2. KAPITEL
Der Duft von frischen Waffeln, der ihm aus der Küche entgegenkam, ließ Marcus Sealy das Wasser im Mund zusammenlaufen. Als er das ausgelassene Glucksen seiner Enkelin hörte, mußte er lächeln. Vermutlich stibitzte sie seiner Haushälterin Rose schneller Frühstücksspeck, als sie die Scheiben in die Pfanne legen konnte.
Nach drei Wochen Urlaub in Europa, den sie sich mehr als verdient hatten, gab es ihm ein gutes Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Am Abend zuvor waren er und Olivia am Flughafen Dallas-Fort Worth angekommen und erschöpft auf sein Anwesen zurückgekehrt. Der lange Flug war so anstrengend gewesen, dass sie sich weder um den Anrufbeantworter noch um den Stapel Eingangspost kümmerten und auch nicht die Koffer auspackten. Sie hatten sich einfach nur noch schlafen legen wollen.
Die Reise war Olivias Geschenk zu seinem siebzigsten Geburtstag gewesen, und es war eine wunderbare und unvergessliche Zeit gewesen. Als er an diesem Morgen aufgestanden war, musste er immer wieder daran denken, wie viel Spaß die Reise ihnen beiden bereitet hatte – und was Olivia ihm bedeutete. Nachdem man seinen Sohn Michael und seine Schwiegertochter Kay vor vielen Jahren ermordet hatte, war ihm seine einzige Enkelin wichtiger als alles andere. Er wusste, er hatte sie stärker behütet, als es für sie gut war, doch für ihn wäre es undenkbar gewesen, nicht unentwegt um ihr Wohl besorgt zu sein. Sie war seine einzige Angehörige, die ihm wirklich etwas bedeutete. Sollte ihr etwas zustoßen, dann würde er das nicht überleben, dessen war er sich ganz sicher.
Schritte rissen ihn aus seinen Gedanken, und einen Moment später sah er Olivia, die soeben aus der Küche kam.
“Grampy! Ich wusste nicht, dass du schon auf bist. Ich dachte, nach dem Flug würdest du ausschlafen wollen.”
Marcus lächelte und gab ihr einen Kuss auf die Wange, während sie die Arme um seinen Hals legte.
“Du hast doch auch nicht ausgeschlafen”, erwiderte er.
“Ich weiß, aber es ist so schön, wieder zu Hause zu sein.”
Er legte einen Arm um ihre Schultern und ging mit ihr zusammen in die Küche. “Hast du mir noch etwas Speck übrig gelassen?” fragte er, als sie sich an den Esstisch setzten.
Olivia verzog das Gesicht und beteuerte: “Natürlich, Grampy. Ich würde dir nie etwas wegessen, auch wenn es noch so köstlich schmeckt.”
Rose brachte einen Teller Speck und eine flache Schüssel Rührei an den gedeckten Tisch. Obwohl nur noch Marcus und Olivia im Haus lebten, geriet er trotz seines Reichtums nie in Versuchung, etwas Extravagantes auftischen zu lassen. Stattdessen legte er stets großen Wert darauf, ein schlichtes, hausgemachtes Essen serviert zu bekommen, weil ihn das an die bescheidenen Verhältnisse seiner Kindheit erinnerte.
“Rose, es sieht wie immer wunderbar aus und es duftet einfach köstlich”, lobte er seine Haushälterin, die ihm eine Tasse Kaffee einschenkte. Es tut gut, wieder zu Hause zu sein und so aufmerksam umsorgt zu werden.
Rose Kopecnick reagierte mit einem Lächeln, dann zwinkerte sie Olivia zu. “Und außerdem schmeckt es auch noch gut, nicht wahr?”
“Das kann ich nur bestätigen”, sagte sie. “Kann ich bitte den Speck haben?”
“Wenn du nichts dagegen hast, bediene ich mich zuerst, damit ich auch noch etwas abbekomme”, gab Marcus zurück. “Der Rest ist dann ganz allein für dich.”
“Geht klar.” Olivia nahm sich eine großzügige Portion Rührei und beobachtete aufmerksam, wie viel Speck Marcus auf seinen Teller legte.
Schweigend stillten beide den größten Hunger, dann begannen sie, sich während des Essens beiläufig zu unterhalten.
“Was hast du für heute geplant?” fragte Marcus, als er seine Serviette zur Seite legte.
Olivia nahm den letzten Schluck Kaffee aus ihrer Tasse und lehnte sich nach hinten. “Koffer auspacken.”
“Und danach?”
“Danach werde ich die wichtigsten Anrufe erledigen und mich dann wieder schlafen legen, bis ich den Jetlag hinter mir habe. Das solltest du auch machen.”
“Ich werde erst dann tagsüber schlafen, wenn ich zu alt für alles andere bin”, gab Marcus zurück.
“Ach, Grampy, du wirst nie zu alt sein.” Olivia verdrehte die Augen, während sie sprach.
Er dachte an die siebzig Jahre seines Lebens, die nun hinter ihm lagen, doch gleichzeitig weigerte er sich beharrlich, darüber zu spekulieren, wie viele Jahre ihm wohl noch blieben. “Geistig vielleicht nicht. Aber wir werden schon noch sehen, was mein Körper dazu zu sagen hat.”
Gerade wollte Olivia nach seiner Hand greifen und sie drücken, als das Telefon klingelte.
“Ich gehe ran”, erklärte sie und eilte aus dem Zimmer.
Marcus stand auf und ging in Richtung Bibliothek, als er hörte, wie Olivia lauter wurde, während sie mit dem Anrufer sprach. “Ich weiß nicht, was Sie da reden”, sagte sie, dann wurde der Hörer aufgeknallt.
Sie hatte die Stirn in Falten gelegt, als sie sich zu Marcus umdrehte, der zu ihr gekommen war. “Olivia … Darling … Was ist los?” rief er besorgt.
“Seltsam”, murmelte sie. “Das war ein Reporter, der von mir wissen wollte, ob ich etwas zur heutigen Schlagzeile zu sagen hätte.”
“Welche Schlagzeile denn?”
“Ich weiß nicht. Ich habe noch nicht in die Zeitung gesehen. Du?”
Marcus schüttelte den Kopf. “Vermutlich hat Rose alle Zeitungen zusammen mit der Post in die Bibliothek gebracht. Komm, lass uns nachsehen.”
Tatsächlich lag auf seinem Schreibtisch ein Stapel Tageszeitungen, daneben befand sich die Post in der Reihenfolge ihres Eingangs. Die aktuelle Zeitung lag zuoberst, und Marcus sah sofort, welche Schlagzeile gemeint war.
“Was soll denn das? ‘Verbindung zwischen Sealy-Entführung und Skelettfund?’ Was hat das zu bedeuten?” Er versuchte, den Artikel zu lesen, doch die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. “Ich brauche meine Lesebrille.”
“Lass mich es doch lesen, Grampy”, sagte Olivia und nahm ihm die Zeitung aus der Hand.
“Was steht da?” wollte er wissen, während sie stirnrunzelnd die Zeilen überflog.
“Irgendjemand hat in Texoma in einem Koffer das Skelett eines kleinen Mädchens gefunden.”
“Oh nein.” Marcus ließ sich auf einen Stuhl sinken. “Das ist ja schrecklich! Aber wieso sollte das etwas mit uns zu tun haben?”
Mit zitternden Händen gab sie ihm die Zeitung zurück. “Weil der Gerichtsmediziner sagt, dass das Mädchen zwei linke Daumen hatte.”
Marcus ließ die Zeitung zu Boden fallen, griff nach Olivias Hand und rieb gedankenverloren über die winzige Narbe an der Stelle, an der sich ihr zweiter Daumen befunden hatte.
“Wir sind nicht die einzige Familie, bei der eine solche Anomalie auftaucht. Warum suchen sie sich ausgerechnet uns heraus?”
Olivia zeigte auf die Zeitung, musste sich aber erst räuspern, ehe sie etwas sagen konnte. “Die Polizei glaubt, das Mädchen wurde vor etwa fünfundzwanzig Jahren getötet … zu der Zeit, als man mich entführt hatte.”
Nach einer kurzen Pause drückte er Olivias Hand noch etwas fester, dann sagte er barsch: “Das beweist doch nur, dass Tragödien jeden treffen können.”
Lange Zeit schwiegen sie beide, schließlich sagte Olivia leise: “Grampy?”
“Was denn?” erwiderte er automatisch, während seine Gedanken immer noch um den Zeitungsartikel kreisten.
“Warst du dir sicher?”
Verdutzt blickte er auf. “Sicher? Wie meinst du das?”
“Als die Kidnapper mich freiließen … warst du dir da sicher, dass ich es wirklich war?”
Er stand abrupt auf und nahm sie in die Arme. “Aber, Olivia. Natürlich war ich mir sicher. Du bist mein Enkelkind. Deine Eltern kamen jeden Sonntag zum Essen zu mir. Du und ich, wir beide fütterten nachmittags die Goldfische im Teich. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich dich die Blüten von allen Begonien abpflücken ließ, weil die sich auf deiner Haut so sanft anfühlten. Ich wusste, du bist es, Darling. Und ich weiß es immer noch. Du darfst niemals glauben, du könntest nicht mein Fleisch und Blut sein.”
Olivia musste ihre Tränen zurückhalten, während sie sich an ihn drückte.
“Es tut mir Leid, dass ich das gefragt habe. Aber wir haben nie darüber gesprochen, und ich wusste nicht …”
Marcus fasste sie an den Schultern und schob sie ein Stück weit nach hinten, bis er ihr ins Gesicht sehen konnte.
“Darling, wir reden nie darüber, weil es nichts zu reden gibt. Du warst noch so klein, gerade mal zwei Jahre alt. Zum Glück kannst du dich nicht daran erinnern, wie deine Eltern ermordet wurden und wo du von wem festgehalten wurdest. Das ist das einzig Gute an dieser schrecklichen Sache. Und ich möchte nicht darüber reden, weil ich fürchte, es könnte dir schaden.”
“Grampy, es tut mir Leid. So habe ich das nie gesehen.”
Lächelnd legte er die Hände um ihr Gesicht. “Du weißt, wer du bist. Überall in diesem Haus gibt es Fotos, die dich und deine Eltern zeigen. Außerdem holen wir doch mindestens einmal im Jahr die alten Alben hervor und sehen sie uns gemeinsam an, nicht wahr?”
Sie nickte bestätigend. “Und die alten Filmaufnahmen”, fügte sie dann an.
“Ja, genau. Dein Vater war völlig vernarrt in dich. Er hat dich immer gefilmt. Ich möchte fast sagen, du bist in deinen ersten beiden Lebensjahren auf mehr Aufnahmen festgehalten worden als manche Menschen in ihrem ganzen Leben. Und es gibt keinen Zweifel daran, dass du das Baby bist, das auf den Fotos und in den Filmen zu sehen ist.”
“Als die Entführer mich freigelassen hatten … war ich da glücklich, dich wiederzusehen?” fragte sie.
“Du warst überhaupt nicht glücklich, Darling”, antwortete er ernst. “Und das hatten die Ärzte auch nicht anders erwartet. Du hast tagelang geweint und immer nur nach deiner Mutter gerufen. Das hat mir fast das Herz gebrochen.”
Olivia legte den Kopf an die Brust ihres Großvaters, da sie Trost suchte. “Wie hast du es ausgehalten?”
“Ich stellte ein Kindermädchen ein, weißt du noch? Anna Walden. Sie schaffte es, dass du langsam wieder zu Kräften kamst und irgendwann auch wieder ein Lächeln über deine Lippen huschte.”
“Da fällt mir ein, es ist ewig her, seit ich Anna das letzte Mal besucht habe.” Auf einmal legte sie die Stirn in Falten. “Glaubst du, die Reporter werden sie wegen dieses Kindes belästigen?”
“Ich weiß nicht, aber wenn einer von ihnen auf diese Gedanken kommt, wird man ihr keine Ruhe lassen”, antwortete Marcus. “Ich werde mir mal ein paar Stunden freinehmen und mit dir raus nach Arlington fahren, doch das muss noch ein wenig warten. Ich möchte zwar keine Minute unseres Urlaubs missen, allerdings fürchte ich, dass sich sehr viel Arbeit angesammelt hat, die erledigt werden will.”
Olivia deutete auf die Zeitung, die auf dem Boden lag. “Und was machen wir damit?”
“Es hat nichts mit uns zu tun, also unternehmen wir auch nichts, okay?”
“Okay”, stimmte sie ihm zu, dann schlang sie noch einmal die Arme um den älteren Mann. “Ich habe dich lieb, Grampy.”
Während er die Umarmung erwiderte, kniff er die Augen zu. “Und ich habe dich lieb, meine Kleine.” Dann ließ er Olivia los und drückte ihr einen Stapel Telefonnotizen in die Hand. “Ich glaube, die sind alle für dich. Verabrede dich nicht zu viel. Auf meine alten Tage werde ich nämlich egoistisch und möchte auch etwas Zeit mit dir verbringen.”
“Versprochen”, gab sie zurück und ging mit den Notizzetteln in der Hand aus dem Zimmer.
Marcus und Olivia Sealy waren an diesem Morgen nicht die Einzigen, die beim Anblick der Zeitung stutzten. Dennis Rawlins – ein Mann mit düsteren Geheimnissen – las die gleiche Schlagzeile, reagierte auf sie aber aus anderen Gründen.
Ohne sich den Details zu widmen, kam er rasch zu einem Urteil und befand, dass die Sealys sich einer tödlichen Indiskretion schuldig gemacht hatten. Er beschloss, sie dafür bezahlen zu lassen.
Es würde umfangreiche Planungen erforderlich machen, doch er war entschlossen, etwas zu bewegen.
Trey parkte seinen Wagen vor der Wache von Grayson County und stellte sich der sommerlichen Hitze von Texas, die nach der Fahrt in einem klimatisierten Fahrzeug umso schlimmer wirkte. Auf dem Weg zum Eingang kam ihm eine ältere Frau entgegen, die ihre Haare rosa gefärbt hatte, die damit genau auf das Fell des kleinen Hundes auf ihrem Arm abgestimmt waren.
Nur mit Mühe gelang es ihm, die Frau nicht anzustarren, als er an ihr vorbeiging. Er wurde aber sofort wieder ernst, als er daran dachte, wie unbehaglich er sich fühlte, dass er an einem Fall arbeitete, der mit Olivia Sealy zu tun hatte. Es kam ihm so vor, als würde er sie hintergehen. Dabei war es lächerlich, Schuldgefühle zu empfinden, schließlich hatte er sie seit elf Jahren nicht mehr gesehen. Und nach ihrer letzten Begegnung waren sie zudem im Streit auseinandergegangen. Er schuldete ihr nichts, erst recht keine Loyalität.
Und doch regte sich unablässig sein Gewissen, als er zum Empfang ging. Dort stand eine Frau, die ihm den Rücken zugewandt hatte und Akten sortierte. Da sie ihn nicht zu bemerken schien, räusperte sich Trey und sagte dann: “Entschuldigung.”
Die Frau zuckte zusammen und fuhr herum.
“Liebe Güte, da bleibt einem ja das Herz stehen! Ich habe die Türglocke gehört, aber ich dachte, das wären Mama und Cujo. Die sind gerade eben nach draußen gegangen.”
“Die Dame mit den rosa Haaren ist Ihre Mutter?”
Grinsend antwortete die Frau: “Ja, und die kleine Ratte auf ihrem Arm ist ihr Hund Cujo.”
“Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht …”
“Ist schon in Ordnung”, wurde er unterbrochen. “Sie ist stolz darauf, so … individuell aufzutreten, wie sie es nennt. Aber Cujo ist wie ausgewechselt, seit Mama sein Fell rosa färben ließ.”
“Das kann ich mir gut vorstellen.”
Die Frau musste lachen. “Und wie kann ich Ihnen behilflich sein?”
“Detective Trey Bonney, ich möchte zu Sheriff Jenner. Ich glaube, er erwartet mich bereits.”
Nach einem kurzen Blick auf den Terminplaner sah die Frau wieder hoch. “Ja, Detective Bonney, der Sheriff ist auch da. Aber im Moment telefoniert er. Sobald er aufgelegt hat, lasse ich ihn wissen, dass Sie hier sind.”
Trey nickte und wollte sich eben auf einen der Stühle setzen, da ging die Tür zum Büro des Sheriffs auf, ein Mann kam heraus.
“Sheriff Jenner … Detective Bonney ist hier.”
Blue Jenner hielt inne und sah zu ihm, dann streckte er ihm die Hand entgegen. “Detective, ich habe gehört, dass Sie hergeschickt wurden.”
“Nach dem Fund am Lake Texoma ließ sich der Lieutenant nicht davon abbringen”, gab Trey zurück.
“Ich bin froh über jede Hilfe, die ich bekommen kann”, sagte Jenner und fuhr sich durchs Haar. “Ich habe ein Verbrechen, das lange zurückliegt, und nicht die kleinste Spur. Wer weiß, ob die Täter überhaupt noch leben. Falls nicht, kann ich nur hoffen, dass sie in der Hölle schmoren. Es ist schon lange her, dass mir ein Fall so zu schaffen gemacht hat.”
“Dann steht also fest, dass das Skelett bereits seit fünfundzwanzig Jahren in dem Koffer liegt?” fragte Trey.
Sein Gegenüber nickte. “Reden wir doch in meinem Büro weiter”, sagte Jenner dann und führte den Besucher in sein Zimmer. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, dann schlug er die Akte auf und schob sie Trey hin. “Da ist alles drin, was wir wissen.”
Aufmerksam blätterte Trey die Unterlagen durch, bis er auf den Autopsiebericht stieß. Nur mit Mühe konnte er seine Fassung bewahren, als er die Zeichnungen sah, die der Gerichtsmediziner von den winzigen Knochen angefertigt hatte, ausführlich versehen mit Anmerkungen zum Alter und zur Art der Verletzungen, die dem Mädchen zugefügt worden waren. Obwohl Trey seit Jahren als Polizist arbeitete, konnte er sich nicht an Fälle gewöhnen, bei denen Kinder betroffen waren.
“Wie sicher ist das Datum des Todes?” wollte er wissen.
“So sicher, wie es nur geht.”
Dann war dieses Kind also tatsächlich in etwa zu der Zeit umgekommen, als Olivia entführt worden war. Dass zwei kleine Mädchen mit einem zusätzlichen Daumen an der linken Hand zur gleichen Zeit im Großraum Dallas verschwinden sollten, ohne dass zwischen ihnen ein Zusammenhang bestand, war so gut wie unmöglich.
“Was haben Sie bislang herausgefunden?” fragte Trey.
“Wir suchen nach den Vorbesitzern des Hauses. Leider war das in den letzten fünfundzwanzig Jahren eine ganze Reihe.”
Trey überlegte, was er machen sollte, doch Lieutenant Warrens Anweisungen ließen eigentlich keinen Entscheidungsspielraum. “Mein Chef will Gewissheit haben, dass alle Aspekte dieses Falls abgedeckt werden. Deshalb würde ich mir gern die Stelle ansehen, an der der Leichnam gefunden wurde.”
“Kein Problem”, erwiderte Jenner. “Waren Sie schon mal in Texoma?”
“Ja, allerdings ist das schon ein paar Jahre her.”
Blue nahm ein Blatt und einen Stift. “Ich zeichne Ihnen den Weg auf.”
“Das wäre nett, danke.”
Nachdem er ihm einige markante Punkte auf der Zeichnung erklärt hatte, brachte Jenner seinen Besucher zur Tür. “Hören Sie, Bonney. Wenn das wirklich mit dem Sealy-Fall zu tun haben sollte, dann macht es mir nichts aus, wenn Ihre Abteilung die Untersuchung übernimmt. Halten Sie mich dann nur auf dem Laufenden.”
“Wenn es einen Zusammenhang gibt”, erwiderte Trey mit einem Schulterzucken, “dann werden wir wohl alle den Fall dem FBI überlassen müssen. Das hat schon beim ersten Mal die Leitung gehabt. Die Jungs vom FBI waren auch diejenigen, die den Kerl schnappten, der das Lösegeld abholte. Fisher Lawrence hieß er, glaube ich. Nein, Foster. Foster Lawrence.”
Nachdenklich sah Blue ihn an. “Ich glaube nicht, dass ich jemals etwas von einer Lösegeldzahlung gehört habe. Das ist alles lange vor meiner Zeit passiert.”
“Mir geht es nicht anders”, pflichtete Trey ihm bei. “Allerdings bin ich mit Olivia Sealy zur Schule gegangen.”
“Ehrlich? Wie war sie denn so?”
“Reich”, gab er knapp zurück.
Blue grinste, wechselte dann aber das Thema: “Hat dieser Lawrence eigentlich die Namen der anderen Entführer verraten?”
“Ich habe gestern die alten Berichte durchgelesen, aber so wie es aussieht, hat er dem FBI gar nichts gesagt.”
“Wie konnte man ihn denn dann mit dem Verbrechen in Verbindung bringen?”
“Er wurde beobachtet, als er das Lösegeld abholte. Als man ihn kurz aus den Augen verlor, versteckte er das Geld irgendwo. Er beteuerte, nichts davon zu wissen, dass irgendjemand getötet werden sollte.”
“Oh ja, sie sind immer völlig ahnungslos, nicht wahr?”
Trey nickte zustimmend, dann reichte er Jenner die Hand: “Danke für die Informationen. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie eine Übersicht über alle ehemaligen Eigentümer des Hauses haben?”
“Auf jeden Fall.”
Die Wegbeschreibung, die Jenner ihm aufgezeichnet hatte, war sehr präzise, so dass Trey keine Mühe hatte, das Haus zu finden. Letzte Zweifel wurden ausgeräumt, als er die Einfahrt erreichte, die zu besagtem Anwesen führte. Er fuhr vor und erkannte, dass er nicht allein war. Ein großer grauhaariger Mann war damit beschäftigt, einen Karton zu einem Umzugswagen zu tragen. Als er Trey sah, wurde er misstrauisch.
“Tut mir Leid, Mister, aber Sie befinden sich auf Privatbesitz”, rief der Mann. “Ich muss Sie bitten, das Grundstück zu verlassen.”
Trey hielt ihm seine Dienstmarke entgegen. “Detective Bonney, Dallas Police Department”, sagte er.
Der Mann stellte den Karton in den Wagen. “Marshall Baldwin”, erwiderte er dann. “Ich bin der Eigentümer. Was hat denn die Polizei von Dallas mit dem Fall zu tun?”
“Möglicherweise gar nichts, Sir. Aber ich muss mich trotzdem damit befassen. Sie haben den Koffer gefunden?”
Marshall nickte langsam und schob die Hände in die Hosentaschen. “Ja, und es war entsetzlich, einfach schrecklich. Pansy und ich werden das niemals vergessen.” Gequält sah er sich um. “Das hier sollte unser Traumhaus werden, aber jetzt ist daraus ein Albtraum geworden.” Tränen liefen ihm über die Wangen, als er weiterredete: “Dieses arme kleine Mädchen.”
Trey musste tief durchatmen, da der Mann ihm die Arbeit keineswegs erleichterte. “Da Sie ja nun noch hier sind”, zwang er sich zu sagen, “könnten Sie mir vielleicht mit Ihren eigenen Worten schildern, wie sich das Ganze abgespielt hat.”
“Ich schätze, es wird mich nicht umbringen, wenn ich es noch ein weiteres Mal erzähle.” Er stutzte, dann verdrehte er die Augen und fügte an: “Ich wollte nicht …”
“Schon gut, Mr. Baldwin. Ich möchte es nur lieber von Ihnen hören, anstatt mich ausschließlich auf den Polizeibericht zu verlassen.”
Während er Trey ins Haus führte, schilderte er ihm, wie sie bei der Renovierung auf den Koffer gestoßen waren. “Pansy dachte, wir hätten einen Schatz gefunden.”
“Das muss hart für Sie gewesen sein”, sagte Trey.
“Hart ist gar kein Ausdruck dafür”, gab der Mann zurück. “Pansy bricht noch immer ständig in Tränen aus. Wir haben selbst fünf Enkel, müssen Sie wissen. Ich kann mir nicht erklären, wie jemand einem kleinen Kind so etwas Schreckliches antun kann.”
“In meinem Beruf bekomme ich zwar ständig schreckliche Dinge zu sehen”, pflichtete Trey ihm bei. “Aber wenn es Kinder betrifft, dann geht einem das immer an die Nieren.”
Der alte Mann nickte. “Kann ich gut verstehen.” Er deutete auf ein großes Loch in der Wand. “Da haben wir den Koffer gefunden. Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, möchte ich jetzt lieber die Reste einladen. Ich habe keine Lust, noch einmal herkommen zu müssen.”
“Sicher, Sir, und vielen Dank.” Er gab Marshall Baldwin die Hand, der sich sofort zurückzog, während Trey das Loch musterte. Er versuchte, sich in denjenigen hineinzuversetzen, der so etwas gemacht hatte. War das Kind gestorben, und jemand hatte es in Panik in den Koffer gesteckt und dann eingemauert? Oder sollte ein Mord vertuscht werden?
Er beugte sich vor und betrachtete den beim Einreißen der Mauer heruntergekommenen Schutt, dann sah er nach oben, wo der Koffer versteckt gewesen war. Schließlich ging er ein paar Schritte nach hinten und ließ die völlige Stille auf sich wirken. Durch das geöffnete Fenster fiel ein Sonnenstrahl, in dem Staubpartikel tanzten. Auch wenn Trey der Typ Mensch war, der Arbeit sachlich anging, konnte er doch fühlen, wie das Gewicht dieses Verbrechens auf ihm lastete. Das Rechtssystem hatte dieses Kind einmal im Stich gelassen, doch er bekam nun die Chance, für Gerechtigkeit zu sorgen.
“Wir finden deinen Mörder, kleines Mädchen”, versprach er leise. “Ich garantiere dir, ich lasse ihn nicht ungeschoren davonkommen.”
Foster Lawrence hatte einen bitteren Geschmack im Mund, als er sich dem Ausgang des Staatsgefängnisses in Lompoc näherte. Er würde erst dann tief durchatmen können, wenn er wirklich in Freiheit war und sich die Gefängnistore hinter ihm geschlossen hatten.
Als er endlich draußen war, atmete er die Luft tief ein, die außerhalb der hohen Mauern sogar anders roch.
Zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert begann er zu zittern, während ihn Euphorie erfüllte. So unglaublich es auch schien, doch es war vorüber. Er war wieder ein freier Mann.
Dann jedoch korrigierte er sich. Er war zwar ein freier Mann, aber vorüber war es noch längst nicht. Es würde so lange nicht vorüber sein, bis er das in Händen hielt, was man ihm schuldete. All die Jahre hatte er als verurteilter Entführer hinter Gittern gesessen, während der wahre Täter unbehelligt geblieben war. Zwar hatte er zugegeben, das Lösegeld an sich genommen zu haben, doch er war getäuscht worden. Er hatte nichts davon gewusst, dass bereits ein Mord geschehen und dass Rachsucht im Spiel gewesen war. Doch als das Urteil gesprochen wurde, da war es für ihn bereits zu spät, seine Beteiligung noch zu leugnen.
Rückblickend war es nicht so schlimm gewesen, von einem Mann Geld zu verlangen, der reich genug war, um es ihm zu geben. Mehr als etwas Geld für einen Neuanfang hatte er gar nicht gewollt.
Das Geld hatte er bekommen, und auch den Neuanfang, auch wenn der nicht in einem Staatsgefängnis hätte stattfinden sollen. Sicher, es wäre ihm möglich gewesen, gegen die andere beteiligte Person auszusagen, doch an seinem Strafmaß hätte das nichts geändert. Also hielt er aus einem Pflichtgefühl heraus den Mund und saß seine Strafe ab, weil er wusste, dass ihm anschließend das gesamte Geld gehören würde, das er versteckt hatte. Zum Teufel mit irgendwelchen Abmachungen, die vor fünfundzwanzig Jahren getroffen worden waren. Er war jetzt wieder auf freiem Fuß, und er würde sich holen, was er damals versteckt hatte. So wie er die Sache sah, war es nichts weiter als sein wohlverdienter Lohn.
Als sich ein freies Taxi näherte, winkte er es zu sich, stieg ein und nannte dem Fahrer sein Ziel.