas Police Department in Texas. Ich möchte mich mit Terrence Sealy unterhalten.”
“Oh nein! Ist Marcus etwas zugestoßen?”
“Nein, Ma’am, ihm geht es gut. Sagen Sie mir, wer Sie sind?”
“Ich? Ach so, ja, ich bin Carolyn, Terrys Frau. Er kommt erst heute Abend zurück. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?”
“Das will ich hoffen”, entgegnete Trey und fasste in wenigen Sätzen zusammen, was sich ereignet hatte.
“Mein Gott! Das ist ja schrecklich! Aber wie kommen Sie auf die Idee, es könnte etwas mit … ach so … Olivias Entführung. Ich verstehe. Aber man hatte sie doch freigelassen”, wandte Carolyn ein.
“Richtig, Ma’am. Trotzdem befragen wir alle ihre Verwandten.”
“Wieso?”
“Das tote Kind hatte an der linken Hand zwei Daumen. Das ist ein sehr ungewöhnliches Merkmal.”
“Ja, da haben Sie Recht, Detective. Aber was wollen Sie von uns wissen? Wir konnten keine Kinder bekommen.”
“Ma’am, verzeihen Sie, aber ich muss Ihnen eine sehr persönliche Frage stellen. An wem von Ihnen beiden lag es, dass Sie keine Kinder bekommen konnten?”
“Das lag an mir, aber das heißt nicht …”
Carolyn schnappte erschrocken nach Luft, dann folgte Schweigen.
“Mrs. Sealy? Sind Sie noch da?”
“Ja, ich … ich bin noch da”, antwortete sie. “Wollen Sie mit Ihrer Frage unterstellen, mein Mann könnte eine Affäre gehabt haben? Er könnte ein uneheliches Kind gezeugt haben, das dann umgebracht wurde?”
“Ich will gar nichts unterstellen”, versicherte Trey ihr. “Ich muss lediglich alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen und feststellen, welche davon ich ausschließen kann.”
“Und wie wollen Sie das anstellen?” fragte Carolyn.
“Ich benötige eine DNS-Probe von Ihrem Mann.”
“Das ist ja schrecklich!”
“Nein, Ma’am. Schrecklich ist das, was sich in dem Koffer befunden hat.”
“Oh Gott …”
“Kann ich auf Ihre Mithilfe zählen?” wollte er wissen.
Zögernd entgegnete sie: “Und was soll mein Mann tun?”
“Ich kann wohl kaum darauf hoffen, dass er nach Dallas kommt, um die Tests durchzuführen und um einige Fragen zu beantworten, oder?”
“So weit? Aber …”
“Es würde uns sehr weiterhelfen, Ma’am, und es würde uns viel bedeuten.”
Carolyn Sealy seufzte. “Mir würde es auch sehr viel bedeuten, wieder nach Dallas zu kommen”, sagte sie . “Mir fehlt das Leben in den Staaten, außerdem ist es eine Ewigkeit her, seit wir Marcus besucht haben.” Es folgte eine kurze Pause, dann erklärte sie mit Nachdruck: “Ja, wir werden zu Ihnen kommen.”
“Gut, dann gebe ich Ihnen meine Nummer. Rufen Sie mich an, wenn Sie angekommen sind, dann vereinbaren wir einen Termin und bringen die Sache hinter uns.”
“Wir melden uns”, versprach Carolyn, hörte sich aber an, als sei sie froh, das Gespräch beenden zu können.
Trey legte den Hörer auf und rieb sich nachdenklich das Genick.
Marcus legte sich eine Scheibe Fleisch auf den Teller und nahm etwas von der Pilzsoße, dann griff er nach dem Besteck. Nach dem ersten Bissen schloss er genüsslich die Augen. “Mmh, Rose hat sich heute Abend wieder selbst übertroffen. Das Lendenstück ist vorzüglich.” Dann fiel ihm auf, dass Olivias Teller noch leer war. “Was ist los, Darling? Fühlst du dich nicht wohl?”
Olivia unterdrückte einen Seufzer und zwang sich zu einem schwachen Lächeln. “Nein, Grampy, es ist alles in Ordnung. Ich habe nur keinen Hunger.”
Daraufhin legte er die Gabel zur Seite, lehnte sich nach hinten, verschränkte die Arme und betrachtete Olivia. Er war so an ihr Aussehen gewöhnt, dass er nie wirklich auf ihr Mienenspiel achtete. Doch als er sie jetzt so dasitzen sah, kamen ihm für einen Moment Zweifel. Was, wenn …? Nein, er verdrängte den Gedanken, ehe er ihn hatte formulieren können.
“Du bist besorgt wegen morgen, stimmt’s?”
Sie zuckte mit den Schultern, nickte und sah zur Seite, was Marcus nur noch besorgter dreinschauen ließ.
“Ich wünschte, ich könnte dich davon überzeugen, dass es keinen Grund zur Sorge gibt.”
Tränen standen ihr in den Augen, als sie den Kopf hob. “Grampy, ich wünschte auch, du könntest das. Aber ich habe ein ungutes Gefühl, und so sehr ich es mir auch einrede, kann ich nicht glauben, dass alles wieder so sein wird wie früher.”
Marcus wollte ihr klarmachen, wie unnötig ihre Besorgnis war. Doch er wusste, sie würde ihm nicht zuhören wollen. Sie konnten nur warten, bis es vorüber war.
Es war Olivia bewusst, dass ihr Großvater verärgert war. Auch wenn sie das eigentlich nicht wollte, hatte sie ihn noch nie belügen können. Jetzt konnte sie nur darauf vertrauen, dass nichts seinen Glauben an sie erschüttern würde.
“Tut mir Leid, wenn ich so weinerlich bin, Grampy. Ich werde mich zusammenreißen, versprochen. Und damit du mir das auch glaubst, werde ich jetzt die Lende probieren.”
Lächelnd reichte Marcus ihr die Platte mit dem Fleisch.
“Und nimm von der Soße”, fügte er an.
Foster Lawrence schluckte den letzten Bissen von seinem Hamburger herunter, tauchte die zwei noch verbliebenen Pommes frites in den Ketchup und nickte dann der Kellnerin zu, die mit einer vollen Kaffeekanne an seinem Tisch stehen geblieben war.
Während sie ihm eine weitere Tasse einschenkte, genoss Foster das Aroma von frisch aufgebrühtem Kaffee. Gleichzeitig dachte er darüber nach, welchen Luxus er sich schon bald würde leisten können. Es war fast Mitternacht, trotzdem hatte er sein Hotelzimmer verlassen und war zum Diner an der Ecke gegangen.
Nicht, dass er besonders hungrig gewesen wäre. Vielmehr tat er es, weil es ihm nach fünfundzwanzig Jahren endlich wieder möglich war, zu tun, was er wollte.
Die Kellnerin zwinkerte ihm freundlich zu und ging weiter. Foster konnte nicht anders, als auf ihren Hintern zu starren, doch seine sexuellen Bedürfnisse waren für diesen Tag gestillt. Er würde sich mit einer Tasse Kaffee begnügen.
Draußen raste ein Polizeiwagen im Einsatz vorbei. Foster bekam eine Gänsehaut und war dankbar, dass er noch nicht von den Bullen gejagt wurde. In der Fensterscheibe des Diners sah er sein Spiegelbild, woraufhin er grinsen musste. Der Mann, der ihn dort ansah, war nicht nur rasiert, sondern hatte nun auch einen kahlen Schädel. Nicht mal seine Mutter hätte ihn so erkannt, wäre sie noch am Leben gewesen.
Er widmete sich wieder seinen Plänen für den kommenden Tag. Im Telefonbuch hatte er vergeblich nach dem Restaurant Lazy Days gesucht, doch es war keine große Überraschung, dass es nicht mehr existierte. Vieles hatte sich verändert, seit er das letzte Mal in Dallas gewesen war. Doch die meisten Häuser, die er von damals kannte, standen immer noch, was ihm ein gutes Gefühl gab, dass sein Geld ebenfalls nach wie vor dort war, wo er es deponiert hatte. Er konnte den Moment kaum abwarten, bis es endlich ihm gehören würde.
Trey saß auf der Bettkante und blätterte im Jahrbuch der High School. Es war eine Ewigkeit her, seit er sich dazu hatte durchringen können, die Erinnerungen an eine längst vergessene Zeit wiederaufleben zu lassen. Dass er das jetzt machte, lag nur an seiner Begegnung mit Olivia.
Auf einer Seite hielt er inne und strich versonnen über das Foto, das eine lächelnde Olivia zeigte. Darunter stand geschrieben: Für immer dein.
“Tja, Livvie, das hat sich ja wohl nicht erfüllt.”
Erschrocken darüber, dass er solch düsteren Gedanken nachhing, schlug er das Jahrbuch zu, warf es auf den Boden und ließ sich auf das Bett sinken. Aber auch als er die Augen schloss, sah er noch immer das lächelnde Gesicht von dem Foto. Allmählich verblasste es und machte einem anderen Bild Platz, das ihn zutiefst beunruhigte. Es waren die winzigen Knochen, die auf dem Untersuchungstisch des Gerichtsmediziners ausgebreitet lagen.
Trey war entschlossen, die Identität des toten Mädchens herauszufinden und diesen Teufel aufzuspüren, der ihrem Leben ein so frühes Ende gesetzt hatte. Er würde den Schuldigen finden, ganz gleich, was dafür nötig war oder wem er vor den Kopf stoßen musste.