20. KAPITEL

Die Ereignisse der letzten zwei Tage hatten Trey viel Schlaf geraubt, und dementsprechend erschöpft fühlte er sich. Da Ella zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben musste, hatte er Marcus informiert, dass Olivia den Tag über allein zu Hause sein würde.

Die Nachricht über seine Pokerpartnerin nahm Marcus erschrocken auf. “Doch nicht Ella!” sagte er. “Sagen Sie bitte, dass es ihr gut geht.”

“Es geht ihr recht gut. Sie hat sich nichts gebrochen, sie musste nicht genäht werden. Nur ein paar blaue Flecke und einige Schrammen, aber insgesamt ist sie in guter Verfassung.”

“Oh, Gott sei Dank!” Marcus war erleichtert. “Und was Olivia angeht, müssen Sie sich keine Sorgen machen. Entweder komme ich vorbei, oder ich sage Terrence und Carolyn Bescheid. Sie wollen sie ohnehin besuchen. Vorausgesetzt, es macht Ihnen nichts aus, dass Ihr Haus von unserer ganzen Familie überrannt wird.”

“Nein, Sir, das macht mir nichts aus. Es tut mir nur Leid, dass das passieren musste. Ich möchte Sie übrigens noch um einen Gefallen bitten.”

“Alles, was Sie wollen”, erwiderte Marcus.

“Wenn Sie vorbeikommen, könnten Sie ein paar Fotos von Olivia aus der Zeit mitbringen, kurz bevor ihre Eltern ermordet wurden?”

“Natürlich, aber darf ich nach dem Grund fragen?”

Trey berichtete Marcus in wenigen Worten, was er von Sheree Collier und Foster Lawrence erfahren hatte.

“Dann könnte es sein, dass sie die Identifikation ermöglicht?” fragte Marcus.

“Mit ihrer DNS sollten wir in der Lage sein, sagen zu können, welches Baby welches war.”

“Gut. Sagen Sie Olivia bitte, dass einer von uns in Kürze bei ihr sein wird. Vielleicht sogar wir alle.”

“Denken Sie daran, dass ich einen Pool hinter dem Haus habe. Der ist zwar klein, aber man kann sich dort wunderbar die Zeit vertreiben. Livvie verbringt wegen ihrer Physiotherapie ohnehin einige Stunden dort.”

“Trey?”

“Ja?”

“Ich möchte mich noch einmal dafür entschuldigen, dass ich Sie so falsch eingeschätzt hatte.”

“Schwamm drüber, das ist alles lange her.”

“Trotzdem gefällt es mir nicht, dass ich so engstirnig war. So hatte ich mich nicht gesehen. Sie beschämen mich mit Ihrer Großzügigkeit und Ihrer Fähigkeit, mir zu vergeben. Glauben Sie nicht, das wäre mir nicht aufgefallen. Und genauso ist mir bewusst, dass aus Ihnen ein anständiger Mann geworden ist.”

Trey sprach es nicht aus, doch es tat ihm gut, dass Marcus ihm diese Wertschätzung entgegen brachte. Es hätte nichts an seiner Entschlossenheit geändert, Olivia zu heiraten, doch es machte ihnen beiden eine Beziehung leichter.

“Dann möchte ich mich für Ihre offenen Worte bedanken, aber das Thema sollte damit auch erledigt sein”, schlug Trey vor.

“Einverstanden”, erwiderte Marcus, dann sah er auf die Uhr. “Ich werde gleich Carolyn anrufen, damit Terrence sie bei Ihnen absetzen kann. Ich hatte Anna Walden auch versprochen, sie zu Olivia zu bringen. Das Personal im Heim sagt, sie sei wegen Olivia sehr verwirrt, deshalb dachte ich, es könnte helfen, wenn sie sie besucht. Unter anderen Umständen würde ich das noch hinauszögern, aber ich möchte nicht, dass sie noch verwirrter wird, als sie es schon ist.”

“Kein Problem”, sagte Trey. “Livvie ist ohnehin in Sorge um Anna, und ich glaube, sie würde sie auch gern sehen. Ach, übrigens … ich weiß von der Pokerrunde.”

Marcus begann zu lachen. “Ich habe verloren.”

“Ja, davon weiß ich auch.”

“Sie hat mir gesagt, ich sei ihr zu alt”, fuhr er fort. “Können Sie sich das vorstellen?”

Diesmal musste Trey lachen.

Olivia kam ins Zimmer. Sein Lachen brachte sie automatisch dazu, glücklich zu lächeln. Als Trey sie sah, winkte er sie zu sich. “Marcus … warten Sie, Livvie ist gerade aufgewacht. Ich gebe Sie weiter, denn ich muss ohnehin los. Ich hoffe, wir sehen uns heute Abend.”

Er gab ihr den Hörer, küsste sich selbst auf den Daumen und drückte ihr den sanft auf den Mund.

“Trey, ich …”, stammelte sie, so perplex über seine Geste, dass sie darüber vergaß, dass ihr Großvater in der Leitung war.

Trey legte ihr rasch einen Finger an die Lippen, damit sie nichts Unbedachtes von sich gab, dann grinste er, während sie rot wurde.

“Grampy?”

“Guten Morgen, Darling, wie geht es dir?”

“Wie es mir geht? Oh … mir geht es gut.”

Trey betrachtete sie und zog sie mit seinen Blicken aus. Sie schnitt eine Grimasse und bedeutete ihm, aus dem Zimmer zu gehen. Zufrieden darüber, dass er sie aus der Ruhe hatte bringen können, verließ er den Raum.

Marcus, der von alledem natürlich nichts mitbekommen hatte, erklärte ihr unverdrossen, was geschehen war. “Das Heim hat angerufen, weil Anna überall nach dir sucht. Ich dachte, es könnte ihr helfen, wenn ich mit ihr zusammen bei dir vorbeikomme. Fühlst du dich dazu in der Lage?”

“Ja, Grampy, aber natürlich! Ich bin so voller Sorge um sie, ich würde sie wirklich gern sehen.”

“Gut. Ich sagte Trey schon, dass Terrence und Carolyn dich unbedingt besuchen möchten. Ich werde erst die beiden zu dir schicken, dann komme ich später mit Anna vorbei.”

Olivia war begeistert. Die ganze Familie würde zusammenkommen, das würde wunderbar werden. “Das hört sich ja phantastisch an, ich freue mich schon darauf!”

“Dann sehen wir uns später.”

“Okay, bis dann, Grampy.”

“Bis nachher, meine Liebe.”

Sie legte auf und suchte nach Trey.

Als er Schritte in seinem Schlafzimmer hörte, drehte er sich um, lächelte sie flüchtig an und sagte mit leiser, heiserer Stimme: “Guten Morgen, Livvie.”

Sie kam zu ihm. “Ich wünsche dir auch einen guten Morgen. Hast du noch schlafen können, nachdem wir uns wieder hingelegt hatten?”

“Ein wenig. Es dürfte reichen, um einen Tag zu überstehen.” Er legte eine Hand um ihren Hinterkopf und zog sie zu sich.

Sie hob das Kinn, während er seinen Kopf ein wenig senkte, so dass sich ihre Lippen treffen konnten.

“Apropos Arbeit …”, begann sie, als sie sich wieder von ihm gelöst hatte.

Trey versteifte sich prompt. Er hatte sich bislang nicht dazu durchringen können, ihr von den neuesten Entwicklungen zu berichten. Es musste aber sein, und sie gab ihm jetzt eine Möglichkeit, sie einzuweihen.

“Was ist damit?”

“Ich habe eigentlich gar nichts mehr mitbekommen, seit Dennis Rawlins verhaftet wurde. Was ist seitdem passiert?”

“Einiges, und sogar einiges Interessantes.”

“Zum Beispiel?” fragte sie und setzte sich auf die Bettkante.

Er nahm neben ihr Platz, obwohl er sich eigentlich auf den Weg ins Büro hätte machen müssen. Dann erzählte er ihr von Foster Lawrence’ Geständnis, von Sheree Collier und der DNS-Probe, außerdem von ihrer Zwillingsschwester Laree, die seit einem Vierteljahrhundert verschwunden war.

“Ich weiß, das sind alles Neuigkeiten, die dir Angst machen. Aber vergiss dabei nie, dass weder Marcus noch ich uns darum scheren, wie das Ergebnis ausfällt. Du bist diejenige, die wir lieben.”

Olivia nickte und ließ sich gegen ihn sinken, damit er sie in die Arme nehmen, ihr Trost spenden und ihr die Zuversicht geben konnte, die sie im Moment so dringend benötigte.

Eine Weile später fuhr Trey zur Arbeit. Sie winkte ihm nach, als sei alles in bester Ordnung. Kaum war sie jedoch allein, begann sie zu zittern. Ihre ganze Welt hing von der DNS einer ihr fremden Frau ab. Sie ertrug nicht den Gedanken, möglicherweise das Kind einer Mörderin zu sein. Auch wenn Michael Sealy ihr Vater war, würde Grampy sie mit anderen Augen sehen und immer daran denken, dass ihre Mutter seinen Sohn umgebracht hatte.

“Oh Gott”, flüsterte sie. “Lass das bitte nicht geschehen.”

Gegen Mittag herrschte in Treys Haus Hochbetrieb. Ella war aus dem Krankenhaus entlassen und nach Hause gebracht worden. Sie genoss es jetzt umso mehr, am Pool ihres Nachbarn zu sitzen.

Terrence und Carolyn waren ebenfalls gekommen, zeigten sich entsetzt über Olivias Schussverletzung und waren sehr angetan von Ella, die viele Geschichten über Trey zu erzählen wusste, der nun auch ihr Held war.

“… und dann trat er die Tür ein und feuerte los. Sie können sich nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als er ins Haus gestürmt war!” sagte sie.

“Oh, das glaube ich Ihnen aufs Wort”, erwiderte Carolyn und sah wieder zu Olivia. “Und du kennst ihn schon seit der High School?”

“Nicht wirklich. Ich kannte ihn, als ich auf der High School war, aber danach … tja … wir verloren uns aus den Augen. Erst als das tote Baby entdeckt wurde und er den Fall bekam, sahen wir uns wieder.”

Carolyn legte beide Hände aufs Herz. “Das ist ja so romantisch. Eine Jugendliebe findet wieder zusammen.”

“Typisch meine Frau”, meinte Terrence. “Sie sieht immer das Romantische.”

“Warum auch nicht? Was ist denn so schlimm an einem Happy End?”

“Ganz genau mein Reden”, pflichtete Ella ihr bei und zwinkerte Olivia zu. “Ich glaube, es wird mir gefallen, Sie zur Nachbarin zu haben.”

Prompt lief Olivia rot an, fühlte sich aber glücklicher als jemals zuvor. “Wie wäre es mit etwas zu essen”, wechselte sie schnell das Thema.

Carolyn sprang auf. “Darum kümmere ich mich. Du musst mir nur zeigen, wo ich alles finden kann.”

“Komm mit”, sagte Olivia und warf Ella einen warnenden Blick zu, als die ebenfalls aufstehen wollte. “Sie können mit ins Haus kommen”, sagte sie dann. “Aber Sie werden keinen Finger rühren.”

“Gestatten Sie?” Terrence bot Ella den Arm an, sie hakte sich dankbar ein.

Gemeinsam gingen sie in die Küche, Ella setzte sich murrend an den Tisch. Olivia und Carolyn bereiteten für sie alle Sandwiches zu, als an die Haustür geklopft wurde.

“Ich mache auf”, rief Terrence und ging aus dem Zimmer.

“Das werden Grampy und Anna sein”, sagte Olivia.

“Dann sollten wir gleich ein paar Sandwiches mehr belegen”, meinte Carolyn.

Olivia nickte und schnitt eine weitere Tomate auf. Sie spülte sich die Hände ab, als Marcus und Anna hereinkamen. Ihr Kindermädchen hielt eine Puppe in den Armen, machte ansonsten aber einen gesunden Eindruck. Ihr Haar war gewaschen und geschnitten worden, sie trug eine beigefarbene Hose, dazu eine weit geschnittene Baumwollbluse in Rosa und Beige.

Annas Gesicht verriet ihre Verwirrung, doch als Olivia sie mit ihrem Namen ansprach, da entspannte sie sich etwas.

“Grampy! Ich bin ja so froh, dich zu sehen. Und danke, dass du Anna mitgebracht hast.” Sie legte eine Hand auf Annas Arm und stellte sich vor sie. “Anna, es ist schön, dich wiederzusehen.”

Anna stutzte. Sie kannte diese Stimme, und als sie die Frau genauer betrachtete, die vor ihr stand, erkannte sie auch das Gesicht wieder. “Olivia? Bist du meine Olivia?”

Sie legte die Arme um Annas Schultern und drückte sie einfach nur an sich. “Ja, Darling. Ich bin deine Olivia. Komm und setz dich zu Ella, sie ist eine neue Freundin von mir.”

“Kann sie Hackbraten machen, so wie Rose ihn macht?” wollte Anna ein wenig misstrauisch wissen.

“Niemand macht Hackbraten so wie Rose”, entgegnete Olivia. “Aber Ella kann Karten spielen. Sie kann sehr gut pokern.”

Ella grinste und zeigte auf den Stuhl neben ihr. Sie wusste von dem verwirrten Zustand, in dem sich die Frau befand, und fühlte mit ihr mit.

“Ich spiele auch gern Karten”, erklärte Anna.

“Dann werden wir das auch machen”, meinte Ella. “Was spielen Sie denn am liebsten?”

Anna überlegte kurz. “Am liebsten spiele ich Hearts.”

Olivia legte wieder den Arm um sie, versuchte aber, nicht auf die Puppe zu sehen, die sie an sich drückte. “Wir können nach dem Essen spielen. Möchtest du mit uns essen, Anna?”

“Ja, gern.”

“Die Sandwiches sind fertig!” rief Carolyn in die Runde.

“Wunderbar, ich verhungere bald”, meinte Terrence, korrigierte sich dann aber ein wenig verlegen. “Nun, ich sollte wohl nicht sagen, dass ich verhungere, aber ich habe großen Hunger.”

Alle mussten lachen, was der Atmosphäre gut tat. Sogar Marcus konnte sich zu einem leisen Lachen durchringen. Als sie sich setzten, flüsterte er Olivia ins Ohr: “Wie fühlst du dich im Moment?”

Sie widerstand der Versuchung, die Augen zu verdrehen. “Ich fühle mich gut, Grampy. Ich bin nur froh, wenn das alles endlich vorüber ist.”

“Trey hat dir von der Schwester von Foster Lawrence erzählt?”

“Ja.”

“Er bat mich, ein paar alte Fotoalben mitzubringen, damit diese Frau sie sich ansehen kann. Ich habe die Alben ins Wohnzimmer gelegt.”

Olivia nickte.

“Lass uns jetzt nicht darüber nachdenken”, sagte sie. “Komm greif zu, die Sandwiches sehen köstlich aus.”

Marcus drückte sie an sich, während Carolyn den letzten Teller auf den Tisch stellte. Sie begannen zu essen, bis Anna auf einmal sagte: “Ich finde, wir sollten ein Tischgebet sprechen.”

Alle hielten inne.

“Ja, selbstverständlich, gern”, erwiderte Marcus.

“Ich mache das”, meldete sich Anna prompt wieder zu Wort und legte die Puppe auf den Schoß.

Niemand sprach ein Wort, während sie alle mit gesenktem Kopf dasaßen.

Sekundenlang schwieg auch Anna, dann endlich beugte sie sich vor und schloss die Augen. “Danke für das Essen, danke für die Freunde, und danke, dass du mir geholfen hast, mein Baby zu finden. Amen.”

“Amen”, wiederholten die anderen.

Es folgte ein verlegenes Schweigen, doch kaum hatten sie wieder zu essen begonnen, war das kurzzeitige Unbehagen verflogen. Als sie fertig waren, holte Olivia Ellas Kekse aus dem Vorratsschrank, und Carolyn schenkte jedem Eistee nach.

Marcus lobte die Kekse, und Carolyn nahm ihn hoch, weil ihm Krümel im Mundwinkel klebten, da hörten sie, wie die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde.

Carolyn hielt mitten im Satz inne, es folgte ein langes Schweigen von allen Seiten, bis Olivia sagte: “Das wird Trey sein.”

Sicherheitshalber stand Marcus auf, um sich zu vergewissern, dass niemand sonst ins Haus gekommen war. Augenblicke später kehrte er mit Trey zurück, doch der war nicht allein.

“Sieht aus, als kämen wir ungelegen”, meinte er und begrüßte Olivia mit einem Kuss auf die Wange.

“Wir haben noch ein paar Sandwiches übrig, falls du Hunger hast.”

Trey zögerte. Er hatte nicht damit gerechnet, mit Sheree Collier in ein Familientreffen zu platzen. Eigentlich wollte er auf dem Weg nur kurz anhalten, um nach Olivia zu sehen, doch jetzt war es zu spät, noch etwas zu ändern. Er sah zu Sheree, die sich sichtlich unbehaglich fühlte. Ängstlich blickte sie in die Runde.

“Darf ich vorstellen? Das ist Sheree Collier. Mrs. Collier, möchten Sie etwas essen?”

“Nein, aber danke der Nachfrage”, entgegnete sie rasch. Ihr war bewusst, dass zumindest ein paar der Leute zu der Familie gehörten, der ihre Schwester etwas Schreckliches angetan hatte.

Jeder nickte ihr höflich zu, doch die Anspannung im Raum war fast greifbar.

Marcus war wie immer ganz der Gentleman, der seine persönlichen Gefühle zurückstellen konnte. “Mrs. Collier, darf ich Ihnen meinen Platz anbieten? Nehmen Sie doch wenigstens ein Glas Eistee und ein paar von diesen Keksen. Die sind köstlich.”

Ella nahm von der gereizten Stimmung nichts wahr, sondern erklärte strahlend: “Ich habe sie selbst gebacken.”

Sheree lächelte gezwungen, sah alle Anwesenden kurz an und setzte sich an den Tisch. Sie nahm einen Keks und knabberte daran herum, während Carolyn einen Eistee einschenkte.

“Haben Sie an die Fotos gedacht?” fragte Trey an Marcus gewandt.

“Ja, sie liegen im Wohnzimmer.”

“Gut, ich hole sie.” Trey ging nach nebenan. Als er zurückkam, räumten Carolyn und Terrence den Tisch ab, Sheree Collier trank einen Schluck Tee und versuchte, unbeteiligt auszusehen, was jedoch unmöglich war.

“Ich habe mein Baby gefunden”, erklärte Anna erfreut.

Sheree warf erst der sonderbaren, übergewichtigen Frau, dann der Puppe einen Blick zu und sah schnell zur Seite. Olivia war den Tränen nah. Von ihrer armen Anna war nur noch eine Hülle geblieben, ihre Persönlichkeit war unwiederbringlich fort.

Nachdem Trey Sheree eines der Alben hingelegt hatte, wandte er sich an die anderen: “Ich denke, Sie alle wissen, wieso Mrs. Collier hier ist. Ihnen sollte auch klar sein, dass sie keine Schuld an dieser Tragödie trägt, von der Ihre Familie heimgesucht wurde. Wenn ihre Anwesenheit dennoch stört, werde ich mich mit ihr ins Wohnzimmer zurückziehen, damit sie sich dort die Fotos ansehen kann.”

“Ich habe kein Problem damit, wenn Sie bleiben”, erklärte Marcus.

Terrence und Carolyn sagten nichts, sondern nickten nur, was Trey als Zustimmung auslegte. Carolyn betrachtete Sheree eindringlich, da sie versuchte, in ihr die Frau zu erkennen, der sie vor so langer Zeit begegnet war. Schließlich aber sah sie zu Trey und schüttelte den Kopf.

Ihm war klar, dass sie nicht sagen konnte, ob sie die Frau war, die sie mit Michael gesehen hatte. Es war einen Versuch wert gewesen, aber sie hatten ja immer noch die Fotos und die DNS-Probe, deren Ergebnis auch diesmal auf sich warten lassen würde.

Auf einmal stockte Sheree der Atem, denn sie hatte zum ersten Mal in die Augen des Kindes geschaut, das ihre Schwester damals entführt hatte – das Kind, das längst zur Frau geworden war. Fragend blickte Trey zwischen den beiden hin und her.

“Alles in Ordnung”, sagte Olivia zu ihm.

Sheree schlug das erste Album auf und überflog die Seiten. Marcus setzte sich zu ihr und erklärte, wer auf den Fotos zu sehen war.

“Das ist meine Frau Amelia mit unserem Sohn Michael. Er war siebzehn, als sie starb. Diese Fotos wollen Sie bestimmt nicht sehen. Kommen Sie, ich blättere weiter zu den Seiten, als Olivia zur Welt gekommen war.”

Sie musste gegen ihre Tränen ankämpfen, als Marcus eine andere Seite aufschlug. “Danke”, sagte sie leise. Ihre Hände in ihrem Schoß zitterten.

Anna stand auf und verließ die Küche.

“Wohin wollen Sie?” fragte Marcus.

“Das Baby muss schlafen”, erwiderte sie.

Ella stand ebenfalls auf. “Ich begleite sie. Wir werden hier sowieso nicht gebraucht.”

“Danke, Ella”, sagte Trey.

Sheree achtete nicht darauf, wer aus der Küche ging, sondern konzentrierte sich ganz auf die Fotos vor ihr. “Wer ist das?” fragte sie und zeigte auf eine der Aufnahmen.

“Michael und seine Frau Kay. Und das ist Olivia, aber sie ist dick eingepackt. Das Foto entstand kurz nach ihrer Geburt auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause.”

Sie nickte und betrachtete zunächst Michaels, dann Kays Gesicht. Schließlich zeigte sie auf Kay. “Wissen Sie … sie sieht meiner Schwester und mir zu der Zeit so ähnlich, sie könnte glatt zu unserer Familie gehören.”

“Tatsächlich?” erwiderte Trey.

“Ja, wir waren auch etwas größer als der Durchschnitt und hatten dunkles, welliges Haar. Ihr Gesicht hat die gleiche Form, und dazu noch diese Stupsnase … seltsam.”

Marcus schwieg, machte aber eine nachdenkliche Miene.

Sie blätterte weiter, bis sie auf ein Foto stieß, das sie stutzen ließ. Es zeigte Michael und Olivia, und es war zu Ostern entstanden. Sie hielt einen kleinen Korb mit bunten Eiern fest, im Gesicht hatte sie etwas Schokolade verschmiert, und ihr Kleid war ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber die beiden lachten und sahen mit strahlenden Mienen genau in die Kamera.

“Oh mein Gott”, murmelte sie.

“Was ist?” fragte Trey.

“Dieses Mädchen.”

“Was ist mit dem Mädchen?” wollte Marcus wissen.

“Das ist das Kind, das ich bei Laree zu Hause gesehen habe.”

“Das ist nicht möglich”, sagte Marcus. “Das ist Olivia kurz vor der Entführung. Sie hatte nie ein Kindermädchen oder einen Babysitter. Sie war nie im Kindergarten. Kay hat sie so gut wie nie aus den Augen gelassen.”

Sheree zog die Brauen zusammen. “Ich weiß, was ich damals sah. Das ist das gleiche kleine Mädchen.”

Trey wurde übel. Sie hatten überlegt, ob sich Michaels Töchter trotz verschiedener Mütter ähnlich sehen könnten. Doch die Annahme, sie seien vielleicht kaum voneinander zu unterscheiden, war ihnen allen als undenkbar erschienen. Olivias Identität beruhte auf Marcus’ felsenfester Überzeugung, er habe das Kind als das richtige wiedererkannt.

“Sie irren sich”, widersprach Marcus.

“Ich weiß, was ich sah”, beharrte Sheree und sah zu Trey, der sich frustriert durchs Haar fuhr.

“Es führt zu nichts, jetzt darüber zu streiten. Wir hatten die Möglichkeit bereits in Erwägung gezogen”, sagte er.

“Welche Möglichkeit?” Marcus sah ihn verständnislos an, während Olivia zurückwich, bis sie die Wand im Rücken spürte. Sie hielt sich die Ohren zu, denn das, was Trey gleich sagen würde, wusste sie auch, ohne es zu hören.

“Die Möglichkeit, dass die beiden Mädchen sich ähnlich sahen.”

Marcus wurde bleich. “Das kann nicht sein, sie hatten verschiedene Mütter.”

“Und Sheree hat bereits erklärt, dass diese Mütter sich verblüffend ähnlich sahen”, gab er zu bedenken und fügte an: “Das kleine Mädchen auf dem Foto sieht Ihrem Sohn doch ähnlich, nicht wahr?”

“Ja, das haben wir von Anfang an gesagt.”

“Warum sollten sich die beiden Mädchen dann nicht ähnlich gesehen haben?”

Marcus wollte etwas dagegen einwenden, doch dann verstand er und senkte den Blick, weil er nicht zugeben wollte, wie Recht Trey hatte.

Der sah zu Olivia, die kreidebleich geworden war.

“Wollen Sie damit sagen, dass ich vielleicht gar nicht dieses Mädchen dort gesehen habe?” fragte Sheree und zeigte auf das Foto.

“Es wäre möglich. Sie sind sich sicher, Sie sahen dieses Mädchen, aber Marcus ist genauso überzeugt davon, dass das nicht sein kann.”

“Mein Gott”, sagte sie. “Wie sollen wir denn die Wahrheit herausfinden?”

“Durch Ihre DNS”, erklärte Trey. “Das Untersuchungsergebnis wird den Ausschlag geben.”

“Lassen Sie mich noch ein wenig blättern”, schlug sie vor. “Vielleicht habe ich mich ja geirrt und nur das gesehen, was ich sehen wollte.”

“Natürlich, wir wollen schließlich Gewissheit haben.”

Sheree schlug die Seiten um und bemerkte, dass es eine große zeitliche Lücke gab, bis das Album fortgeführt worden war.

“Ich nehme an, diese Fotos sind alle erst nach Michaels und Kays Tod entstanden”, sagte sie beim Blättern, während ihr die Tränen kamen. “Es tut mir so Leid, so schrecklich Leid.”

Marcus legte eine Hand auf ihren Arm. “Sie haben niemandem etwas getan, Sie müssen sich überhaupt nicht entschuldigen.”

Doch sie schüttelte nur langsam den Kopf und schlug eine Seite nach der anderen um, bis sie auf einmal stutzte. Mit zitterndem Finger zeigte sie auf eines der Fotos und flüsterte: “Oh mein Gott!”

Trey sah auf das Bild. “Wer ist das?”

“Anna, unser Kindermädchen”, erklärte Marcus. “Als das Foto entstand, arbeitete sie erst seit ein paar Monaten für uns.”

Sheree stockte der Atem, dann stand sie abrupt auf. “Sie hat für Sie gearbeitet? Das kann nicht sein!”

Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, aber Trey war der Einzige in der Runde, der bereits ahnte, was los war. “Kennen Sie die Frau, Sheree? Wer ist sie?”

“Das … das ist Laree. Das ist Laree! Das ist meine Schwester!”

Olivia stöhnte auf und sank an der Wand entlang zu Boden, dann legte sie beide Arme abwehrend über ihren Kopf.

Gleichzeitig wurde Marcus erst blass und lief dann vor unbändigem Zorn rot an. “Ich habe die Frau eingestellt, die meinen Sohn ermordet hat?”

Sheree zitterte, doch ihre Stimme klang mit einem Mal entschlossener als zuvor. “Ich weiß nicht, was sie gemacht hat, aber das ist meine Schwester Laree. Sagen Sie mir, wo sie ist, ich muss sie sehen!”

“Bis vor ein paar Minuten haben Sie ihr gegenübergesessen”, erklärte Trey.

“Wie bitte?”

“Sie ist die Frau, die die Puppe im Arm hatte.”

Nun war es an Sheree, schockiert dreinzublicken. “Das kann nicht sein. Wir sind Zwillinge. Ich würde meine eigene Schwester wiedererkennen.”

Als sie aufstehen wollte, hielt Trey sie zurück. “Bleiben Sie sitzen, das geht alles viel zu schnell.”

Olivia rappelte sich auf und ging zu Trey, damit der sie in die Arme nahm. Er drückte sie an sich und fürchtete um ihr Wohl, wusste aber, dass er darauf keinen Einfluss hatte.

“Livvie … Sweetheart … sieh mich an.”

Sie gab einen wehklagenden Laut von sich, woraufhin er seine Hände um ihr Gesicht legte, dann wiederholte er: “Sieh mich an.”

Endlich schaute sie hoch.

“Zwischen uns wird sich nichts ändern, egal was hier herauskommt.”

Sie nickte stumm.

“Sag es”, drängte er sie.

Erst als sie ihm in die Augen sah, wusste sie, er meinte, was er da sagte. “Zwischen uns wird sich nichts ändern”, wiederholte sie leise.

“Genau.” Er drückte sie wieder an sich, holte gleichzeitig aber sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte eine Nummer. Als sich der Teilnehmer meldete, erklärte er hastig: “Chia, du musst sofort mit Sheets zu mir nach Hause kommen. Der Mord an dem Baby klärt sich gerade auf, und ich brauche unbedingt jemanden Neutrales hier.”

Chia stellte keine Fragen, sondern erwiderte knapp: “Wir sind in fünfzehn Minuten da.”

“Zehn wären besser.”

“Okay, dann eben eine Einsatzfahrt”, gab sie zurück und legte auf.

Trey holte tief Luft, steckte das Telefon weg und drehte sich zu den anderen um. “Wir gehen jetzt alle ins Wohnzimmer und setzen uns hin. Niemand wird ein Wort darüber verlieren, was hier eben gesprochen wurde. Ich bin der Einzige, der etwas sagen wird, alle anderen sitzen einfach nur da.” Er zeigte auf Sheree. “Bekommen Sie das hin?”

Sie bekam ihre Tränen nicht unter Kontrolle, nickte dennoch.

“Marcus, Sie dürfen keinerlei Reaktion zeigen. Wenn ich eine Chance haben soll, etwas aus ihr herauszubekommen, dann nur, wenn sie sich nicht aufregt.”

Marcus bebte vor Wut. “Sie hat in meinem Haus gelebt, sie hat Hand an meine Enkelin gelegt – und ich habe das zugelassen”, erwiderte er.

“Wir wissen nicht mit Sicherheit, welches der beiden Mädchen gestorben ist”, hielt Trey dagegen. “Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich will die Wahrheit erfahren. Werden Sie also schweigen?”

Nach langem Zögern willigte Marcus mit einem knappen “Ja” ein.

“Ich nehme Sie beim Wort”, sagte Trey.

Terrence stand auf und ging zu Marcus. Zum ersten Mal seit jenem Abend, an dem er von Marcus zusammengeschlagen worden war, berührte er ihn. “Marcus, wir sind alle für dich da. Teil diesen Schmerz mit uns.”

Als er Terrence’ Hand an seinem Rücken spürte, zuckte er zwar zusammen, wich aber nicht vor ihm zurück. Carolyn nahm Marcus’ Hand, dann gingen sie gemeinsam nach nebenan ins Wohnzimmer und nahmen schweigend Platz.

Ella sah auf, als sie hereinkamen, und wollte gerade etwas sagen, da sah sie, wie Trey ihr bedeutete, den Mund zu halten. Ein wenig beunruhigt blieb sie in ihrem Sessel neben Anna sitzen, die ihr “Baby” wiegte.

Hinter Trey kam Olivia ins Zimmer. Sie fürchtete sich davor, Anna anzusehen, doch als sie sich ihr näherte, konnte sie ihren Blick nicht abwenden. Das war die Frau, die ihre Eltern ermordet hatte? Es schien so unmöglich, doch sie musste nur Sherees schockierte Miene sehen, um zu wissen, dass sie nicht gelogen hatte.

Nachdem alle saßen, zog Trey einen Hocker heran und setzte sich neben Annas Schaukelstuhl hin. Das Schweigen, das nur für Sekunden anhielt, erschien ihm wie eine Ewigkeit, und schließlich beugte er sich vor.

“Anna?”

Sie sah auf, erkannte das Gesicht des Mannes wieder und lächelte. “Sie lieben Olivia”, sagte sie.

Olivia biss sich auf die Lippe, um nicht laut zu schluchzen.

“Ja, das stimmt. Ich liebe sie sogar sehr.”

“Liebe ist etwas Gutes”, erklärte Anna und drückte die Puppe fester an sich.

“Wer liebt Sie, Anna?”

Sie runzelte die Stirn. “Na … Olivia liebt mich. Sie hat mich schon immer geliebt.” Dann beugte sie sich vor und fügte im Flüsterton an: “Schon immer. Seit dem Tag, an dem sie geboren wurde.”

Olivia hielt sich die Hände vors Gesicht. Sie konnte nicht länger dieser Frau ins Gesicht sehen, die womöglich ihre Mutter war – ihre Mutter, die Michael und Kay und deren Tochter getötet hatte.

Am liebsten wäre sie aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen, jedoch war sie sich nicht sicher, ob ihre Beine ihr nicht den Dienst versagen würden.

“Welches ist denn Ihr Baby, Anna?”

Wieder legte sie die Stirn in Falten, betrachtete zunächst die Puppe und dann Olivia. Sie schüttelte den Kopf. “Nicht fair, nicht fair.”

Treys Mitgefühl für Olivia wurde schier unerträglich, doch er durfte jetzt nicht aufhören. “Was ist nicht fair?”

Anna schürzte die Lippen, und auf einmal schob sie die Puppe ein Stück weit von sich fort. “Er will mich nicht, er will das Baby nicht. Nicht fair, nicht fair!”

“Wer will Sie nicht, Anna? Wer will Ihr Baby nicht?”

Anna ballte die Fäuste, gab aber keine Antwort.

Trey sah kurz zu Sheree. Er wusste, er ging das Risiko ein, von Anna gar nichts mehr zu erfahren, doch einen anderen Weg sah er nicht.

“Laree”, sagte er leise.

Anna zuckte zusammen, als hätte man sie geschlagen. Tränen stiegen ihr in die Augen, während sie verneinend den Kopf schüttelte. “Sie ist tot.”

“Wer ist tot?”

“Laree. Niemand wollte sie … oder ihr Baby.” Dann begann sie amüsiert zu lachen. “Aber Anna wollten sie haben. Anna war etwas ganz Besonderes. Sie bekam ihr Baby und durfte dort leben, wo sie hingehörte.”

“Lieber Gott”, murmelte Marcus, was ihm einen warnenden Blick von Trey einbrachte. Terrence legte Marcus einen Arm um die Schultern, während Carolyn seine Hand hielt.

“Wer wollte Laree nicht?” hakte Trey nach.

“Michael. Michael hatte gelogen. Aber man soll nicht lügen.”

Das Heulen von Polizeisirenen unterbrach das unbehagliche Schweigen, das sich im Wohnzimmer ausgebreitet hatte. Trey sah zu Ella, die als Einzige keinen persönlichen Bezug zu den Enthüllungen hatte.

“Könnten Sie das Empfangskomitee spielen?” fragte er sie.

“Auf jeden Fall”, erwiderte sie. “Ich warte draußen auf Ihre Kollegen und bringe sie dann ins Haus.”

“Danke.”

Anna sah nachdenklich auf die Puppe, die sie fortgestoßen hatte. “Zu viele Babys. Michael wollte Laree nur einmal, und dann hatte sie das dämliche Baby.”

“Wenn Laree ihr eigenes Baby nicht wollte, warum hat sie dann das andere Baby an sich genommen?”

“Welches andere Baby?” fragte Anna.

“Das Baby in Michaels Haus.”

“Das war mein Baby. Mein Baby hatte es verdient, etwas Besonderes zu sein.”

Trey war verblüfft. Was hatte sie gerade eben gesagt? Hatte sie ihr eigenes Kind durch das Sealy-Baby ersetzt?

Olivia schluchzte leise, Trey konnte es deutlich hören. Doch er konnte sich jetzt nicht um sie kümmern, wenn er nicht riskieren wollte, dass Anna aufhörte zu reden.

“Ihr Baby war etwas Besonderes”, wiederholte er.

“Ja, etwas ganz Besonderes.”

“Welches Baby haben Sie dann in einen Koffer gesteckt und eingemauert?”

Anna zuckte heftig zusammen und krallte sich in die Armlehnen, wobei die Puppe von ihrem Schoß rutschte und so unglücklich auf den Boden auftraf, dass der Kopf zerbrach.

Der Knall ließ Anna entsetzt aufschreien, und sie wollte nach der Puppe greifen, doch Trey hielt sie fest.

“Welches Baby?” bedrängte Trey sie. “Welches Baby haben Sie umgebracht?”

Anna hielt sich die Ohren zu, während sie die Antwort herausschrie: “Das Falsche war bei Michael. Ich gab ihnen meins!” Dann verlor sie das Bewusstsein und rutschte vom Schaukelstuhl auf den Boden.