17. KAPITEL

Trey grillte Steaks. Es war so ziemlich das Einzige, was er zubereiten konnte, ohne etwas anbrennen zu lassen. Den Salat hatte er fertig gekauft, so dass er ihn nur noch in eine Schüssel geben und zusammen mit der Flasche Dressing auf den Tisch stellen musste. Er war gerade auf der Suche nach den Steakmessern, als der Küchenwecker klingelte und ihn daran erinnerte, die Folienkartoffeln aus dem Backofen zu nehmen. Nachdem er ihnen beiden Eistee eingegossen und Teller mitsamt Besteck auf dem Tisch plaziert hatte, begann er zu überlegen. Irgendetwas hatte er vergessen, doch es wollte ihm nicht einfallen.

In diesem Moment kam Olivia frisch geduscht in die Küche. Sie schaute auf den Tisch, stieß einen anerkennenden, leisen Pfiff aus und sah Trey an. “Ich bin beeindruckt.”

Er reagierte mit einem Grinsen, bis sie wieder den Blick über den Tisch wandern ließ. “Hast du keine Steaksoße?”

“Das war’s!” rief er aus und ging zurück zum Kühlschrank, um eine Flasche Ketchup herauszuholen. “Das Abendessen ist serviert.”

“Das nennst du Steaksoße?” wunderte sie sich.

“Ich habe irgendwo Steaksoße, aber ich weiß nicht wo.” Dann widmete er sich wieder den Steaks auf dem Grill.

Olivia schüttelte den Kopf, öffnete die Vorratskammer und präsentierte ihm kurze Zeit später eine Flasche Soße, die noch ungeöffnet war.

“Wo hast du die denn entdeckt?” fragte er verblüfft.

“Im Vorratsschrank.”

“Ich habe in den zehn Jahren, die ich jetzt hier lebe, nie ein System entwickelt, wohin ich etwas stellen soll, damit ich es wiederfinde. Ich wusste, ich hatte vor ein paar Wochen Soße gekauft, aber die hätte ich da mit Sicherheit nicht vermutet. Und du bist noch keine vierundzwanzig Stunden hier und findest sie auf Anhieb. Wie geht das?”

“So was nennt man weibliche Intuition”, erwiderte sie. “Können wir essen?”

“Jeden Moment.” Er zog für sie den Stuhl zurück und fasste sie am Ellbogen, während sie sich setzte. “Was macht deine Schulter? Starke Schmerzen?”

“Es geht so”, antwortete Olivia.

Ohne zu fragen, zerteilte Trey das Stück Fleisch in mundgerechte Bissen, dann legte er die geteilte Folienkartoffel und Butter dazu. “Salat?”

“Ja, unbedingt.”

Er legte Salat auf und setzte sich, doch anstatt selbst etwas zu essen, konnte er den Blick nicht von Olivia abwenden.

“Was ist?” fragte sie schließlich.

“Ich denke immer, das ist nur ein Traum, ich wache jeden Moment auf, und dann bist du verschwunden.”

“Ich werde nicht verschwinden.”

Trey wollte das Thema wechseln, nahm dann jedoch seine Gabel und begann ebenfalls zu essen.

Die nächsten Minuten verbrachten sie schweigend, reichten sich mal das Salz, mal den Pfeffer, dann wieder die Flasche mit der Steaksoße. Es waren alles reflexartige Handlungen, die es ihnen beiden erlaubte, sich mit der Situation zu befassen, in der sie sich nun befanden.

Olivia hatte ihn um eine zweite Chance gebeten, ohne zu ahnen, dass sie nicht einmal eine Woche später bei ihm zu Hause sein würde. Trey seinerseits schwankte zwischen der Freude, sie um sich zu haben, und der Angst, der Fall des toten Babys könnte etwas ergeben, was ihrer gerade erst wiederauflebenden Beziehung ein jähes Ende bereiten würde.

Schließlich hatten sie aufgegessen, Olivia ging ins Wohnzimmer und legte sich auf die Couch, während Trey sich um den Abwasch kümmerte. Als er fertig war, brachte er ihr die Schmerztabletten und ein Glas Wasser.

“Danke”, sagte sie, nachdem sie die Tabletten genommen und sich wieder hingelegt hatte.

“Ich hätte den Kerl im Krankenhaus erschießen sollen”, murmelte Trey, als er sah, wie Olivia beim Hinlegen den Mund verzog, da die Bewegung ihr Schmerzen bereitete.

Sie griff nach seiner Hand und zog ihn zu sich auf die Couch. “Du hast mir das Leben gerettet, das war genug.”

Sein Blick ruhte einen Moment auf dem blauen Fleck auf ihrem Handrücken und wanderte dann weiter zu den Kratzern und Schrammen in ihrem Gesicht, die allmählich heilten.

“Oh, Livvie, was sollte ich bloß ohne dich machen? Du musst mich nur ansehen, und schon weiß ich nicht mehr ein noch aus. Und dabei hat man dir so wehgetan.”

“Aber nichts davon war deine Schuld, Trey. Es war nur ein Zufall, dass du derjenige sein solltest, der sich mit den Problemen befassen muss, in denen meine Familie steckt.”

Obwohl er sie bei sich haben wollte, musste Trey erst noch lernen, sich in Olivias Gegenwart zu entspannen. Er vermutete, es hatte etwas mit Vertrauen zu tun.

“Ich weiß. Dennoch fällt es mir nicht leicht, dich so leiden zu sehen. Erst recht, wenn ich daran denke, dass ich bereits meine Hände um den Hals dieses Dreckskerls gelegt hatte.”

“Du hast das Richtige getan”, widersprach sie. “Du bist mein Held.”

“Das möchte ich gern sein”, sagte er leise. “Das und noch viel mehr.”

“Mir genügt es, wenn du mich liebst und mir vergibst”, erklärte Olivia.

Er sah sie sekundenlang einfach nur an, dann gelang ihm ein schwaches Lächeln. “Wir werden das wirklich versuchen, oder irre ich mich, Honey?”

“Wir sind schon längst dabei”, entgegnete sie und strich ihm durchs Haar, während er wieder ernst wurde.

“Und du wirst bei mir bleiben, ganz gleich wie dieser Fall ausgeht?”

“Ja, Trey, ich werde so oder so bei dir bleiben.”

Dann konnte er sich ein selbstbewusstes Grinsen nicht verkneifen. “Eines sollst du wissen. Es ist ein verdammt gutes Gefühl, nach Hause zu kommen und zu wissen, dass du da bist.”

“Dann sollst du auch etwas wissen. Für mich war es ein verdammt gutes Gefühl, hier auf deine Rückkehr zu warten.”

Als er freudig lachte, wusste sie, sie würde diesen Augenblick niemals vergessen.

Es war kurz nach eins in der Nacht, als Trey zum dritten Mal aufstand, um nach Livvie zu sehen. Jedes Mal, wenn er fast eingeschlafen war, sah er sie wieder vor sich, wie man sie in die Notaufnahme gebracht hatte – verletzt, blutverschmiert und dem Tode nah. Diese entsetzliche Erinnerung ließ ihn immer wieder hochschrecken, aufstehen und sein Zimmer verlassen, um nach dem Rechten zu sehen.

Da er in der Nacht zuvor auch schon kaum Schlaf bekommen hatte, sollte er sich besser wieder hinlegen, um sich zumindest noch ein wenig auszuruhen, ehe um sechs Uhr der Wecker klingelte. Doch er schaffte es nicht, den Blick von Olivia zu nehmen. Vor langer Zeit einmal hatte er davon geträumt, dass ihm die Zukunft ein Leben mit ihr bringen würde. Aber es war Jahre her, dass er daran hatte denken müssen, wie wichtig sie ihm und wie schmerzhaft das Ende ihrer Beziehung gewesen war. Jetzt gab das Schicksal ihm eine zweite Chance, und die würde er sich durch nichts verderben lassen.

“Trey?”

Er erschrak. Erst als sie ihn ansprach, wurde ihm klar, dass sie längst wach gewesen war.

“Ja, ich bin’s.” Er kam zu ihr ans Bett. “Du könntest jetzt wieder eine Schmerztablette nehmen, falls du sie brauchst.”

“Nein, ist nicht nötig.”

“Etwas zu trinken?”

“Nein.”

“Okay … dann werde ich mal wieder …”

“Würdest du dich zu mir legen?”

“Ich fürchte, ich würde …”

“Du hast schon mindestens zweimal nach mir gesehen, seit ich mich hingelegt habe. Ich vermute, es ist die einzige Möglichkeit, damit wir beide etwas Schlaf bekommen.”

Er seufzte. “Ich wollte dich nicht stören, ich war nur besorgt.”

“Dann leg dich zu mir. Auf die Weise bist du nah genug, um sofort zu merken, ob ich irgendetwas brauche.”

“Ich fürchte, wenn ich mich zu dir lege, wirst du wohl merken, was ich brauche”, meinte er in sarkastischem Tonfall.

“Wenn du mir noch ein paar Tage Zeit lässt, werde ich sehen, was sich da machen lässt.”

“Ach, Livvie, ich lasse dir alle Zeit der Welt. Wenn du wirklich meinst, dass es das Richtige ist, lege ich mich zu dir.”

Olivia musste auf dem großen Bett nicht zur Seite rutschen, um für Trey Platz zu machen, der sich so hinlegte, dass er ihr ins Gesicht sehen konnte.

“Du bist nicht zugedeckt”, erklärte sie.

“Das macht nichts. Wichtig ist nur, dass du jetzt die Augen zumachst und schläfst.”

Sie seufzte, schloss die Augen und war fast sofort wieder fest eingeschlafen.

Trey betrachtete sie und stellte beruhigt fest, wie gleichmäßig sie atmete, während sich ihre Brust mit jedem Atemzug hob und senkte. Trotz der Dunkelheit konnte er ihr vollkommenes Profil sehen, den sinnlichen Schwung ihrer Lippen, die im Schlaf leicht geöffnet waren. Ihre Haare wirkten wie dunkle Seide auf dem dunklen Kissen. Er stellte sich vor, wie sie mit zwei Jahren genauso dagelegen und geschlafen hatte, damals noch unschuldig und völlig ahnungslos, wie schnell das Leben aus den Fugen geraten konnte.

Als kleines Mädchen hatte Olivia den Mörder ihrer Eltern gesehen. Er begann sich zu fragen, ob sie gewusst hatte, dass da noch ein Kind war. Hatte sie es gesehen, vielleicht sogar geahnt, es war ihre Halbschwester?

Von Olivias Vergangenheit hatte er nie viel gewusst. Für ihn war sie das hübsche Mädchen gewesen, das sich genauso Hals über Kopf in ihn verliebt hatte, wie er Livvie verfallen war. Dass sie das Opfer eines grässlichen Verbrechens gewesen war, hatte damals in ihrer Beziehung keine Rolle gespielt.

Doch inzwischen waren sie beide erwachsen.

Und inzwischen war er mit ihrer Vergangenheit hautnah in Berührung gekommen. Er hatte die Knochen in diesem Koffer gesehen, und mit einem Mal begriff er, dass Olivia auch so hätte enden können. Hätte nicht das Schicksal in Gestalt von Foster Lawrence eingegriffen und dieses Mädchen aus der Hölle geholt und in dem Einkaufszentrum ausgesetzt … Zum ersten Mal war Trey Lawrence fast schon dankbar für dessen Einmischung.

Es schmerzte ihn zu wissen, was Olivia in ihrer frühesten Kindheit durchgemacht hatte, doch er sehnte sich nach der Frau, die sie heute war. Und wenn es das Letzte sein sollte, was er tun konnte, er würde den Verantwortlichen finden und dafür bezahlen lassen.

Sie stöhnte im Schlaf leise auf.

Sofort war er hellwach, und sah, wie sie sich auf die andere Seite drehte, auf die unverletzte Schulter, ein Kissen gegen die Brust drückte und sich wieder zu Trey umdrehte.

Er musste schlucken, so dicht lag sie nun neben ihm, dann schob er behutsam seinen Arm um ihre Taille und zog Olivia an sich.

Erst dann schloss er wieder die Augen.

Erst dann kam es ihm wirklich so vor, als könnte er für ihre Sicherheit garantieren.

Erst dann.

Rose drehte sich im Schlaf um und zog das Laken etwas höher über ihre Schulter, da die Klimaanlage im Fenster beständig kalte Luft in ihre Richtung blies. Sie träumte von dem Tag, an dem das Haus der Sealys renoviert war und sie dorthin zurückkehren konnte.

Terrence konnte nicht schlafen und war so unruhig, dass Carolyn darüber aufwachte. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich mitten in der Nacht liebten, um die Geister der Vergangenheit zum Schweigen zu bringen. Sie hätten ihre Rastlosigkeit dem Jetlag zuschreiben können, doch das wäre gelogen gewesen. Die Vergangenheit lastete einfach zu schwer auf ihnen, auch wenn sie sich alle Mühe gaben, sie in den Griff zu bekommen.

Marcus saß im Hotelzimmer auf einem Stuhl nahe dem Fenster und starrte hinaus in die Nacht. Der kleine, kreisrunde Innenhof des Hotels war so beleuchtet, dass er besonders gut zur Geltung kam, doch davon nahm er nichts wahr. In Gedanken war er in die Vergangenheit zurückgekehrt und suchte dort mit der Verzweiflung eines Vaters, der wusste, er hatte versagt, nach dem Moment, an dem alles aus den Fugen geraten war.

War es Amelias Tod gewesen, der Michael in eine Richtung hatte abgleiten lassen, die sich als so zerstörerisch entpuppen sollte? War der Verlust der Mutter für den damals siebzehn Jahre alten Michael Auslöser für eine extreme Unsicherheit? Wie konnte er zwei voneinander völlig getrennte Leben geführt haben, von denen nicht mal der eigene Vater wusste?

Er lehnte sich nach vorn und legte die Hände vors Gesicht. Das war alles seine Schuld. Wäre er nicht immer nur auf noch mehr Geld aus gewesen, hätte er vielleicht noch rechtzeitig bemerkt, was sich da abspielte. Dann wären Michael und Kay vielleicht nicht ermordet und ihr Baby nicht in der Nacht entführt worden. Und vielleicht wäre das andere Baby, das tote Baby, nie ein Thema geworden, da es gar nicht erst geboren worden wäre.

Anna lag zusammengerollt in ihrem Bett und schlief ruhig und fest. An sich gepresst hielt sie die Babypuppe, die ihr jemand klugerweise gegeben hatte. Deren große Augen, die sich nicht schlossen, und das erstarrte Lächeln hatten fast schon etwas Obszönes an einem Ort, an dem Traurigkeit und Verwirrung herrschten. Dennoch war die Gegenwart der Puppe für Anna Grund genug gewesen, ruhiger zu werden. Sie war schon immer zielstrebig gewesen, bereits als Kind. In ihrem Geist hatten die letzten Jahre nie stattgefunden. Sie war immer noch die Frau, die Marcus Sealy als Kindermädchen eingestellt hatte. Die kleine Olivia hatte sie von Herzen geliebt, doch dann war da ein Feuer gewesen, und man hatte Anna fortgebracht. Dabei hatten sie das Baby verloren, und Anna war erschüttert gewesen, bis diese Schwester ihr dieses Kind in die Arme gelegt hatte. Wie glücklich war sie darüber, ihr Baby wieder bei sich zu haben.

Für den Moment war die Welt für sie wieder in Ordnung.

Foster Lawrence wusste nicht, was er machen sollte. Er kam sich vor, als sei er in eine Zeitschleife geraten, die es verhinderte, dass er den größten Fehler seines Lebens hinter sich lassen konnte. Sein Anwalt bedrängte ihn, er solle mit den Behörden kooperieren und sagen, was er wusste, wenn er seine Haut retten wollte. Genau das wollte er ja auch lieber als alles andere. Doch er schaffte es nicht, dem einen Menschen in den Rücken zu fallen, der zwischen ihm und der Freiheit stand.

Olivia erwachte in Treys Armen. Für ein paar Sekunden glaubte sie zu träumen, doch als er auch die Augen öffnete, wusste sie, dass dies hier real war. Sie sah das kurze Auflodern von Verlangen in seinem Blick, das er prompt kaschierte.

“Guten Morgen, Honey”, sagte er leise und küsste sie auf die Wange. “Hast du gut geschlafen?”

“Ausgezeichnet. Aber ich glaube, das lag an dem Mann, mit dem ich das Bett geteilt habe.”

Er grinste sie an. “Ich habe zwar kaum geschlafen, dafür aber so gut wie schon lange nicht mehr.”

Olivia begann zu lachen. “Ich freue mich so auf unser gemeinsames Leben.”

“Ich mich auch, Livvie, ich auch.”

“Ich muss aufstehen”, sagte sie.

“Okay, Honey. Brauchst du Hilfe?”

“Vielleicht ja”, antwortete sie. “Morgens bin ich noch etwas steif, aber im Lauf des Tages bessert sich das.”

Er stand auf und half ihr hoch, dann begab er sich ins Badezimmer, um zu duschen und um sich zu rasieren. Erst mal galt es einen Fall zu lösen, bevor sie sich einem gemeinsamen Leben widmen konnten.

Sheree Collier lehnte sich im Sessel nach hinten und legte die Beine übereinander, während sie eine Zigarette anzündete. Ihre Familie bedrängte sie schon seit Jahren vergeblich, endlich das Rauchen aufzugeben. Heute Morgen hatte sie den fünften großen Abschluss in diesem Monat gemacht, und sie fand, das war Grund genug zum Feiern. Sie zog an der Zigarette, inhalierte den Rauch bis tief in ihre Lungen und stieß ihn dann durch die Nase wieder aus. Ihr Ehemann Doug hasste es, wenn sie das tat. Er sagte, es gehöre sich nicht für eine Lady und es lasse sie wie eine billige Nutte aussehen. Sheree ging meistens darüber hinweg, doch manchmal verachtete sie ihn für diese Bemerkung.

Heute war sie aber zu gut gelaunt, um irgendjemanden oder irgendetwas zu hassen. Sie verstand es, Immobilien zu verkaufen, und sie hatte vor, Miamis Immobilienmaklerin des Jahres zu werden.

Im Vorzimmer klingelte das Telefon. Sheree sah durch die Glaswand, die das Vorzimmer von ihrem Büro abteilte, und beobachtete, wie ihre Sekretärin das Gespräch annahm. Als die Frau sich umdrehte und zwei Finger in Sherees Richtung hochhielt, wusste sie, das Gespräch war für sie. Sie drückte die Zigarette aus, räusperte sich und drückte auf den Knopf für Leitung zwei.

“Hallo, Sie sprechen mit Sheree.”

“Mrs. Sheree Lawrence Collier?”

Sie stutzte. Der Tonfall des Mannes verriet ihr sofort, dass er nicht wegen einer Immobilie anrief.

“Ja, und wer sind Sie?”

“Mrs. Collier, mein Name ist Detective Trey Bonney vom Morddezernat des Dallas Police Department.”

“Wenn Sie wegen meines Bruders anrufen – ich weiß von nichts”, erwiderte sie knapp.

Treys Griff um seinen Stift wurde fester. Er hatte sie gefunden!

“Dann sind Sie also die Schwester von Foster Lawrence.”

“Bedauerlicherweise ja.”

“Und Sie haben eine Zwillingsschwester namens Laree?”

Sie schnappte unwillkürlich nach Luft. “Ist ‘Ree was zugestoßen? Oh Gott, das habe ich schon seit Jahren befürchtet. Sie verschwand von einem Tag auf den anderen, obwohl wir uns so nahe gestanden hatten. Ich wusste immer, dass irgendwas passiert sein musste. Sie hätte nie im Leben einfach nichts mehr von sich hören lassen.”

“Moment, nicht so schnell”, sagte Trey. “Sie haben das falsch verstanden. Ich habe keine Informationen darüber, wo Ihre Schwester sich aufhält, vielmehr versuche ich, sie ausfindig zu machen.”

“Oh Gott.” Sheree zog ein Kosmetiktuch aus der Schachtel auf ihrem Schreibtisch und tupfte ihre Augen trocken. “Sie haben mir vielleicht einen Schreck eingejagt!”

“Entschuldigen Sie”, erklärte er. “Aber ich habe das richtig verstanden, dass Sie von Ihrer Schwester nichts mehr gehört haben?”

“Nein … das heißt, ja, das haben Sie richtig verstanden. ‘Ree … Laree ist meine Zwillingsschwester, wir haben immer alles zusammen unternommen.”

“Wie lange ist es her, als Sie sie zum letzten Mal sahen?”

Sherees Stimme zitterte. Mit einem Mal war es nicht mehr wichtig, ob sie Maklerin des Jahres wurde oder nicht. “Jahre … bestimmt über zwanzig Jahre, vielleicht sogar fünfundzwanzig.”

Mist! Schon wieder eine Sackgasse!

“Wo hat sie zu der Zeit gelebt?”

“Natürlich in Dallas. Da sind wir alle aufgewachsen, obwohl … wenn man es genau nimmt, wuchsen wir in Irving auf, aber das ist ja heute mehr wie ein Vorort von Dallas. Unsere Mutter führte ein Motel am Highway 75, und abends bediente sie im Café des Motels.”

“Und was machte Ihre Schwester zu der Zeit, als sie plötzlich verschwand?”

“Also zu der Zeit war ich bereits weggezogen. Mein Mann diente bei der Air Force und war in Kalifornien stationiert. Ich schrieb ihr regelmäßig, nach einiger Zeit kamen die Briefe mit dem Vermerk ‘Unbekannt verzogen’ zurück. Deshalb hörte ich auf, ihr zu schreiben. Es war schrecklich – so als hätte ich einen Teil von mir verloren.”

“Und Ihre Mutter?”

“Sie starb, kurz nachdem wir aufs College gewechselt waren. Deshalb wohnte Foster auch bei uns. ‘Ree und ich, wir teilten uns damals ein Apartment. Foster war erst zwölf. Tagsüber ging ich arbeiten, danach besuchte ich die Abendschule. ‘Ree arbeitete abends und nachts und ging am Tag zum Unterricht. Sie verbrachte mehr Zeit mit ihm, deshalb hatten die beiden eine engere Bindung.”

Trey schrieb mit, während sie redeten. Die Teile seines Puzzles fügten sich immer besser zusammen. Wenn Michael Sealy mit Laree ein Verhältnis gehabt hatte – und wenn sie wirklich die Mutter des toten Babys war –, würde es erklären, wieso Foster in diese Sache hineingezogen worden war.

“Wie alt war denn Foster, als sich die Spur Ihrer Schwester verlor?”

“So Anfang zwanzig, würde ich sagen.”

Er überflog die Akte und sah, dass Foster mit dreiundzwanzig seine Haftstrafe angetreten hatte. Es passte immer besser zusammen.

“Kurz danach war er an dieser Entführung beteiligt, auch wenn ich noch immer nicht glauben kann, dass er etwas so Schreckliches machen würde”, sagte Sheree. “Das passte überhaupt nicht zu ihm.”

“Hatten Sie während des Verfahrens irgendwann Kontakt zu Ihrem Bruder?”

“Nein. Mein Mann fürchtete, jemand könnte dahinterkommen, dass wir verwandt sind. Heute muss ich sagen, das war ein Fehler von mir. Aber ich ließ mich von ihm dazu überreden, und nach einer Weile war es zu spät, um noch etwas wiedergutzumachen. Da hatte man ihn schon in irgendein Gefängnis in Kalifornien gesteckt.” Jetzt wollte sie alles besser machen als damals.

“Wussten Sie irgendetwas, irgendeine Kleinigkeit über das Privatleben Ihrer Schwester aus der Zeit, als sie verschwand?”

Sheree dachte nach, dann kehrte eine vage Erinnerung zurück. “Ja, aber nichts Genaues. Ich glaube, sie hatte da einen Typen an der Angel, irgendeine große Nummer. Sie sagte, er sei reich und er würde sie aus dem ganzen Elend herausholen.”

“Erwähnte sie irgendwann einmal seinen Namen?”

“Nein, ich glaube nicht. Falls doch, dann habe ich ihn längst vergessen.”

Trey hatte noch eine Frage zu stellen, doch in dem Moment kam Sheree Collier ihm zuvor.

“Sie haben mir noch nicht gesagt, wieso Sie Laree eigentlich suchen.”

Er zögerte, weil er diese Frau nicht vor den Kopf stoßen wollte, wenn er vielleicht doch noch auf ihre Mitarbeit angewiesen war. “Es ist ein wenig verwirrend, und im Augenblick ist es auch nur eine Theorie.”

“Und?”

“Sie wissen, Ihr Bruder ging ins Gefängnis, weil er an der Entführung eines Mädchens namens Olivia Sealy beteiligt gewesen war.”

“Ja, aber wie ich sagte: Ich bin überzeugt davon, dass er damit nichts zu tun hatte.”

“Ich weiß, Ma’am, aber er war auch derjenige, der das Mädchen zurückbrachte.”

“Davon wusste ich nichts”, sagte Sheree verblüfft. “Das freut mich zwar, aber was hat Laree damit zu tun?”

“Möglicherweise hat Ihre Schwester das Verbrechen angezettelt. Es könnte sein, dass sie eine Affäre mit Michael Sealy hatte, dem Vater des Mädchens, und als der seine Frau nicht verlassen wollte, brachte sie Michael und Kay Sealy um und nahm das Kind an sich.”

“Das ist unmöglich!” rief Sheree. “Das würde sie niemals machen.”

“Ich kann Ihre Reaktion gut verstehen, aber Sie sagten auch, dass sie nicht glauben wollten, Ihr Bruder könnte in ein solches Verbrechen verwickelt werden.”

“Ja, aber ich wüsste nicht …”

“Was wäre, wenn es Ihre Schwester war, die ihn da hineinzog? Angenommen, sie geriet über irgendetwas in Panik, wäre es da nicht denkbar, dass er ihr geholfen hat, ganz egal, was sie getan hatte?”

Es folgte langes Schweigen, dann ein Seufzer. “Ja, vielleicht haben Sie Recht. Das heißt also, Sie suchen sie, weil sie zwei Menschen ermordet hat?”

“Nein, drei.”

“Sie sprachen aber nur von …”

“Vor zwei Wochen wurde die Leiche eines Kindes entdeckt, das zum Zeitpunkt der Entführung genauso alt war wie Olivia Sealy. Wir konnten bereits herausfinden, dass das tote und das freigelassene Baby denselben Vater haben. Wir wissen aber nicht, welches von ihnen zu welcher Mutter gehört und wer das andere Baby umgebracht hat.”

“Wollen Sie mir etwa erzählen, die beiden Babys hätten so gleich ausgesehen, dass man sie nicht voneinander hätte unterscheiden können?”

“Nicht unbedingt. Wie gesagt, das ist alles nur eine Theorie.”

“Und was wollen Sie von mir?”

“Da Sie nicht wissen, wo Ihre Schwester ist, möchte ich Sie um eine DNS-Probe bitten. Da Sie eineiige Zwillinge sind, können wir Ihre DNS mit der der beiden Mädchen vergleichen. Damit würde klar werden, ob sie die Mutter eines der Kinder ist. Wenn sie das nicht ist, würden Sie dazu beitragen, Ihre Schwester von einem Verdacht reinzuwaschen.”

“Und wenn sie es doch getan hat, helfe ich Ihnen, dass man sie zum Tode verurteilt.”

“Hören Sie, das kleine Mädchen war nicht mal zwei Jahre alt, als man ihm den Schädel einschlug, es in einen Koffer steckte und dann einmauerte. Finden Sie wirklich, eine solche Tat soll ungesühnt bleiben?”

Das nackte Grauen packte Sheree, als sie diese Sätze hörte. “Schon gut, ich werde Ihnen helfen.”

Trey atmete erleichtert auf. “Ich kann alles so arrangieren, dass die DNS-Probe bei Ihnen in der Nähe entnommen wird.”

“Ist mein Bruder wieder im Gefängnis?”

“Ja.”

“In Dallas?”

“Ja, Ma’am.”

“Wird ihm schon etwas Konkretes zur Last gelegt?”

“Noch nicht, aber man könnte ihn belangen, weil er Informationen zurückgehalten hat oder weil er zumindest ein Mitwisser des Mordes war. Wir bekommen ihn nicht dazu, den Mund aufzumachen.”

Sheree kam sich mit einem Mal alt vor.

“Ich komme zu Ihnen. Ich müsste noch einen Nachtflug erwischen, dann bin ich morgen da”, sagte sie. “Ich will mit Foster reden. Wenn er ‘Ree beschützt, und es geht wirklich um etwas so Schreckliches, dann soll er wissen, dass es okay ist, wenn er die Wahrheit sagt.”

“Danke, Mrs. Collier. Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer, dann können Sie mich anrufen, sobald Sie in Dallas sind. Ich werde alles arrangieren, damit Sie Ihren Bruder besuchen können.”

“Ja, ist gut”, entgegnete sie und legte auf.

Einige Sekunden lang starrte sie auf die Zigarette, die sie vor dem Telefonat ausgedrückt hatte. Dann drehte sich ihr der Magen um und sie schaffte es noch gerade rechtzeitig bis zur Toilette, wo sie sich übergeben musste. Als sie an ihren Schreibtisch zurückkam, stand ihre Sekretärin an der Tür und sah sie besorgt an. “Mrs. Collier? Ist alles in Ordnung?”

Sherees Kinn zitterte. “Nein, und möglicherweise wird nie wieder etwas in Ordnung sein.”

“Kann ich etwas für Sie tun?”

“Buchen Sie mir den nächsten Flug nach Dallas, und sagen Sie für die nächsten Tage alle meine Termine ab. Ich rufe Sie an, wenn ich weiß, wann ich zurückkomme.”

“Ja, Ma’am. Ich möchte nicht, dass das zu persönlich klingt, aber ich hoffe, Sie haben keine allzu schlechte Nachricht bekommen.”

“Honey”, erwiderte Sheree. “Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, aber ich glaube, eine schlechtere Nachricht als die könnte ich gar nicht bekommen.”

“Oh weh. Es tut mir wirklich Leid. Sie haben mein ganzes Mitgefühl.”

“Tja, ich werde wohl eine ganze Menge mehr brauchen”, entgegnete Sheree, nahm ihre Handtasche und verließ das Büro.