18. KAPITEL

Ella trug Rot, weil sie es für eine kräftige Farbe hielt. Und mit einundachtzig Jahren konnte sie alle Kraft gebrauchen, die sie fand.

Olivia hatte wieder den blauen Morgenmantel angezogen, mit dem sie hergekommen war, und der Anblick der ganz in Rot gekleideten Ella machte sie neidisch. Sie war Nachthemden und Hausanzüge leid, umso mehr freute sie sich auf einen Besuch von Marcus, der ihr von zu Hause etwas anderes zum Anziehen mitbringen wollte. Er hatte sie gewarnt, der Brandgeruch könnte in den Stoff eingezogen sein, doch das war für sie das kleinste Problem. Hauptsache, sie konnte sich wieder normal kleiden.

Der Physiotherapeut hatte mit ihr eine Reihe von Übungen durchgesprochen, die sie täglich machen musste. Er war damit einverstanden, dass sie dafür den Pool hinter dem Haus benutzte. Daraufhin hatte sie noch schnell ihren Großvater angerufen, damit der ihr auch einen Badeanzug mitbrachte.

An diesem Morgen war Ella ungewöhnlich ruhig, während sie im Haus aufräumte und Staub saugte.

Kaum war das Telefonat mit ihrem Großvater beendet, ging Olivia duschen, danach suchte sie Ella und fand sie in der Küche vor, wie sie einen Keksteig zubereitete.

“Kann ich helfen?” fragte sie.

Ella sah Olivias leicht gerötete Wangen und die Art, wie sie ihren Arm hielt, dann zeigte sie auf den Stuhl. “Ja, Missy, indem Sie sich hinsetzen, bevor Sie noch zusammenbrechen.”

“Sehe ich so schlecht aus?” entgegnete sie, während sie sich setzte.

“Sie haben bestimmt schon mal besser ausgesehen”, meinte Ella leise und gab etwas Bittermandelöl in den Teig.

Olivia lachte, was sie mit einem Grinsen kommentierte.

Es klingelte an der Haustür. “Ich mache schon auf”, rief sie.

Ella richtete den Holzlöffel auf sie und sagte mit ernster Stimme: “Sitzen bleiben. Ich habe hier das Sagen.”

“Das ist bestimmt Grampy.”

“Na und? Ich habe doch keine Angst vor irgendeinem alten Mann.” Mit diesen Worten stolzierte sie aus der Küche und hatte noch immer den Holzlöffel in der Hand.

Olivia verdrehte die Augen, stand auf und folgte Ella zur Tür. Wie ihr Großvater reagieren würde, wenn ihn eine feurige Hausfrau in eben solchem Rot begrüßte, konnte sie nicht einschätzen, daher wollte sie lieber mit dabei sein.

Sorgen hätte sie sich aber nicht machen müssen, denn so wie es aussah, sorgte Marcus’ Charme dafür, dass Ella sofort auftaute und förmlich dahinschmolz.

“Geben Sie mir den Koffer, ich stelle ihn in Olivias Zimmer, während Sie Ihr Mädchen begrüßen”, sagte sie und nahm ihm den Koffer ab, dann ging sie an Olivia vorbei und zwinkerte ihr zu.

“Olivia, Darling”, rief Marcus, kam auf sie zu und küsste sie auf die Wange. “Es ist so schön, dich wohlauf zu sehen.”

Sie schloss die Augen, genoss den Duft seines Aftershave und das angenehm vertraute Gefühl, von ihm in die Arme genommen zu werden.

“Wie geht es dir? Hast du alles, was du brauchst?”

“Es geht mir gut”, erwiderte sie. “Du bist derjenige, der im Hotel wohnen muss. Hat das Feuer großen Schaden angerichtet?”

“Setz dich lieber hin”, sagte er und deutete aufs Sofa.

“Dann setzen wir uns aber in die Küche”, entgegnete Olivia. “Ella will Kekse backen, und ich bin die offizielle Vorkosterin.”

“Seit wann denn das?” wunderte sich Ella, die soeben in die Küche zurückkam.

“Seit Sie mir gesagt haben, ich soll mich hinsetzen, bevor ich umfalle!”

Ella schürzte die Lippen und sah Marcus vorwurfsvoll an. “Die Kleine ist verwöhnt, aber ich nehme an, das wissen Sie, weil Sie wahrscheinlich der Übeltäter sind.”

“Nicht verwöhnt”, korrigierte er. “Nur sehr geliebt.”

Olivia verzog den Mund. “Sie ist nur so giftig, weil ich ihr gestern Abend beim Pokern jeden Cent abgenommen habe.”

Einen Moment lang reagierte Marcus verwundert auf den zänkischen Tonfall der beiden, dann aber erkannte er, wie viel Humor dahintersteckte. “Poker? Du hast gepokert?”

Ella rümpfte die Nase. “Eine Pokerpartie hat noch niemandem geschadet.”

“Stimmt”, meinte er und hätte sich vor Freude darauf fast die Hände gerieben. “Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal Karten gespielt habe.”

“Sobald die Kekse fertig sind, könnten wir ja ein oder zwei Runden spielen”, schlug Ella vor.

“Sehr gerne”, antwortete Marcus erfreut, während Ellas Augen funkelten.

“Machen Sie sich bloß keine falschen Hoffnungen”, warnte Olivia. “Was ich über Karten weiß, habe ich alles von Grampy gelernt.”

“Sie lasse ich wieder gewinnen”, meinte Ella. “Aber er ist auf sich allein gestellt.”

“Was heißt hier ‘wieder’?” rief Olivia aus. “Ich habe fair gewonnen. Das sagen Sie nur, weil Sie Ihr Gesicht wahren wollen!”

Wieder zeigte Ella mit dem Holzlöffel auf sie. “Honey, ich bin einundachtzig Jahre alt, ich habe es längst nicht mehr nötig, mein Gesicht zu wahren.” Dann betrachtete sie Marcus nachdenklich und fügte an: “Wenn wir spielen, dann aber nicht nur wieder um Streichhölzer.”

Er nickte. “Einverstanden.”

Nachdem Ella auch das letzte Blech mit frischgebackenen Keksen aus dem Ofen geholt hatte, während Olivia und ihrem Großvater das Wasser im Mund zusammenlief, stellte sie jedem ein Glas Eistee hin und begann, die Karten zu mischen.

“Ich nehme keine Gefangenen”, warnte sie und gab die Karten aus.

“Ich mag Frauen, die keine Angst kennen”, gab Marcus zurück und aß einen Keks.

Zwei Runden lang spielte Olivia mit, dann zog sie sich zurück, um sich eine Weile hinzulegen – was die beiden anderen jedoch kaum registrierten …

Zufrieden lächelnd schlief Olivia wenig später ein.

Mit schwungvollen Schritten kam Trey ins Büro. David Sheets nickte ihm beiläufig zu, stutzte dann aber, als er Treys fröhlichen Gesichtsausdruck bemerkte. Chia sah es ebenfalls und zog verwundert die Augenbrauen zusammen. Trey begann zu lachen, weil es einfach ein schöner Tag war. Die Nacht hatte er mit Olivia verbracht, und als er aufgewacht war, hatte er als Erstes ihr Lächeln gesehen. Die Aussicht darauf, jeden Morgen so erwachen zu dürfen, gab ihm das Gefühl, im siebten Himmel zu sein.

Außerdem trug der Volltreffer namens Sheree Collier einiges dazu bei, seinen Frust etwas abzubauen, den der Fall des toten Babys ihm bislang bereitet hatte.

“Was strahlst du denn so?” wollte Sheets wissen, als Trey sich an seinen Schreibtisch setzte.

“Dank deiner Partnerin haben wir jetzt vielleicht den großen Durchbruch, was den Mord an dem Baby angeht”, erwiderte er.

Chia stieß einen Freudenschrei aus.

“Beim dritten Anruf hatte ich eine Sheree Lawrence Collier aus Miami, Florida, am Apparat.”

“Phantastisch! Dann weißt du jetzt, wo Laree abgeblieben ist?”

“Nein, und es kommt noch schlimmer. Sheree hat seit Fosters damaliger Verhaftung nichts mehr von ihrer Schwester gehört oder gesehen.”

Lieutenant Warren kam zu ihnen, während Trey erzählte. “Höre ich richtig? Sie haben eine Verbindung zwischen Michael Sealy und Laree Lawrence?”

“Nein, was ich habe, ist eine Verbindung zwischen Foster und Laree. Von Sheree weiß ich, dass Laree einen reichen Freund hatte, der sie angeblich zu einer glücklichen Frau machen wollte.”

Warren runzelte die Stirn. “Mit der Verbindung kommen wir vor Gericht aber nicht weiter.”

“Noch nicht, doch das dürfte sich ändern”, sagte Trey.

“Und wie?”

“Eineiige Zwillinge haben die gleiche DNS, und Sheree Lawrence Collier ist auf dem Weg hierher. Sie will freiwillig eine DNS-Probe abgeben. Wenn die auf das tote Baby oder auf Olivia Sealy passt, dann wissen wir, wer außer Foster noch an der Entführung beteiligt war. Sie will auch mit ihm reden, weil sie hofft, ihn dazu zu bringen, endlich zu sagen, was er weiß.”

Warren grinste breit und schlug Trey leicht auf den Rücken. “Gut gemacht.”

“Chia können Sie auch gratulieren. Ohne sie wären wir auf diese Spur nicht gekommen.”

Sie nickte kurz, als Warren ihr mit einem Blick zu verstehen gab, wie sehr er ihre Arbeit schätzte.

“Wann kommt die Schwester her?” fragte er dann.

Trey sah auf seine Armbanduhr. “Wenn sie keine Verspätung hatte, müsste sie bereits gelandet sein. Sie hat ein Zimmer im Adam’s Mark. Sobald sie dort ist, ruft sie an. Ich bringe sie ins Labor, danach besuchen wir ihren Bruder.”

“Okay”, sagte Warren. “Halten Sie mich auf dem Laufenden. Je eher wir diese Sache hinter uns haben, umso erfreuter wird der Commissioner sein. Ich esse heute mit ihm zu Mittag und werde ihm schon mal sagen, was wir bislang haben.”

Ehe Trey etwas erwidern konnte, klingelte sein Mobiltelefon. “Das ist das Adam’s Mark”, sagte er, nachdem er aufs Display gesehen hatte, dann meldete er sich: “Detective Bonney.”

Die Frauenstimme klang ein wenig nervös. “Detective, hier ist Sheree Collier.”

“Ja, Ma’am. Kann ich Sie abholen?”

“Je eher, umso besser.”

“Ich bin in einer halben Stunde da”, sagte er.

“Gut, ich warte im Foyer auf Sie. Ich trage ein hellblaues Kleid.”

Trey legte auf und sah zu Chia und David. “Wollt ihr mit dabei sein, wenn sie mit ihrem Bruder redet?”

“Auf jeden Fall”, antwortete Chia.

“Dann treffen wir uns in etwa eineinhalb Stunden im Gefängnis.”

“Wir werden da sein”, rief Chia ihm nach.

“Ich frage mich, warum er auf einmal so großmütig ist”, sagte David.

Chia sah ihren Partner nachdenklich an. “Weißt du, dass ich allmählich verstehe, warum Bonney lieber allein arbeitet?”

“Wieso?”

“Du bist eifersüchtig”, erklärte sie.

“Bin ich nicht”, widersprach David.

“Oh doch, das bist du. Du bist so verdammt eifersüchtig, dass du dich selbst nicht ausstehen kannst. Du benimmst dich immer mehr wie ein zickiges Mädchen. Wenn du nicht aufpasst, bekommst du demnächst noch PMS.”

Sheets Gesicht lief vor Wut rot an. Er zeigte auf Chia, doch ihm wollte nichts einfallen, was er sagen konnte, ohne sich noch mehr um Kopf und Kragen zu reden. Frustriert schüttelte er den Kopf und ging hinaus, während Chia ihm grinsend nachsah.

Sheree Collier bemerkte einen großen, gutaussehenden Mann, der das Foyer des Hotels betrat. Er trug eine Jeans, dazu ein weißes Hemd mit schmalen blauen Streifen und ein braunes Jackett. Als ihr die Dienstmarke auffiel, die er am Gürtel trug, stand sie auf.

Trey nahm die Bewegung aus dem Augenwinkel wahr, noch bevor er die Frau an sich sah. Er drehte sich zu ihr um und erkannte auf Anhieb die Ähnlichkeit zu Foster Lawrence. Die Frau war gut gekleidet und wirkte gepflegt, und hätte er nicht in den Akten ihr Geburtsdatum gesehen, wäre es ihm nicht möglich gewesen, ihr Alter zu erraten.

“Mrs. Collier?” fragte er.

Sheree nickte und reichte ihm die Hand.

“Sie machen das Richtige”, erklärte Trey.

Sie reagierte mit einem schiefen Lächeln. “Das sage ich mir auch schon die ganze Zeit.”

“Ich weiß, es muss hart für Sie sein.”

“Bringen wir es hinter uns, okay?” meinte sie seufzend.

“Ja, gut.”

Minuten später waren sie auf dem Weg zum Labor, das vom Hotel nicht allzu weit entfernt lag. Als er auf den Parkplatz einbog, musste er daran denken, welcher Trubel beim letzten Mal hier geherrscht hatte. Heute dagegen war nirgends auch nur ein einziger Reporter zu sehen.

Zum Teil mochte das damit zu tun haben, dass der Fall Sealy für die Medien längst abgehakt war, weil es Aktuelleres gab. In erster Linie hing es aber wohl damit zusammen, dass niemand den Zusammenhang zwischen seinem Fall und Sheree Collier ahnte, so dass die undichte Stelle gar nicht auf die Idee gekommen war, etwas auszuplaudern.

“Das dauert nicht lange”, erklärte er, nachdem sie ausgestiegen waren. “Danach fahren wir sofort zu Ihrem Bruder.”

Sheree nickte und klammerte sich so sehr an seinem Arm fest, dass er fühlen konnte, wie sie zitterte.

“Sie müssen nicht nervös sein”, beteuerte er. “Ich werde nicht von Ihrer Seite weichen.”

“Ich weiß das zu schätzen”, erwiderte sie. “Aber Sie können sagen, was Sie wollen, nichts davon wird mich davon ablenken, dass ich meine eigene Familie hintergehe.”

Trey legte die Stirn in Falten. “Warum sagen Sie so etwas? Sie hintergehen nicht Ihre Familie, sondern Sie versuchen, Foster davor zu bewahren, dass er wieder ins Gefängnis geht.”

“Ja, und gleichzeitig schiebe ich meiner Schwester die Schuld zu.”

“Sie sind sich wohl ziemlich sicher, dass sie die Mutter eines der beiden Kinder ist, nicht wahr?”

Sheree nickte nur.

“Wie kommt das?”

“Nach unserem gestrigen Telefonat sind mir verschiedene Dinge wieder eingefallen.”

“Zum Beispiel?”

“Zum Beispiel die Tatsache, dass da ein Kind in ihrem Haus war, als ich mich mit Laree in den zwei Jahren traf, bevor Foster verhaftet wurde.”

Treys Herz machte bei diesen Worten einen Satz.

“Ein kleines Mädchen?”

Abermals nickte sie.

“Was sagte sie über das Kind?”

“Nicht viel. Sie behauptete, sie würde sich als Babysitterin nebenbei Geld verdienen.”

“Und Sie haben ihr das geglaubt?”

“Sie war mein Zwilling. Wir haben in unserer Jugend vielen Leuten irgendwas vorgemacht, aber nie gegenseitig.”

“Ich darf wohl nicht annehmen, dass Sie ein Foto von den beiden haben, oder?” fragte Trey.

“Nein.”

Trey dachte nach, dann versuchte er einen anderen Weg. “Würden Sie das Kind auf einem Foto wiedererkennen?”

“Könnte sein. Vorausgesetzt, das Foto ist von damals.”

“Wie alt war das Mädchen?”

“Hm, vielleicht eineinhalb bis zwei Jahre.”

“Mal sehen, was ich machen kann”, sagte Trey. “So, dann bringen wir den Test mal hinter uns, damit Sie mit Ihrem Bruder reden können.”

Sheree kniff die Augen zu. Im Gegensatz zu diesem Detective war sie nicht so überzeugt davon, dass ihr Bruder überhaupt mit ihr reden wollte.

“Hey, Lawrence, da will Sie jemand sehen”, sagte der Wärter, als er die Zellentür aufschloss und die Handschellen vom Gürtel nahm. “Arme ausstrecken.” Doch entgegen der Aufforderung bewegte er sich nicht.

Foster blieb auf seinem Bett sitzen. “Ist mein Anwalt da?”

“Ja, aber da sind auch noch ein paar andere Leute.”

“Und wer?”

“Ich bin nicht Ihr Sekretär, Lawrence”, raunte der Wärter ihn an. “Entweder Sie stehen jetzt auf und kommen mit, oder Sie vergessen’s einfach. Aber wenn ich so tief in der Scheiße stecken würde wie Sie, dann würde ich mir zweimal überlegen, ob ich mir eine mögliche Chance entgehen lassen will.”

Es war pure Neugier, die Foster antrieb. Er ließ sich die Handschellen anlegen und in den Verhörraum führen. Als er durch das Fenster in der Tür sah, dass sein Anwalt wirklich gekommen war, schöpfte er Hoffnung. Vielleicht gab es ja gute Neuigkeiten. Gebrauchen konnte er sie weiß Gott mehr als alles andere. Doch er würde weiterhin sehr vorsichtig sein und nicht alles sagen.

Der Wärter öffnete die Tür, legte eine Hand an Fosters Rücken und schob ihn in den Raum. Er sah den Cop, der ihn festgenommen hatte, außerdem die beiden, denen er nach der Festnahme auf der Wache begegnet war. Gerade wollte er protestieren, dass gleich drei Cops angerückt waren, um ihn zu verhören, da bemerkte er eine Frau, die hinter Trey gestanden hatte und nun nach vorn kam. Wer sie war, wusste er nicht. Ihm war nur eines klar: Das hier gefiel ihm gar nicht.

Die Frau lächelte ihn an, und im gleichen Augenblick erstarrte Foster mitten in der Bewegung.

“Hallo, Fossie … lange nicht gesehen.”

“Schwesterherz? Bist du das?”

Sheree sah zu Trey. “Darf ich ihn umarmen?”

Foster trug die Handschellen, außerdem stand der Wärter hinter ihm.

“Ja, sicher.”

Sie näherte sich langsam ihrem Bruder, bis sie dicht vor ihm stand. “Du hast eine Glatze”, stellte sie fest.

“Nein, ich hab mir nur den Kopf rasiert.”

“Oh.”

Einige Sekunden lang herrschte betretenes Schweigen, dann warf Trey Chia und David einen Blick zu, der sie erkennen ließ, dass sie sich in eine Ecke des Raums zurückziehen sollten. Der Wärter ging nach draußen und zog die Tür hinter sich zu. Eine gespannte Ruhe breitete sich im gesamten Raum aus.

Fosters Anwalt ging ebenfalls einige Schritte nach hinten, um seinem Mandanten und dessen Schwester so viel Privatsphäre zu geben, wie es unter diesen Umständen möglich war.

Trey stand da und steckte die Hände in die Hosentaschen, während er Fosters starren Blick erwiderte.

“Fossie.”

Der Spitzname aus seiner Kindheit rührte ihn an, und als er sich wieder der Frau zuwandte, beugte er sich vor und flüsterte: “Schwesterherz?”

Sie umarmte ihn und zog ihn an sich, woraufhin Foster den Kopf auf ihre Schulter legte.

“Oh, Fossie, so viel Zeit ist vergangen …”

“Oh Mann, welche bist du?” fragte er.

Für einen Moment war Sheree wie vor den Kopf gestoßen. Sie und ihre Schwester hatten immer identisch ausgesehen, aber die Familie hatte die beiden stets unterscheiden können. Andererseits waren seit ihrer letzten Begegnung über fünfundzwanzig Jahre vergangen, und so konnte es gut sein, dass er wirklich nicht wusste, wen von beiden er vor sich hatte. Sie konnte es kaum glauben, dass sie so lange keinerlei Verbindung hatten.

“Ich bin’s, Sheree”, antwortete sie und bemerkte den enttäuschten Ausdruck in seinen Augen, den er aber sofort überspielte.

Er nickte. “Ich war mir nicht sicher. Ist das nicht komisch?”

“Es ist nur verständlich, schließlich ist es lange her.”

Wieder ein Nicken.

“Komm, setzen wir uns”, sagte sie.

Foster ließ sich zum Tisch in der Mitte des Raums führen und nahm Platz, während sich Sheree ihm gegenüber hinsetzte. Sein Blick wanderte zu Trey, dann zurück zu seiner Schwester.

“Was machst du hier?” wollte er argwöhnisch wissen.

Sheree seufzte. “Ich kann gut verstehen, dass du überrascht bist. Es ist schon so lange her.”

Er verzog das Gesicht, aber sein Mienenspiel verriet mehr Schmerz als Zorn. “Tja, ich war eine Weile weg. Und du?”

“Ich war auch eine Weile weg, aber jetzt bin ich wieder da.”

“Und warum?”

Tränen stiegen ihr in die Augen, und zum ersten Mal seit ihrer Begegnung sah Trey ihr ihre sechzig Jahre an.

“Wie bist du in diese Sache reingeraten?” fragte sie, aber Foster antwortete nicht. “Foster, war es ‘Ree?”

“Ich weiß nicht, was du da redest”, erwiderte er hastig.

“Ich glaube, du weißt das sehr gut.”

Er beugte sich vor und sagte noch eine Spur leiser: “Halt den Mund, du weißt ja nicht, was du da tust.”

“Ach, Foster”, gab sie zurück, während ihr Tränen über die Wangen liefen. “Ich wünschte, ich wüsste es wirklich nicht, aber … du mußt es uns sagen.”

Er sah zur Seite.

“Wie bist du da reingeraten, Foster? Was hat ‘Ree von dir gewollt?”

Wieder schwieg er.

“Wusstest du von ihrem Baby?”

Foster zuckte zusammen, als hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben. “Sie hatte kein Baby.”

“Ich wusste es auch nicht”, fuhr Sheree fort. “Aber ich glaube, heute wissen wir es beide, nicht wahr?”

Dann begann er ebenfalls zu weinen.

“Was geschah damals, Foster? Sag es mir.”

Er stöhnte leise auf. “Oh Gott … es fing alles mit einer Wand an. Sie rief mich an, um eine Wand zu verputzen.”

“Was für eine Wand?” wollte Sheree wissen.

Resigniert sank Foster in sich zusammen. Vor den Cops hätte er das bis zum Jüngsten Tag verschweigen können, aber nicht vor ihr. “Was weiß ich? Halt eine Wand. Sie sagte, dass sie in einem Haus am See mit Freunden gefeiert hatte, irgendwer war im besoffenen Kopf gegen eine Wand gerannt und hatte ein riesiges Loch reingeschlagen. Sie sagte, dass sie Ärger bekommt, wenn das nicht repariert wird. Also packte ich mein Zeug zusammen und fuhr von Amarillo aus hin.”

Sheree sah zu Trey. “Foster hat damals in der Baubranche gearbeitet.”

Trey nickte nur.

Dass dieser Cop anwesend war, wollte Foster nicht zur Kenntnis nehmen, doch ein Teil von ihm war froh, dass endlich alles ans Licht kam. Er hatte dieses Geheimnis schon viel zu lange mit sich herumgetragen.

“Also bist du hin, um die Wand zu reparieren”, sagte Sheree, um ihn zum Weiterreden zu bewegen.

“Es war ein Haus am Lake Texoma. Weißt du noch, wie wir am vierten Juli immer da hingefahren sind?” Sie nickte. “Jedenfalls komme ich an, und da ist dieses riesige Loch in der Wand. Sie hatte schon eine Rigipsplatte vorgeschnitten und versucht, sie festzunageln, aber sie wusste nicht, was sie weiter machen sollte. Ich mache also alles sauber, verputze die Wand und sage ihr, sie soll sie ein paar Tage trocknen lassen. Wenn sie dann drüberstreicht, ist alles wieder wie neu. Ich will gerade wieder abfahren, da kommt dieses kleine Mädchen ins Zimmer gelaufen.”

“Was sagte ‘Ree dazu?” wollte sie wissen.

“Ich hab sie gefragt: ‘Wer zum Teufel ist denn das?’ Und sie sagt: ‘Meine Tochter.’ Ich flippe bald aus darüber und frage: ‘Deine Tochter? Was soll das heißen?’ Sie lacht daraufhin wie verrückt, das Kind fängt an zu heulen … na ja, und dann gerät auf einmal alles aus den Fugen.”

“Aus den Fugen? Wie meinst du das?”

“Sie nimmt das Kind hoch, damit es aufhört zu heulen, aber es wird nur noch schlimmer. Die Kleine schreit ständig nach ihrer Mama. ‘Ree dreht langsam durch und drückt das Kind zu fest an sich. Ich sag ihr, sie soll aufhören, weil sie der Kleinen wehtut. Aber sie will nicht loslassen. Ich nehme ihr das Kind weg und hau ihr eine runter, damit sie wieder ruhig wird.”

“Half das?”

Foster nickte. “Ja, aber daraufhin bekommt sie einen völlig irren Blick und schreit mich an, damit ich ihr das Baby zurückgebe. Ich frage sie, ob sie das Kind wieder so behandeln will, und sie sagt, das würde mich nichts angehen. Ich sag ihr, ich lasse das Kind erst los, wenn sie damit rausrückt, was eigentlich los ist.”

“Was machte das Kind währenddessen?” warf Trey ein.

Nach kurzem Überlegen begann Foster, mit dem Stuhl vor und zurück zu wippen. “Das Mädchen heulte, bis es in meinen Armen eingeschlafen ist.” Er beugte sich über den Tisch und verbarg das Gesicht.

“Und dann?” drängte Sheree.

“Dann hat ‘Ree die Kleine genommen und hingelegt. Ich bin ihr ins Nebenzimmer gefolgt, und da hab ich das Blut gesehen.”

“Blut?” wiederholte Trey.

“Überall auf dem Boden im Schlafzimmer war Blut, auch auf dem Schlafanzug des Babys. Ich frage ‘Ree, was hier passiert ist, und sie sagt, dass das Kind Nasenbluten hatte. Weil die Kleine nicht verletzt war, hab ich mir eingeredet, dass es stimmt. Dann forderte sie mich zum Gehen auf. Ich wünschte, ich hätte auf sie gehört.”

“Wenn Sie so um die Sicherheit des Kindes besorgt waren, wieso stellten Sie dann eine Lösegeldforderung?” bohrte Trey nach.

Foster sah auf, sein Gesicht war grau und wie versteinert.

“Weiß der Teufel. Ich war einen Moment lang bescheuert, ich war auf das Geld scharf.” Sein Blick kehrte zurück zu Sheree, er machte eine zerknirschte Miene. “Es tut mir so schrecklich Leid. Ich wusste, es war verkehrt.”

“Ich weiß”, entgegnete sie. “Ich weiß.”

“Erzählen Sie zu Ende”, forderte Trey ihn auf.

“Tja, also wir streiten uns, die Kleine wird wieder wach und klettert vom Bett. Sie spielt mit einem alten tragbaren Fernseher rum und macht ihn aus Versehen an. Erst bekomme ich einen Schreck, und dann sehe ich auf einmal, was da gesendet wird. Es geht um die Sealy-Entführung, und plötzlich zeigen die ein Foto von dem verschwundenen Kind. Mir bleibt fast das Herz stehen. Ich frage ‘Ree, was das soll, und da erzählt sie mir vom Vater dieses Mädchens. Er soll ihr versprochen haben, mit ihr irgendwohin zu gehen, und dann hat er sie sitzen lassen. Sie sagt, er soll für seine Lüge bezahlen. In dem Moment denke ich natürlich, dass sie schon ein Lösegeld gefordert hat. Als ich sie nach der Summe frage, meint sie nur, dass sie kein Lösegeld fordert, weil sie das Kind nicht zurückgeben wird.”

“Mein Gott”, stöhnte Sheree auf. “Was hat sich ‘Ree nur dabei gedacht?”

“Gar nichts”, erwiderte Foster. “Sie war verrückt. Du konntest es in ihren Augen sehen. Also bin ich geblieben. Nach ein paar Tagen ziehe ich dann die Nummer mit dem Lösegeld durch. Ich rufe an, und alles läuft ganz einfach. Sie zahlen, ich nehme das Kind mit, gebe ihm ein Schlafmittel und lasse es im Parkhaus im Truck zurück. Und als ich dann losgehe, um das Geld zu holen, da sehe ich, dass die Cops mir folgen. Ich kann sie abschütteln, dann verstecke ich das Geld im Keller in einem Restaurant, in dem ich mal gearbeitet hatte. Ich gehe zurück, hole das Mädchen aus dem Wagen und bringe es in das Einkaufszentrum, damit es auch ja gefunden wird.” Er zitterte am ganzen Leib. “Ich wollte nicht, dass der Kleinen was passiert. Hätte ich sie bei ‘Ree gelassen … ich weiß nicht, was sie ihr vielleicht alles angetan hätte.”

Sheree stand auf, ging um den Tisch herum und nahm Foster in die Arme. Sie weinte um ihn, um ihre Schwester, um das tote Baby und um das Baby, dessen Leben nie wieder so sein würde wie früher.

“Wusstest du, dass ‘Ree ein Kind mit diesem Mann hatte?”

Er schüttelte den Kopf. “Nein, und das schwöre ich bei Gott. Bis vor ein paar Wochen hatte ich keine Ahnung davon. Als ich herkam, dachte ich, ich hole mir mein Geld und mache mir ein schönes Leben. Aber dann sucht mich die Polizei, weil sie mir Fragen stellen will, und dann muss ich auch noch erfahren, dass mein Geld vor Jahren in Flammen aufgegangen ist.”

“Warum hast du das nicht den Cops gesagt, als du damals verhaftet wurdest?” fragte Sheree.

Foster sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. “Sie war meine Schwester. Ich konnte doch nicht zulassen, dass ihr etwas passiert.”

Sheree packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn wie ein Kind, das nicht hören wollte. “Foster! Um Gottes willen! Es war doch schon längst etwas passiert! Du musstest doch gemerkt haben, dass mit ihr etwas nicht stimmte, sonst hätte sie nicht etwas so Entsetzliches getan. Wohin ist sie? Hast du danach noch mal von ihr gehört? Weißt du, wo sie ist?”

“Ich habe sie nicht mehr gesehen seit dem Tag, an dem ich das Mädchen aus dem Haus geschafft habe. Als ich wegfuhr, hörte ich sie schreien, aber ich habe mich nicht umgedreht. Ich hätte es nicht ertragen, sie so zu erleben.”

“Und sie hat sich auch niemals bei Ihnen gemeldet? Sie hat geschwiegen, während gegen Sie die Gerichtsverhandlung lief?” warf Trey ein.

“Nein, nie.”

Trey fluchte stumm. Jetzt wussten sie zwar, wer die Morde begangen hatte, doch der Gerechtigkeit war damit längst nicht gedient.

“Was glauben Sie, warum sie eines der Kinder umgebracht hat?” wollte er wissen.

Foster sah ihn lange an. “Wenn ich das wüsste. Ich hatte ja nicht mal eine Ahnung davon, dass es zwei Kinder waren.”

“Es waren aber zwei Kinder, und wir müssen wissen, welches von beiden getötet wurde.”

“Was soll das heißen?” entgegnete Foster verwundert.

“Möglicherweise sahen sich die beiden Mädchen so ähnlich, dass das falsche Kind an Marcus Sealy zurückgegeben wurde”, erklärte Trey.

Foster schüttelte den Kopf. “Davon weiß ich nichts. Ich habe nur ein Kind gesehen, und das habe ich freigelassen.”

“Was passiert jetzt mit Foster?” wollte Sheree wissen.

“Wir beantragen, dass er sofort aus der Haft entlassen wird”, erklärte der Anwalt. “Für das eine Verbrechen, das er begangen hat, war er lange genug im Gefängnis.”

“Darüber wird der Bezirksstaatsanwalt entscheiden”, hielt Trey dagegen.

Sheree wischte sich die Tränen ab und stand auf, während Foster vor sich hin starrte.

Damit waren sie wieder am Anfang angekommen, dachte Trey. Solange die DNS-Untersuchung lief, konnte niemand sagen, welches Mädchen überlebt hatte und welches ermordet worden war.

Auf einmal drehte sich Sheree zu ihm um. “Detective Bonney, wieso können Sie Laree nicht anhand ihrer Sozialversicherungsnummer ausfindig machen?”

“Auf diese Weise haben wir Sie gefunden, aber ihre Nummer taucht nach dem Zeitpunkt der Morde und der Entführung nirgendwo mehr auf.”

“Glauben Sie, sie ist tot?”

“Ich glaube gar nichts”, erwiderte Trey. “Ich orientiere mich nur an Fakten.”

“Und wohin ist sie verschwunden? Was hat sie gemacht? Wenn sie noch leben würde, müsste sie arbeiten, um Geld zu verdienen, und dann würde ihre Nummer auftauchen.”

“Sie könnte sich eine neue Identität zugelegt haben”, meinte Foster. “Von den Jungs im Knast weiß ich, dass sie das öfters machen. Ist einfacher, als du dir vorstellen kannst.”

“Stimmt das, Detective?” wollte sie wissen.

“Leider ja.”

“Und wie sollen wir sie dann finden? Wie sollen wir erfahren, was aus ihr geworden ist?”

“Ich weiß nicht, Ma’am”, sagte Trey. “Aber dank Ihnen und Ihrem Bruder wissen wir jetzt schon einiges mehr als noch vor einer Woche. Immerhin ist uns jetzt klar, nach wem wir suchen müssen.”

“Aber nach all den Jahren? Vielleicht hat sie zugenommen, oder sie ist grau geworden. Sie würde ganz anders aussehen. Ich färbe meine Haare immer noch in der Farbe, die sie hatten, als ich jung war, und selbst da hat mich mein Bruder nicht sofort erkannt”, gab Sheree zu bedenken.

“Wir könnten ein aktuelles Foto von Ihnen machen und es bearbeiten, um einen Eindruck zu bekommen, wie sie vielleicht heute aussieht.”

Sheree nickte. “Warum nicht? Ich komme mir sowieso schon wie eine Verräterin vor.”

“Nein”, widersprach Foster. “Du hast schließlich nichts getan. Wir waren es. Wir haben die Fehler begangen.”

“Und warum komme ich mir dann so mies vor?”

Foster konnte nichts darauf erwidern. Es gab nichts mehr dazu zu sagen.