6. KAPITEL

Marcus schaffte es nicht, rechtzeitig zum Mittagessen zurück zu sein, also saß Olivia allein am Tisch, stocherte in ihrem Krabbensalat herum und überlegte, was vielleicht geschehen wäre, hätte sie mehr Zeit mit Trey verbracht. Als Marcus anrief und sie wissen ließ, er brauche noch eine Weile, da hätte sie einige Freundinnen zu sich einladen können, die immer für Klatsch und eine Margarita zu haben waren. Allerdings wusste sie, dass die an diesem Tag ohnehin nur über sie reden würden.

Ihr fiel auch auf, dass keine ihrer so genannten Freundinnen sich bei ihr gemeldet hatte, seit in den Medien über die mögliche Verbindung zwischen ihrer Familie und der Kinderleiche berichtet wurde. Unwillkürlich musste sie darüber nachdenken, wie oberflächlich diese Freundschaften in Wahrheit waren. Und genauso wurde ihr bewusst, dass Treys bissige Bemerkung über ihr Verhältnis zu ihrem Großvater durchaus zutraf. Das Eingeständnis, ihr Leben ganz auf Marcus’ Wünsche abgestimmt zu haben, fiel ihr nicht leicht, doch entsprach es den Tatsachen. Was sie überraschte – und worüber sie nie zuvor nachgedacht hatte –, war die Erkenntnis, dass ihre Freundinnen gar keine Freundinnen waren, sondern lediglich langjährige Bekanntschaften. Es gab keine beste Freundin, mit der sie aufgewachsen war und mit der sie ihre Hoffnungen und Träume geteilt hatte. Auf den ersten Blick hatte ihr Leben perfekt gewirkt, doch als ihre Familie mit einem Mal in die Schlagzeilen geriet, war diese Illusion wie eine Seifenblase zerplatzt.

Nachdenklich schob sie den Salatteller fort und wollte aufstehen, als Rose mit einer kleinen Schale Zitronensorbet hereinkam. Die Haushälterin zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als ihr Blick auf den Teller fiel. “Ist der Salat nicht in Ordnung, meine Liebe?”

Olivia seufzte. “Der Salat schmeckt köstlich, aber ich habe keinen richtigen Hunger.”

Rose hielt ihr das Sorbet hin, um sie zu ködern. “Wie wäre es denn wenigstens hiermit? Es ist doch Ihr Lieblingsdessert.”

“Eigentlich ist es Grampys Lieblingsdessert”, erwiderte sie und fügte rasch an, um Rose nicht zu enttäuschen: “Aber ich mag es auch sehr gern.”

Die Haushälterin brachte den Salat weg und ließ das Sorbet stehen.

Mit der Löffelspitze schob Olivia schließlich das Pfefferminzblatt zur Seite, musste jedoch bereits beim ersten Happen an das denken, was sie und Trey vor ein paar Stunden gegessen hatten. Als das Sorbet auf ihrer Zunge zerging, verzog sie den Mund. Der einseitige, säuerliche Geschmack war nicht mit der Kombination aus Eis und heißer Soße zu vergleichen, mit der sie von Trey verwöhnt worden war.

Erst auf dem Weg in ihr Zimmer, wo sie sich umziehen wollte, wurde ihr bewusst, was eigentlich geschehen war. Sie hatte sich die Gelegenheit entgehen lassen, längere Zeit mit Trey zusammen zu sein, nur weil ihr Großvater gesagt hatte, er werde mit ihr zu Mittag essen. Die winzige Portion Sorbet wiederum hatte sie nur gegessen, um Rose nicht zu enttäuschen. Dabei wäre es doch so einfach gewesen, Marcus anzurufen und ihm zu sagen, sie habe ihre Pläne geändert. Schließlich machte er das auch immer wieder – doch ihr war diese Idee gar nicht erst gekommen.

Sie setzte sich auf die Treppe und vergrub frustriert die Finger in ihren Haaren. Was war bloß los mit ihr? Wann hatte sie sich zu einem so fügsamen Wesen entwickelt, und warum? Wieso machte sie es jedem recht, nur nicht sich selbst?

Seufzend dachte sie daran, wie sehr ihr ihre Mutter fehlte. Sie benötigte die Reaktionen einer anderen Frau auf das, was sie selbst empfand, doch außer ihrem alten Kindermädchen Anna Walden fühlte sie sich keiner Frau so eng verbunden, dass sie mit ihr über ihre Gefühle hätte reden wollen.

Der Gedanke an Anna reichte aus, um Olivia erkennen zu lassen, was sie tun wollte. Sie sprang auf und lief nach oben in ihr Zimmer. Das rote Kleid tauschte sie gegen eine alte Jeans und ein T-Shirt der Dallas Cowboys ein, zog die Sportschuhe an und steckte ihr Haar mit einer großen pinkfarbenen Klammer hoch. Sie wollte niemanden beeindrucken, sondern leger gekleidet sein.

Sie sagte Rose, was sie vorhatte, dann eilte sie zur Garage und steuerte zielstrebig ihren BMW an. Abrupt blieb sie stehen und überlegte es sich anders. Sie würde den schwarzen Chevy Trailblazer ihres Großvaters nehmen, da sie den Geländewagen über alles liebte.

Als sie rückwärts aus der Garage fuhr, fiel ihr ein, dass sie bereits seit Wochen nicht mehr am Steuer eines Wagens gesessen hatte. Es war ein gutes Gefühl, wieder selbst zu bestimmen, wo es langging, auch wenn es sich nur um ein Auto handelte.

Von dem merkwürdigen Gefühl begleitet, etwas Bedrohlichem entkommen zu sein, fuhr sie vom Grundstück in Richtung Freeway. Ihr Ziel war Arlington, wo Anna Walden heute lebte.

Dennis zitterte vor Begeisterung. Das Anwesen der Sealys auszuspähen, war eine grandiose Idee gewesen. Keine dreißig Minuten waren seit seiner Ankunft vergangen, da sah er den schwarzen Geländewagen, der das Grundstück verließ und davonfuhr. Die Fenster waren zu stark getönt, als dass er den Fahrer hätte erkennen können. Doch das war auch nicht nötig, denn das Kennzeichen SEALY1 verriet ihm, welcher Familie der Wagen gehörte. Außerdem wusste er, welchen Wagen Marcus fuhr. Die nächste Stufe seines Plans trat soeben in Kraft.

Dann auf einmal legte er den Kopf schräg und lauschte einer Stimme, die nur er wahrnehmen konnte.

“Ja, Herr … ich höre dich”, murmelte er und startete den Motor.

Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass er freie Fahrt hatte, dann beschleunigte er rasch und beeilte sich, den anderen Wagen nicht aus den Augen zu verlieren. Er wusste, Gott war auf seiner Seite.

Der sechzigste Geburtstag lag bereits hinter Anna Walden. Das Leben war nicht gnädig mit ihr umgegangen, doch das schien sie nicht zu stören. In ihrer Jugend war sie eine sehr attraktive und arrogante Frau gewesen, aber wer sie heute betrachtete, hätte das niemals vermutet. Nichts konnte sie seinerzeit auf die Launen des Schicksals vorbereiten, die sie schließlich zu Marcus Sealy führen sollten, um auf ein zweijähriges Mädchen aufzupassen, das von dem Erlebten ein Trauma zurückbehalten hatte. Doch vom ersten Tag an war ihr bewusst gewesen, dass es ihre Bestimmung war. Anna hatte Olivia genauso nötig gehabt wie umgekehrt.

Das Mädchen hatte sich unter ihrer Fürsorge zu einer stolzen und gebildeten jungen Frau entwickelt, dabei war ihr aber immer bewusst gewesen, dass der Tag kommen würde, an dem ihre Dienste im Haus der Sealys nicht länger benötigt wurden. Als es so weit war, war ihre Entlassung dennoch ein Schock für sie. Obwohl Marcus ihr eine großzügige Rente zahlte und sie in einem schönen Bungalow in einem angenehmen Viertel leben konnte, war der Schmerz über den Verlust ihres Lebensinhalts dadurch nicht gelindert worden.

Über die Jahre hinweg lernte sie, damit umzugehen, und erfreute sich an den spontanen Besuchen, die Olivia ihr von Zeit zu Zeit abstattete. Das galt auch für ihren Geburtstag, an dem das Mädchen regelmäßig vorbeikam und mit Anna ausging. Außerdem mochte sie die Karten und Briefe, die Olivia ihr schrieb. Erst vor kurzem hatte sie mindestens ein halbes Dutzend Ansichtskarten von Marcus und seiner Enkelin bekommen, als die durch Europa gereist waren. Anna war stolz auf die Frau, zu der sich Olivia entwickelt hatte, doch ihr war nie der Gedanke gekommen, mit der Vergangenheit abzuschließen und noch einmal etwas Neues anzufangen.

Das war auch an diesem Tag nicht anders. Sie lag auf dem Sofa, auf einen Ellbogen gestützt, und sah sich Der Preis ist heiß an. Das weite Kleid, mit dem sie kaschieren wollte, wie viel sie zugenommen hatte, war ein Stück hochgerutscht und entblößte bleiche, dicke Beine. Die Schlappen, die sie vorzugsweise trug, baumelten an den großen Zehen. Der graue Ansatz ihrer roten Haare ließ deutlich erkennen, wie lange Anna es bereits versäumt hatte, zum Färben den Friseur aufzusuchen.

Als sie die Türglocke hörte, runzelte sie ein wenig verärgert die Stirn, da die Teilnehmer der Fernsehsendung jeden Augenblick erfahren würden, wie weit sie mit ihrer Schätzung danebenlagen. Dann aber hörte sie eine vertraute Stimme und wäre fast vom Sofa gefallen, um zur Tür zu eilen.

“Nanna … Nanna … ich bin’s, Olivia!”

Sie riss die Tür auf und sah ihren Besuch gleichermaßen erfreut wie erstaunt an.

“Olivia! Oh, das ist ja so schön, dich zu sehen!” rief sie und umarmte die junge Frau. “Komm doch rein. Wenn du mich vorher angerufen hättest, dann hätte ich dir Schokoladenkekse gebacken. Die magst du doch am liebsten.”

“Ja, das stimmt”, erwiderte Olivia mit strahlender Miene und genoss es, in Annas Armen liegen zu können.

Herzukommen war die richtige Entscheidung gewesen. Auch wenn Anna keine Blutsverwandte war, stellte sie für Olivia doch das dar, was einer Mutterfigur am nächsten kam. Anna hatte ihr geholfen, ihr Haar zu flechten, war mit ihr in die Stadt gefahren, um ihr den ersten BH zu kaufen. Von ihr wusste Olivia alles darüber, was es hieß, eine Frau zu sein. Anders als Rose kannte Anna alle ihre Vorlieben und Abneigungen, was auch für Schokoladenkekse und Zitronensorbets galt.

“Wie geht es dir?” fragte Anna, die die Tür hinter ihr schloss und Olivia zum Sofa dirigierte. “Hast du mit Mr. Marcus in Europa eine schöne Zeit verbracht? Erzähl mir, wie es war.”

Olivia hatte sich bei Annas ungepflegtem Anblick erschrocken, und ihr ungutes Gefühl verstärkte sich, als sie das unaufgeräumte Wohnzimmer betrat, doch sie ließ sich nichts anmerken. Schließlich zählte für sie nicht der äußere Anschein. Anna war die Frau, die ihr ein Gefühl von Sicherheit gab, daher ignorierte sie den Anflug von Besorgnis, der sich regte.

“Europa war phantastisch”, erwiderte sie. “Wir haben Dutzende von Filmen verknipst, aber ich habe sie noch nicht entwickeln lassen. Nach allem, was geschehen ist, stand mir nicht mehr der Sinn danach.”

“Was ist denn geschehen, Kind?” fragte Anna erstaunt. “Ist Marcus etwas zugestoßen? Ist er krank?”

Dass Anna nicht wusste, wovon sie sprach, verblüffte Olivia. “Nein, nichts in der Art. Ich rede von den Medien, du weißt schon. Sicher hast du von dem toten Baby gehört.”

“Was denn für ein totes Baby?” Noch bevor Olivia etwas erwidern konnte, fügte sie an: “Ich muss gestehen, mir ist vor etwa einer Woche meine Brille zerbrochen. Fürs Fernsehen reicht es auch ohne Brille, darum habe ich sie noch nicht reparieren lassen. Aber lesen kann ich ohne sie kaum etwas.”

“Oh je”, meinte Olivia daraufhin. “Ich wünschte, an mir wäre das auch alles vorbei gegangen.” Dann zog sie ihre Schuhe aus und nahm im Schneidersitz auf dem Sofa Platz. “Ich hätte dich anrufen sollen, als es anfing.”

“Als was anfing?” fragte Anna und setzte sich zu Olivia, um im nächsten Moment wieder aufzuspringen. “Warte, ich hole uns erst etwas zu trinken.”

“Nein, nein, bitte nicht”, beteuerte sie. “Vielleicht später. Ich muss dir alles erzählen, für den Fall, dass die Reporter dich anrufen … auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, warum sie das tun sollten.”

Die ältere Frau war mit einem Mal hellhörig, setzte sich wieder und legte die Hände in den Schoß. “Warum sollten die bei mir anrufen?”

“Sie sollten es nicht, aber man kann nie wissen. Grampy und ich sind der Meinung, du solltest darauf vorbereitet sein.”

“Worauf denn?”

“Vor etwa einer Woche wurde in einem Haus am Lake Texoma in einem Koffer das Skelett eines kleinen Mädchens entdeckt. Es hat an einer Hand zwei Daumen, und deswegen überprüft die Polizei, ob es einen Zusammenhang zu uns geben könnte”, erklärte Olivia.

“Ein Mädchen in einem Koffer? Mein Gott, das ist ja entsetzlich!” rief sie aus. “Aber ich verstehe das nicht. Sicher, drei Daumen sind ungewöhnlich, nur kann so etwas doch nicht ausschließlich in deiner Familie vorkommen.”

“Stimmt, aber das war nicht alles.”

“Was denn noch?” wollte Anna wissen.

“Der Gerichtsmediziner sagt, die Überreste seien etwa fünfundzwanzig Jahre alt … Du weißt, was damals geschah … Wir mussten eine DNS-Probe abgeben, um zu beweisen, dass ich wirklich ich selbst bin.” Tränen stiegen ihr in die Augen. “Oh, Nanna, ich weiß, es ist albern. Trotzdem habe ich Angst. Was ist, wenn ich gar nicht Grampys Enkelin bin? Wenn das arme tote Baby die echte Olivia ist?”

Anna schob das Kinn vor, nahm Olivias Hände und sagte mit fester Stimme: “Jetzt hör mir gut zu. Das ist doch Unsinn, und das weißt du ganz genau. Du bist Marcus Sealys Enkelin. Ich kenne die Fotos, und du kennst sie auch. Ich kann nicht glauben, wie du auch nur für eine Minute denken kannst, dass du nicht Olivia bist. In deinen Adern fließt das Blut der Sealys. Und nun reiß dich zusammen!”

Sekundenlang war Olivia irritiert. Sie hatte Mitgefühl von ihr erwartet, nicht aber eine schroffe Ermahnung. Erst dann begriff sie und begann zu lächeln. “Oh, Nanna, du fehlst mir so sehr. Ich kam her, weil ich dachte, ich müsste bemitleidet werden. Aber du hast sofort gemerkt, dass mir mal jemand den Kopf waschen muss.”

Anna drückte sie fest an sich. “Schon gut, Sweetheart. Deine Nanna ist ja bei dir. Ich wollte nicht so wütend klingen, aber du darfst nicht an dir zweifeln. Niemals darfst du das!”

“Du hast Recht”, erwiderte Olivia. “Keine Zweifel mehr. Ich glaube, jetzt könnte ich etwas zu trinken vertragen …”

Erst nachdem Anna ihr lange in die Augen gesehen und offenbar das entdeckt hatte, wonach sie suchte, lächelte sie und tätschelte Olivias Wange. “Ich habe Eistee da … süßen Eistee, wie du ihn magst.”

“Das hört sich gut an”, antwortete sie. “Ich helfe dir.”

Beim Aufstehen stöhnte Anna leise auf.

Olivia bemerkte, wie sie vor Schmerzen kurz das Gesicht verzog, und fragte besorgt: “Geht es dir auch gut?”

“Ja, mir geht es gut”, sagte Anna. “Aber meine Knochen werden halt nicht jünger.”

Als sie das Wort ‘Knochen’ hörte, lief ihr ein Schauer über den Rücken, da es sie daran erinnerte, weshalb sie hergekommen war. Sie erhob sich ebenfalls und legte einen Arm um Annas Schultern.

“Es tut mir Leid, dass ich dich so lange nicht mehr besucht habe”, erklärte sie leise. “Lass uns den Tee holen.”

Anna reagierte mit einem Lächeln, als sie in die winzige Küche gingen. Es tat gut, immer noch gebraucht zu werden.

Nachdem sie ihren Gast dazu gebracht hatte, sich an den Tisch zu setzen, holte sie die Getränke. Olivia war zunächst einfach nur froh darüber, ihre Nanna wiederzusehen, deshalb fiel ihr auch das merkwürdige Verhalten nicht sofort auf. Doch als die zwei Gläser mit Tee brachte und dann die Eiswürfel in einer Schüssel dazustellte, stutzte sie. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Anna wandte sich ab und holte eine Schachtel aus dem Vorratsschrank, die sie neben die Schüssel mit dem schmelzenden Eis stellte. “Ich habe sie nicht selbst gebacken, aber sie schmecken gut”, erklärte sie. “Ich hole noch Servietten, dann sind wir so weit.”

Ungläubig starrte Olivia auf die Packung Stahlschwämme, die vor ihr auf dem Tisch stand.

“Nanna …”, brachte sie nur mit Mühe heraus, da die Situation so beängstigend war, dass sie ihr die Kehle zuschnürte.

Anna sah sie lächelnd an, doch ihre Augen schienen eine andere Welt wahrzunehmen. “Hast du keinen Hunger, Liebes? Wenn die Kekse dir nicht zusagen, kann ich uns Sandwiches machen. Ja … ja, das wäre überhaupt eine gute Idee. Ein Sandwich. Und dazu Chips. Du magst doch Chips, oder?”

“Nicht nötig”, erwiderte Olivia, stand auf und fasste Anna an den Schultern. “Ich habe keinen Hunger, Nanna. Jetzt setz dich zu mir und trink deinen Tee.”

Mit einem Mal machte Anna Walden wieder einen klaren Eindruck. “Ja, der Tee. Und du erzählst mir von eurem Urlaub.”

Nachdem sie beide am Tisch saßen, schob Olivia ihr das Glas Tee hin und stellte die Packung mit den Stahlschwämmen außer Sichtweite auf einen Stuhl. Ihre Finger zitterten, ihr Herz raste, doch sie zwang sich, Ruhe zu bewahren.

Anna sah lange das Glas an, dann nippte sie vorsichtig daran. “Das ist Tee … richtig?” Sie probierte erneut und lächelte. “Oh ja, es ist Tee. Ein guter Tee. Und süß ist er auch, so wie wir ihn mögen. Danke, Darling, du bist immer so aufmerksam.”

Tränen stiegen Olivia in die Augen. “Gern geschehen, Nanna”, brachte sie heraus, dann holte sie tief Luft. “Es ist schon eine Ewigkeit her, seit du uns das letzte Mal besucht hast. Warum packst du nicht eine Tasche und bleibst für ein paar Tage bei Grampy und mir?”

Der verwirrte Ausdruck kehrte prompt in Annas Augen zurück. “Von hier weggehen? Oh nein, Darling, das kann ich nicht machen.”

“Aber wieso nicht, Nanna? Du bist hier den ganzen Tag allein, und Grampy und ich hätten dich gern bei uns. Außerdem … na ja, es könnte sein, dass die Medien sich auf dich stürzen und zu der Zeit befragen, in der du bei uns gearbeitet hast. Bei uns wärst du vor ihnen sicher.”

“Mit denen werde ich nicht reden”, entgegnete Anna. “Ich verspreche dir, ich werde ihnen nichts sagen. Und ich will hier nicht weg.” Dann versagte einen Moment lang ihre Stimme. “Es ist zu lange her. Ich wüsste nicht, wo ich irgendetwas finden könnte.”

Olivia merkte, ihr Beharren führte allenfalls dazu, dass Anna noch aufgewühlter wirkte – und das, wo sie ihre Nanna um nichts in der Welt in Aufregung versetzen wollte. Doch der Anblick ging ihr so zu Herzen, dass sie nicht anders konnte, als aufzustehen und sich vor Anna hinzuknien, um dann ihren Kopf auf den Schoß der älteren Frau zu legen.

“Es ist schon gut, Nanna. Du musst nichts machen, was du nicht willst. Wenn du hier bleiben möchtest, dann bleibst du auch hier. Und mach dir um die Reporter keine Sorgen. Grampy und ich, wir kümmern uns schon darum.”

Der Druck, der in den letzten Minuten immer schwerer auf Anna gelastet hatte, ließ allmählich nach. Sie sah Olivia an, legte die Hände auf den Kopf der jungen Frau und begann leise zu summen, so wie sie es immer getan hatte, als Olivia noch ein kleines Mädchen gewesen war.

Die Situation war so vertraut, dass Olivia für einen Moment glaubte, alles sei wieder in Ordnung. Doch dann fiel ihr Blick auf die Packung mit den Stahlschwämmen, die auf einem der Stühle stand, und fast gleichzeitig kehrte der Schmerz zurück.

Wie konnte es sein, dass ihre bis dahin perfekte Welt in so kurzer Zeit völlig in sich zusammengebrochen war? Was sollte sie mit ihrer Nanna machen? Sie wollte Anna nicht sich selbst überlassen, doch allein konnte sie hier nur wenig ausrichten. Grampy würde wissen, was zu tun war.

Einige Zeit später machte sich Olivia auf den Rückweg. Sie hatte das Gefühl, immer noch den Druck von Nannas trockenen Lippen auf ihrer Wange zu spüren.

Foster Lawrence nannte dem Taxifahrer die Adresse, während er auf der Rückbank Platz nahm. Der Fahrer gab Gas, noch bevor sein Gast die Tür hatte zuziehen können.

“Heh, Mann. Ich hab lang genug auf diesen Moment gewartet, da will ich nicht aus dem Taxi fallen und überfahren werden. Rasen Sie gefälligst nicht so!”

Der Fahrer erwiderte nichts, ging aber mit dem Tempo ein wenig runter. Foster fluchte stumm, dann zwang er sich, ruhiger zu werden. Von dieser Fahrt hing eine ganze Menge ab, und er würde sich einen Plan ausdenken müssen. Foster machte sich nichts vor. Das Restaurant, in dem das Geld versteckt war, existierte längst nicht mehr. Dafür hatte ein Blick ins Branchenbuch genügt. Fünfundzwanzig Jahre waren eine lange Zeit, in der sich vieles veränderte. Das Geld befand sich im Keller, und er konnte nur hoffen, dass die neuen Mieter dort wenig bis gar nichts renoviert hatten. Im Augenblick genügte es, sich das Gebäude anzusehen und festzustellen, wer nun dort Quartier bezogen hatte. Sobald er das wusste, konnte er entscheiden, wie er an sein Geld gelangen sollte, und danach würde er sofort aus Dallas verschwinden. Sein verändertes Aussehen machte ihn zuversichtlich, sich wenigstens vorläufig in der Stadt zu bewegen, ohne erkannt zu werden.

“Das macht dann zehn fünfzig”, sagte der Fahrer, als sie das Ziel erreicht hatten.

Foster warf ihm zwei Fünfer und einen Einer auf den Beifahrersitz. “Der Rest ist für Sie”, erwiderte er, stieg aus und warf die Tür hinter sich zu.

Er hörte den Mann lautstark fluchen, doch das kümmerte ihn nicht. Der Typ konnte bei seinem miserablen Fahrstil nun wirklich kein großzügiges Trinkgeld erwarten. Foster grinste noch immer, als er sich umdrehte – doch dann wurde er schlagartig ernst.

“Oh, verdammt”, murmelte er, während er die Straße in beide Richtungen absuchte und sich vergewisserte, dass es sich um die richtige Adresse handelte.

Sein Herz schien stillzustehen, als es ihm klar wurde: Er war tatsächlich dort, wohin er gewollt hatte. Nur langsam begann er zu begreifen, was er da sah.

“Nein … das kann doch nicht sein”, flüsterte er und bewegte sich mit zögerlichen Schritten auf das Gebäude zu.

“Hey, passen Sie doch auf”, raunte ihn ein Mann an, als Foster ihn anrempelte.

“Oh, tut mir Leid”, entgegnete er. “Ich hab Sie nicht …”

“Ja, ja, schon gut”, gab der zurück und eilte weiter.

Unter normalen Umständen hätte der abfällige Ton des Mannes Foster gereizt, doch im Moment kümmerte ihn nichts. Nach fünfundzwanzig Jahren musste er feststellen, dass sein Traum vom Reichtum zerronnen war. Das Restaurant existierte tatsächlich nicht mehr, was er auch erwartet hatte. Doch nicht nur das Lokal war fort, sondern auch das ursprüngliche Gebäude. An seiner Stelle hatte man einen Neubau errichtet.

Er stand mitten auf dem Fußweg, während sich seine Gedanken überschlugen. Selbst wenn man die Kellerräume nicht verändert haben und sie nach wie vor ausschließlich für die Heizungs- und die Klimaanlage nutzen sollte – was Foster nicht so recht glauben wollte, da man fast mit Sicherheit ein neues Fundament gelegt hatte –, konnte er nur durch diese Türen das Haus betreten. Und in den Keller würde er nur gelangen, wenn er in diesem Gebäude arbeitete, was bei seinem Strafregister niemals geschehen würde.

Kopfschüttelnd betrachtete er den Schriftzug, der ins Mauerwerk gemeißelt worden war: First Federal Savings and Loan.

“Eine Bank”, murmelte er. “Eine verdammte scheiß Bank!”

Wäre es nicht so traurig gewesen, hätte er wohl laut gelacht. Wo war eine Million Dollar schon besser versteckt als in einer Bank? Nur befand sich das Geld nicht auf einem Konto, das auf seinen Namen lautete, sondern hinter den Ziegelsteinen einer Kellerwand.

“Verdammt”, fluchte er leise, dann begab er sich zum Bankeingang.

Ein Wachmann beobachtete ihn, wie er zur Tür hereinkam, woraufhin Foster ihm freundlich zunickte und weiterging, als wisse er genau, wohin er wolle. Er sah sich kurz um und entschied sich, bei dem Mitarbeiter zu warten, bei dem sich die längste Schlange gebildet hatte. Auf diese Weise konnte er in aller Ruhe das Innere der Bank auskundschaften, ohne aufzufallen.

Überall entdeckte er Überwachungskameras, und mindestens zwei Wachmänner hatten ein Auge auf alles, was sich ringsum abspielte. Foster war sich sicher, dass sie nicht die Einzigen waren, die in der Bank ihren Dienst verrichteten.

Keine Tür war frei zugänglich, überall blockierten Schalter oder Schreibtische den Weg. Foster wurde mit jeder Minute übler.

“Hallo, mein Name ist Pat Hart”, sprach ihn auf einmal eine Frau an. “Kann ich Ihnen behilflich sein?”

“Ich … ähm, ja … ich wollte mich nach den Zinssätzen für kleinere Geschäftskredite erkundigen.”

“Kommen Sie doch bitte mit”, sagte sie lächelnd und führte ihn in einen abgeteilten Bereich, wo sie beide an einem Schreibtisch Platz nahmen. “Ich gebe Ihnen gern Auskunft.”

Während sie die Ellbogen auf die Tischplatte stützte und sich nach vorn beugte, musste Foster daran denken, dass sie sicher nicht lächeln würde, wenn sie gewusst hätte, weshalb er eigentlich hergekommen war.

“Wie hoch soll denn der Kredit ausfallen?” wollte sie wissen.

Er schüttelte den Kopf. “Sehen Sie, meine Partner und ich sind noch in der Planungsphase für ein Restaurant, und im Moment müssen wir erst einmal die Zinssätze kennen. Wir möchten nicht zu viele Teilhaber aufnehmen müssen, um die Finanzierung zu sichern, aber das hängt alles von der Tilgung ab.”

“Ja, natürlich.” Sie drehte sich zum Computer um. “Ich werde Ihnen zeigen, was wir anbieten können.” Während sie den Rechner arbeiten ließ, sah sie wieder zu Foster. “Sie wollen also ein Restaurant eröffnen. Sind Sie hier aus der Stadt?”

“Eigentlich ja, allerdings habe ich die letzten Jahre an der Westküste verbracht.” Von seiner Zeit im Gefängnis musste die Frau schließlich nichts wissen. “Früher gab es mal ein gutes Restaurant, genau hier, wo heute Ihre Bank steht. Aber das ist schon viele Jahre her. Trotzdem frage ich mich, warum das Lokal zugemacht hat. Das wissen Sie wohl nicht zufällig, oder?”

“Nein, tut mir Leid. Ich komme aus Seattle und lebe erst seit fünf Jahren in Dallas. Allerdings wüsste ich jemanden, der Ihnen das vielleicht beantworten kann.” Sie nahm den Telefonhörer. “Ms. Shaw, könnten Sie bitte kurz in mein Büro kommen?” Nachdem sie aufgelegt hatte, erklärte sie: “Meine Sekretärin … sie ist in Dallas geboren.”

Foster sah eine ältere Frau zu ihnen kommen. “Ja, Ms. Hart?”

“Liz, dieser Gentleman sagt, dass hier früher ein Restaurant stand. Können Sie sich zufällig daran erinnern?”

“Oh ja, das Lazy Days. Das ist abgebrannt, wirklich eine Schande um das Lokal.”

Einen Moment lang fürchtete Foster, er könnte das Bewusstsein verlieren. Fünfundzwanzig Jahre für nichts und wieder nichts gewartet. Alles vergebens.

“Abgebrannt?”

Sie nickte. “Bis auf die Grundmauern.”

“Tja”, murmelte er. “Da kann man wohl nichts mehr machen.”

Foster stand auf und ging.

“Sir?” rief die junge Frau ihm nach. “Warten Sie. Was ist mit den Zinssätzen?”

“Nicht wichtig”, gab er leise zurück. “Jetzt nicht mehr.”