1. KAPITEL
Detective Trey Bonney betrat das Polizeirevier in Dallas, hielt in einer Hand seinen zweiten Becher Kaffee an diesem Morgen, und versuchte, nicht über die Arbeit nachzudenken, die sich auf seinem Schreibtisch stapelte. Er war ein hervorragender Detective, aber wenn es darum ging, Berichte zu schreiben, versagte er auf der ganzen Linie.
“Morgen, Trey.”
Er nickte Lisa Morrow von der Anmeldung zu, ohne sie anzusehen. Ihr Tonfall signalisierte ihm deutlich, daß ihr Interesse an ihm kein ausschließlich berufliches war. Als ungebundener Mann hatte er genug One-Night-Stands erlebt, um die Zeichen zu erkennen. Bis vor drei, nein, sogar noch bis vor zwei Jahren wäre er auf ihre Einladung vermutlich eingegangen, doch das hatte nun ein Ende. Er fühlte sich nun als reifer, erwachsener Mann, und damit gehörten kurze Abenteuer ohne jegliche Verpflichtungen auf beiden Seiten der Vergangenheit an. Der Wandel hatte sich schleichend vollzogen, und er war sich noch immer nicht sicher, wann und wieso er ausgelöst worden war. Eines war jedoch klar: Trey fühlte sich seitdem einsamer als erwartet.
Dennoch war Lisas verführerische Stimme nur ein kleines Hindernis auf dem Weg zu seinem Schreibtisch. Erst als er eine andere Frau “Hey, Trey” rufen hörte, drehte er sich um und schaute seine Kollegin Detective Chia Rodriguez an, während er den Kaffeebecher abstellte. Wenn sie sich streckte, schaffte sie es auf eine Größe von eins fünfundfünfzig. Der äußere Eindruck täuschte jedoch, denn Chia war extrem zäh und hatte etwas Unbändiges an sich. Ihre kurzen, wüsten Locken taten ein Übriges, und Trey schätzte ihre Einstellung zum Job. Mit ihrem Mann Pete Rodriguez, der eine Gärtnerei besaß, ging er hin und wieder fischen.
“Was gibt’s?” fragte er.
“Lieutenant Warren hat gesagt, er will dich sehen, sobald du hier auftauchst.”
Trey betrachtete den Stapel Papiere auf seinem Tisch und verzog den Mund. “Bestimmt will er mich am Schreibtisch anketten, bis ich das da erledigt habe.”
Chia grinste und zeigte nur auf das Büro ihres Vorgesetzten.
“Ja, ja, ich bin schon unterwegs.” Er trank noch einen Schluck Kaffee, dann machte er sich darauf gefasst, von seinem Boss zusammengestaucht zu werden. Das war das Mindeste, was ihn erwartete.
Er hob das Kinn, zog nervös an seiner Sportjacke, dann ging er hinüber und klopfte einmal an, öffnete die Tür einen Spaltbreit und steckte den Kopf in das Büro. “Sie wollten mich sehen, Lieutenant?”
Harold Warren sah von seinem Schreibtisch auf und winkte Trey herein.
“Wenn es um den Papierkram geht …”
“Sie sollten besser nicht raten”, unterbrach ihn Warren. “Damit handeln Sie sich bloß immer wieder Schwierigkeiten ein. Kommen Sie rein, und machen Sie die Tür zu.”
“Ja, Sir.”
“Setzen Sie sich.” Warren deutete auf einen Stuhl.
Wieder gehorchte Trey, wünschte sich aber, er hätte seinen Kaffee mitgebracht.
“Wie alt sind Sie?” wollte sein Chef wissen.
“Im September werde ich dreißig.”
“Oh, dann sind Sie zu jung, um sich daran zu erinnern”, sagte Warren mehr zu sich selbst.
“Um mich an was zu erinnern?”
“Die Sealy-Entführung.”
Trey zuckte unwillkürlich zusammen, was Warren nicht entging. “Was ist?”
“Ich weiß einige Dinge, die die Entführung betreffen”, sagte er.
“Woher?”
“Ich … ich kenne Olivia Sealy persönlich.”
Harold legte erstaunt die Stirn in Falten. “Mir war gar nicht bewusst, dass Sie sich in derart exklusiven Kreisen bewegen.”
“Wir sind zusammen zur High School gegangen”, gab Trey zurück. “Sie war sozusagen eine Berühmtheit. Ihre Eltern tot, sie aufgewachsen bei einem stinkreichen Großvater, der sich bei Schulaufführungen in einer Limousine vorfahren ließ.”
“Sie ging auf eine öffentliche High School?”
Trey zuckte mit den Schultern. “Marcus Sealy hielt nichts davon, sie auf eine Privatschule zu schicken. Olivia sollte so normal wie möglich aufwachsen.” Er wollte nur nicht, dass ich in ihre Nähe kam.
“Sie scheinen einiges über sie zu wissen. Möchten Sie mir noch irgendetwas erzählen, bevor ich fortfahre?”
Er musste an den Streit denken, als sie die Beziehung zu ihm beendete. Auch jetzt erinnerte er sich nur zu gut an den beschämten Ausdruck in ihren Augen, als sie ihm sagte, sie könnten sich nicht mehr treffen, weil sein Vater ein Trinker war und seine Mutter als Kellnerin arbeitete.
“Nein.”
“Gibt es zwischen Ihnen noch eine Beziehung, die für Sie einen Interessenkonflikt darstellen könnte?”
Nun wurde Trey hellhörig. “Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen”, erwiderte er leise. “Was ist passiert?”
“Vor zwei Tagen stieß ein Mann bei Texoma beim Renovieren seines Hauses auf einen Koffer, in dem sich das Skelett eines Kleinkinds befand.”
“Mein Gott”, stieß Trey aus. “Aber was hat das mit den Sealys zu tun?”
“Vielleicht gar nichts. Trotzdem möchte ich, dass Sie sich mit dem Sheriff von Grayson Country treffen. Blue Jenner heißt er, und er ist ein Freund von mir. Ihm ist da eine Verbindung aufgefallen.”
“Eine Verbindung, Lieutenant? Was hat ein Babyskelett mit Olivia Sealys Entführung zu tun? Sie wurde doch lebend gefunden.”
“Kann sein, muss aber nicht”, sagte Warren. “Die Sealy-Entführung fiel in die Zuständigkeit dieses Police Departments. Als sich der Fall abspielte, war ich gerade mal drei Monate im Dienst. Die halbe Mannschaft war darauf angesetzt, und ich war dabei, als einer der Entführer das Lösegeld an sich nahm. Foster Lawrence hieß er. Wir verfolgten ihn, da wir hofften, er würde uns zu der Kleinen führen. Aber dann verloren wir ihn, und als wir ihn endlich wiedergefunden hatten, fehlte jede Spur vom Geld und von dem Kind. Wir waren uns sicher, unsere große Chance vertan zu haben, das Kind lebend zurückzubekommen, als die Kleine auf einmal im Schlafanzug durch ein Einkaufszentrum spazierte.”
Trey musste an die Olivia denken, die er kennen gelernt hatte. Als Teenager war sie so hübsch und selbstbewusst gewesen. Obwohl jeder von ihrer Vergangenheit wusste, war es ihm nie in den Sinn gekommen, sie sich als Kleinkind vorzustellen, das allein und verängstigt durch ein Einkaufszentrum lief. Hatte sie den Mord an ihren Eltern mitangesehen? Konnte sie sich an irgendetwas erinnern?
“Und was hat das Skelett in Texoma mit Olivia Sealy zu tun?” wollte Trey wissen.
“Die Kleine konnte damals so einwandfrei als Olivia Sealy identifiziert werden, weil sie an der linken Hand zwei Daumen hatte … eine genetische Besonderheit, die wohl bei allen Sealys vorkommt.”
Er schüttelte den Kopf. “Aber Olivia hatte keine …”
“Wenn ich das richtig verstehe, wird ein überzähliger Daumen operativ entfernt, sobald klar ist, welcher von beiden der funktionsfähigere ist. Sogar Marcus Sealy hat eine kleine Narbe, die das beweist.”
“Und?”
“Und nachdem der Gerichtsmediziner in Grayson County die Knochen untersucht und Blue Jenner Bericht erstattet hatte, rief der mich umgehend an.”
“Aus welchem Grund?”
“Nun, der Gerichtsmediziner ist der Ansicht, dass es sich um die Leiche eines etwa zwei Jahre alten Mädchens handelt. Ob Mord im Spiel war, kann er noch nicht sagen, aber er schätzt, dass der Zeitpunkt des Todes zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre zurückliegt.”
“Ich sehe noch immer keinen Zusammenhang zu …”
“Olivia Sealy wurde vor fünfundzwanzig Jahren entführt, und … so wie es aussieht, hat das tote Baby ebenfalls zwei linke Daumen.”
Trey beugte sich vor. “Wollen Sie damit sagen, Olivia ist gar nicht …”
“Ich will damit gar nichts sagen”, entgegnete Warren. “Ich will nur, dass Sie sich mit Blue Jenner treffen, mit dem Gerichtsmediziner reden, sich diese Hütte ansehen und das tun, was Sie am besten können: Herumschnüffeln. Finden Sie alles über die Vorbesitzer heraus.”
“Wird gemacht”, sagte Trey und stand auf. An der Tür angekommen, blieb er stehen und drehte sich um.
“Gibt’s noch was?” Lieutenant Warren sah ihn an.
“Wissen die Sealys davon?”
“Falls sie es noch nicht wissen, werden sie es in allernächster Zeit erfahren.”
“Von wem?” wunderte sich Trey.
Warren schlug die Zeitung auf und zeigte auf eine Schlagzeile: Verbindung zwischen Sealy-Entführung und Skelettfund?
“Wir wissen noch überhaupt nichts, aber sie drucken es schon. Wie kommen die damit bloß immer wieder durch?” murmelte Trey.
“Es kommt nur darauf an, wie man es formuliert”, gab Warren zurück und deutete auf das Fragezeichen am Ende der Schlagzeile. “Vielleicht wissen wir ja die Antwort, nachdem Sie mit Jenner gesprochen haben.”