14. KAPITEL
Trey rief Olivia vom Wagen aus an, als er zurück zur Wache fuhr. Sie meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
“Olivia, Honey. Ich bin’s.”
“Oh, hallo ‘Ich’“, erwiderte sie amüsiert.
Unwillkürlich musste Trey lächeln und begann zu überlegen, wann er sich das letzte Mal so gut gefühlt hatte.
“Ich wollte dir nur sagen, dass etwas dazwischengekommen ist. Ich bin jetzt auf dem Weg zurück zum Revier. Das war ein hitziger Abend in der Stadt, so wie es aussieht. In Downtown ist ein altes Hotel abgebrannt, und ich muss einige Überlebende befragen.”
“Oh, wie schrecklich.”
“Ja. Auf jeden Fall kann ich heute Abend nicht noch mal vorbeikommen. Schlaf dich aus, dann hole ich dich morgen früh ab.”
“Gut, und du, pass auf dich auf”, sagte Olivia.
“Das mache ich doch immer, Honey. Außerdem verbringe ich die nächsten Stunden nur auf dem Revier, da kann nichts passieren. Schlaf gut und träum noch ein bisschen von mir. Bis morgen.”
Olivia legte den Hörer auf, dann drehte sie sich um und schloss die Augen. Je eher es Morgen war, umso eher würde sie endlich das Krankenhaus verlassen können. Bevor sie jedoch einschlafen konnte, klingelte erneut das Telefon.
“Hallo?”
“Darling, ich bin es”, sagte Marcus.
“Grampy? Ich bin ja so froh, deine Stimme zu hören. Trey hat mir erzählt, was passiert ist. Wie geht es Rose und Anna inzwischen?”
“Gut, nur ein wenig aufgewühlt. Anna konnte ich für den Augenblick in einer Einrichtung für betreutes Wohnen unterbringen, auch wenn sie sich die ganze Zeit über dagegen gesträubt hat. Rose ist bei ihrer Schwester, und die Handwerker können erst in ein paar Tagen am Haus arbeiten. Mehr konnte ich nicht tun.” Olivia war erleichtert darüber, dass er alles so gut geregelt hatte.
“Ach, Grampy, es tut mir Leid, dass ich dir nicht helfen kann.”
“Da, wo du im Moment bist, bist du besser aufgehoben. Außerdem gibt es nichts zu helfen. Trey hat dir alles erzählt, sagtest du?”
“Ja, er war hier. Morgen früh kommt er mich abholen. Eine Nachbarin wird tagsüber auf mich aufpassen, auch wenn ich keine Babysitterin brauche.”
“Lass ihn für dich sorgen, Darling. Ich möchte dich nicht vom Krankenhaus in ein Hotel umquartieren, sonst würde ich dich abholen kommen.”
“Ich weiß”, erwiderte Olivia. “Aber ich fühle mich nicht von allen verlassen, sondern schuldig.”
“Wieso schuldig?” fragte Marcus.
“Wegen Anna.”
“Nun hör aber auf, Darling. Sie braucht Hilfe, und außer uns hat sie niemanden. Sie gehört zur Familie, und die Familie lässt man nicht im Stich.”
“Apropos Familie … sind Onkel Terrence und Tante Carolyn schon angekommen?”
“Ja, ich treffe mich in einer Stunde mit ihnen im Hotel.”
“Grüß sie bitte von mir.”
“Das werde ich machen”, erwiderte Marcus. “Und jetzt schlaf gut, Darling. Ich rufe dich morgen an.”
“Grampy?”
“Ja?”
“Glaubst du, das mit Daddy … glaubst du, das stimmt?”
Marcus sank ein wenig in sich zusammen, als er sie fragen hörte. “Ich möchte es nicht glauben, aber ehrlich gesagt wüsste ich keine andere Erklärung.”
“Tut mir Leid”, entgegnete Olivia leise.
“Wieso?” fragte er erstaunt. “Nichts von alledem ist deine Schuld.”
“Mir tut es Leid, dass diese Dinge passieren. Ich kann mich nicht an meine Eltern erinnern, du schon. Ich weiß, du bist traurig. Es tut mir Leid, dass du das alles durchmachen musst.”
Er unterdrückte die Tränen, die ihm bei ihren Worten kamen. “Ich danke dir, Darling. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen sollte.” Dann wurde ihm bewusst, wie besitzergreifend sich das womöglich anhörte, und fügte rasch an: “Aber es könnte sein, dass ich mir selbst vielleicht damit geschadet habe, indem ich so über dich und deine Zeit verfügt habe. Hätte ich nicht so kurzsichtig gehandelt, wäre ich heute vielleicht schon Urgroßvater.” Wieder fühlte er deutlich, wie sehr er seine Enkelin liebte.
Olivia wusste, es war die einzige Art, wie er sich dafür entschuldigen konnte, dass er sie so viele Jahre lang unter Druck gesetzt hatte, damit sie bei ihm blieb. Rückblickend musste sie einräumen, an dieser Situation mindestens die gleiche Schuld zu tragen. Sie hatte sich von ihm ihr Leben bestimmen lassen, weil es einfacher gewesen war als sich gegen ihn zu stellen. Es war schade, dass sie erst dem Tod so nahe hatte kommen müssen, ehe sie den Mut fand, das zu tun, was sie wollte. Sie musste an Trey denken. “Oh, Grampy, ich glaube, es ist nie zu spät, um etwas wiedergutzumachen.”
Als Marcus in diesem Moment überlegte, wie lange er schon ohne seine Amelia lebte, fühlte er sich mit einem Mal alt. “Weißt du was, Darling? Du hast Recht. Und nun schlaf gut, wir sprechen uns morgen.”
“Schlaf auch gut, Grampy”, erwiderte sie und wartete, bis die Leitung unterbrochen wurde, dann erst legte sie auf.
Einige Minuten lang lag sie da und überlegte, was die Zukunft ihr wohl bringen würde. Als sie einschlief, träumte sie wieder von Trey, und diesmal auch von Babys mit dunkelbraunen Augen und einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen.
Foster saß auf einem Stuhl neben Treys Schreibtisch und trug noch immer seine Handschellen, als Trey eintraf. Chia Rodriguez betrachtete ihn eindringlich und versuchte sich vorzustellen, ob dieser Mann so kaltherzig sein konnte, ein totes Baby in einen Koffer zu stecken. Ihr Partner David Sheets hatte die Arme verschränkt und lehnte sich gegen den benachbarten Schreibtisch. Beide drehten sich zu Trey um, als der hereinkam.
“Wie machst du das nur?” fragte Sheets, während Trey dem Mann die Handschellen abnahm.
“Wie mache ich was?”
“Dass du immer wie der strahlende Held dastehst? Ich und Chia, wir schuften wie die Verrückten, und du bist mal hier, mal da, und zwischen zwei Kaffeepausen schnappst du mal eben einen Kriminellen. Wir stehen wie die Trottel da.”
“Ach, halt die Klappe, Sheets”, sagte Chia. “Das tut nun wirklich nichts zur Sache.”
“Wir sind ein Team”, gab Trey zurück. “Das solltet ihr nie vergessen. Bleibt bei dem Verhör auch ruhig dabei. Vielleicht weiß er etwas über das Feuer, das euch nützen könnte.”
Foster sah die Polizistin an. “Das Feuer im Hotel? Warum haben Sie nicht sofort was gesagt? Ich dachte, Sie bewundern, wie mein Schädel das Licht reflektiert.”
Chia ging über seinen Sarkasmus hinweg. “Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben.”
“Ich wollte gerade Dallas hinter mir lassen”, berichtete er. “Eine Viertelstunde oder vielleicht eine halbe Stunde früher, und ich hätte von dem Feuer gar nichts mitbekommen.”
“Konnten Sie irgendetwas Verdächtiges beobachten?” fragte sie.
“Nein, ich ging die Treppe nach unten und stand auf einmal mitten in diesem Rauch. Der stieg immer höher, und ich bin daraufhin wieder nach oben gelaufen. Es wurde immer wärmer, ich habe ‘Feuer’ gerufen und lief weiter nach oben. Die anderen kamen auch die Treppe nach oben gerannt, und dann waren wir auch schon auf dem Dach. Den Rest der Story kennen Sie ja.”
“Als Sie auf dem Dach waren, hat sich da irgendjemand eigenartig geäußert?”
“Lady, die Leute auf dem Dach haben alle nur in Panik geschrien.”
“Ja, schon klar. Aber wenn Ihnen irgendetwas einfällt …”
“Ich werde Sie dann ganz bestimmt anrufen”, sagte Foster, sah dann aber zu Trey. “Das heißt, das hängt davon ab, wie viele Telefonate ich führen darf.”
“Ich sagte bereits, Sie sind nicht verhaftet.”
“Dann schießen Sie mal los”, redete Foster weiter. “Es hieß, man wollte mir Fragen stellen, also stellen Sie bitte Ihre Fragen. Ich habe auch noch ein Privatleben.”
Trey setzte sich auf die Tischkante. “Als Sie aus Lompoc entlassen wurden, wieso kamen Sie nach Dallas zurück?”
“Um das Lösegeld zu holen, das ich hier versteckt hatte”, antwortete Foster.
Mit dieser Antwort hätte Trey niemals gerechnet. “Und? Haben Sie es geholt?”
“Oh ja, sicher, darum habe ich ja auch wie ein König im Henry-Dean Hotel gelebt, als es in Flammen aufging.” Dann begann er zu lachen. “Ich habe allmählich das Gefühl, dass ich Brände magisch anziehe.”
“Wie soll ich das verstehen?”
“Na ja, das Lösegeld … ich hatte es im Keller eines Restaurants versteckt, im Lazy Days. Als ich herkomme, um das Geld zu holen, muss ich erfahren, dass die ganze verdammte Bude vor Jahren abgebrannt ist.” Er lachte lauthals und klatschte sich auf die Schenkel. “Ist das nicht der Brüller? Das Geld ist weg. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, baut man ausgerechnet da eine Bank hin. Überall Wachen, und ich habe natürlich keinen Bock, wieder hinter Gitter zu wandern. Also nehme ich mir ein Zimmer und überlege, was ich jetzt machen soll, und siehe da – das Hotel geht auch in Flammen auf. Ich denke, es wird Zeit, aus Dallas zu verschwinden, und dann tauchen Sie auf, und jetzt sitze ich hier.”
Die Geschichte war so abstrus, dass Trey sie ihm abnahm. Außerdem hatte er andere Probleme als einen Stapel Geldscheine, die sich in Rauch aufgelöst hatten.
“Da Sie wissen, dass wir Ihnen einige Fragen stellen möchten, wird Ihnen wohl auch der Grund dafür bekannt sein”, sagte Trey.
“Jemand hat ein totes Baby gefunden”, sagte Foster, ohne die Miene zu verziehen.
“Stimmt, jemand hat ein totes Baby gefunden. Oder die Überreste, um es genauer zu sagen.”
“Ich habe mit dem toten Baby nichts zu tun. Babys umzubringen, liegt mir nicht.”
“Aber es lag Ihnen, ein Kind zu rauben und Lösegeld zu fordern.”
Foster überlegte, was genau er eigentlich wusste, und kam zu dem Schluss, dass er sich mit jedem weiteren Wort womöglich um Kopf und Kragen redete. “Ich habe damals gesagt, was Sache ist, und trotzdem wurde ich ins Gefängnis gesteckt. Darum halte ich es für keine gute Idee, wenn ich es jetzt noch mal erzähle. Aber ich hatte weder mit einem Mord noch einer Entführung irgendetwas zu tun. Ich bin erst darauf gestoßen, als es passiert war, und dann habe ich etwas verdammt Dämliches gemacht. Ich dachte, ich komme auf die Tour schnell an sehr viel Geld. Außerdem wäre das Kind ohne mich nie freigelassen worden.”
Trey stand auf, ging um den Tisch und sah die Akte über den Fall durch. “Das haben Sie damals nicht gesagt”, erklärte er.
“Was hab ich nicht gesagt?” gab Foster nervös zurück.
“Dass Olivia Sealy ohne Sie nicht freigelassen worden wäre.”
“Aber klar hab ich das gesagt. Ich habe das Kind ja auch in das Einkaufszentrum gebracht, oder etwa nicht?”
“Das ja, aber es war nie die Rede davon, dass Sie das gegen den Willen des Entführers gemacht haben”, stellte Trey klar.
Foster rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her und schaute zu Boden.
“Wer war diese andere Person, die an der Entführung beteiligt war?”
“Ich habe meine Zeit abgesessen”, raunte Foster. “Sie können mich dafür nicht noch mal in den Knast bringen. Warum lassen Sie mich nicht endlich in Ruhe?”
“Ich will Ihnen nicht die Entführung anhängen”, gab Trey zurück. “Ich rede von Mord. Jemand hat ein Baby umgebracht, in einen Koffer gesteckt und dann eingemauert.”
“Ich war’s nicht.”
“Sie waren an der Entführung des einen Kindes beteiligt. Warum sollte ich Ihnen glauben, dass Sie das andere Kind nicht umgebracht haben?”
Foster legte die Stirn in Falten. “Ich kapier das nicht. Was haben die beiden Sachen miteinander zu tun?”
“Beide Babys waren fast im gleichen Alter, beide wurden mit einem linken Daumen zu viel geboren – eine Anomalie, die für die Familie Sealy typisch ist –, und beide Kinder haben denselben Vater.”
Ungläubig schüttelte Foster den Kopf. “Ich habe nur ein Kind gesehen … und das habe ich ins Einkaufszentrum gebracht. Ich weiß nichts von einem zweiten Kind.” Schweiß trat ihm auf die Stirn und die Oberlippe. “Das müssen Sie mir glauben, ich weiß nichts davon.”
Trey sah zu Chia und Sheets, die von den Enthüllungen so gebannt zu sein schienen wie Foster Lawrence. Er wusste nicht, ob er dem Mann glauben sollte oder nicht. Chia wirkte ebenfalls unentschlossen. “Also gut, Lawrence. Dann erzählen Sie mir mal, wie Sie eigentlich in diese Entführung gerieten.”
Weil er damals den Mund gehalten hatte, war er für fünfundzwanzig Jahre ins Gefängnis geschickt worden. Und jetzt sah es so aus, als sollte sein Schweigen ihn abermals in Schwierigkeiten bringen. Er würde sich nicht noch einmal wegsperren lassen.
“Ich will einen Anwalt”, erklärte Foster. “Ich traue keinem von Ihnen über den Weg. Wenn Sie von mir irgendwas wissen wollen, dann nur, wenn ich von Ihnen diese kleine Karte ‘Sie kommen aus dem Gefängnis frei’ bekomme.”
Trey unterdrückte einen Fluch. Er war so dicht davor, die Wahrheit zu erfahren, und ausgerechnet jetzt musste Lawrence sich hinter einem Anwalt verstecken.
“Wenn Sie einen Anwalt wollen, dann dürfen Sie im Gefängnis auf ihn warten”, sagte er und legte Foster die Handschellen wieder an.
Foster wurde bleich, lenkte jedoch nicht ein. “Zum Teufel mit Ihnen”, murmelte er.
“Nein, zum Teufel mit Ihnen”, gab Trey zurück. “Jemand hat ein Baby ermordet, und ich glaube, Sie wissen, wer der Täter ist. Sie beschützen einen Kindesmörder. Da können Sie sogar die Dallas Cowboys ganz allein von einem brennenden Dach retten, ein Held sind Sie deshalb noch lange nicht.”
“Ich wollte auch kein Held sein”, meinte Foster. “Ich wollte nur mein Leben retten.”
“Ja, das passt zu Ihnen.” Trey stieß ihn an, damit er weiterging.
Er brachte Foster zur Arrestzelle, übergab ihn an den zuständigen Kollegen und erledigte den Papierkram. Als Trey fortging, hörte er Foster unablässig von Rechten und von einem Anwalt reden.
Marcus hatte Tabletten gegen seine Kopfschmerzen genommen, hatte sich geduscht und rasiert, obwohl es ihn im Augenblick nicht kümmerte, wie er aussah. Er wollte nur diesen Abend hinter sich bringen. Mit Terrence an einem Tisch zu sitzen, würde eine Qual werden. Es grenzte an ein Ding der Unmöglichkeit, sich mit diesem Mann zivilisiert zu unterhalten, und wäre Carolyn nicht mitgekommen, hätte es diese Begegnung gar nicht erst gegeben.
Im Restaurant des Hotels war ein Tisch reserviert, während er im Foyer auf ihre Ankunft wartete.
Carolyn entdeckte Marcus zuerst, warf die Arme vor Begeisterung in die Luft und kam zu ihm. Sie umarmte ihn, küsste ihn auf beide Wangen, dann drehte sie sich zu ihrem Ehemann um. “Terrence, sieh dir nur Marcus an. Ich könnte schwören, er ist keinen Tag älter geworden, seit wir weggezogen sind.”
Terrence Sealy nickte und lächelte, aber er fühlte sich so unwohl in seiner Haut wie Marcus. “Ich fürchte, ich kann das von mir nicht behaupten”, sagte er und klopfte sich auf den Bauch. “Zu viele Nudeln und zu guter Wein.”
Carolyn lächelte ihn an. “Ach, Terry, für mich siehst du immer wundervoll aus.”
“Glaub nicht, ich wüsste das nicht zu schätzen”, entgegnete er mit sanfter Stimme.
“Unser Tisch ist fertig”, wechselte Marcus abrupt das Thema.
Sie setzten sich, bestellten Vorspeisen und Wein, und kamen dann auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen.
“Soll das heißen, dass meine DNS auf einmal nicht mehr benötigt wird?” fragte Terrence.
Marcus wusste nicht, was er antworten sollte. “Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen, aber es ist zumindest zweifelhaft. Leider wart ihr schon auf dem Weg hierher, sonst hättet ihr euch nicht herbemühen müssen.”
“Ach, wir hätten doch sowieso nicht unbedingt herkommen müssen”, widersprach Carolyn. “Den Test hätten wir auch zu Hause vornehmen lassen können. Aber wir wollten dir Rückhalt geben, weil das alles so schrecklich ist, was da passiert ist.”
“Danke”, sagte Marcus. “Es ist nur schade, dass Olivia heute nicht bei uns sein kann.”
Carolyn spielte nervös mit dem Besteck. “Ich kann es noch immer nicht fassen, was ihr passiert ist. Das ist so entsetzlich. Es stimmt doch, dass irgendein Verrückter sie völlig ohne Grund angegriffen hat, nicht wahr?” Für sie war es immer noch eine unglaubliche Tat.
“Im Wesentlichen ja”, erwiderte er. “Er hatte Wahnvorstellungen und Schuldgefühle wegen eines früheren Verbrechens, und er dachte, wenn er Olivia tötet, würde Gott ihm seinen ersten Fehler vergeben.”
Terrence’ Miene verfinsterte sich. Keiner von beiden hätte es zugeben wollen, doch mit zunehmendem Alter waren sich die Männer immer ähnlicher geworden. Carolyn ließ es sich jedoch nicht nehmen, dies anzusprechen. “Sieh ihn dir nur an”, sagte sie und zeigte auf ihren Mann. “Ihr zwei könntet Brüder sein.”
Als Terrence wegsah, legte Carolyn eine Hand auf Marcus’ Arm und senkte ihre Stimme. “Das muss doch schlimm für dich sein, das mit Michael … du weißt schon …”
“Sie werden dir einige Fragen stellen”, entgegnete er.
“Mir? Wieso denn?”
“Weil ich den Fehler gemacht habe, zu erwähnen, dass du mit Michael gut befreundet warst. Detective Trey Bonney hofft, von dir etwas zu erfahren, was ihn zu der Mutter des anderen Babys führen könnte.”
Carolyn wurde erst rot, dann kreidebleich.
“Es tut mir Leid, Carolyn, aber ich wollte dich vorwarnen.”
Terrence zog wütend die Augenbrauen zusammen. “Hör zu, Marcus. Nur weil …”
“Nein, Liebling”, fiel sie ihm ins Wort. “Hier ist etwas Schreckliches passiert, und ich bin froh, wenn ich ein wenig zur Aufklärung beitragen kann. Aber um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass ich wirklich behilflich sein kann.”
“Trotzdem danke”, sagte Marcus. “Oh, da kommen ja die Getränke.”
“Die Vorspeisen sehen köstlich aus”, warf Carolyn ein.
Sie nahm eine halbe Scheibe Toast mit Roastbeef und einem Klecks Meerrettich darauf und biss ab. “Mmh, das schmeckt so gut.” Sie nahm eine zweite Scheibe und hielt sie Terrence vor. “Mund auf.”
Er gehorchte und gab einen angenehm überraschten Laut von sich, während Marcus ihn zum Teufel wünschte.
Der Rest des Abends verstrich ebenso belanglos wie er begonnen hatte.
Anna weinte. Sie wusste weder, wo sie war, noch wie sie dorthin gekommen war. Immer wieder sah sie in den Schrank und betrachtete die Kleidung, die dort auf den Bügeln aufgehängt war. Ihr Blick wanderte über die Schublade, in der ihre Unterwäsche zusammengefaltet lag. Sie war sich sicher, dass diese Dinge ihr gehörten, da sie sich erinnern konnte, sie gewaschen zu haben. Wo allerdings die Waschmaschine und der Trockner geblieben waren, wusste sie nicht. Sobald sie draußen danach suchen wollte, ließ man sie nicht von dieser Etage fort.
Sie kam sich vor wie eine Gefangene, dabei hatte sie doch nichts verbrochen. Von jedem bekam sie zu hören, sie sei ein so guter Mensch. Außerdem suchte sie noch immer ihre kleine Olivia. Sie hatte Mr. Marcus versprochen, mit ihm nach Hause zu gehen und auf Olivia aufzupassen, doch nirgends war eine Spur von ihr. Sie hatte telefonieren wollen, aber diese Frau bestand darauf, dass sie in ihr Zimmer zurückkehrte, dann nahm sie Annas Arm und brachte sie zurück.
Nun saß Anna im Dunkeln auf der Bettkante und betrachtete die ständig wechselnden Bilder im Fernsehen, ohne zu begreifen, was sie dort sah. Erst als die Nachrichten begannen und über ein Feuer in einem Hotel in Downtown berichtet wurde, stöhnte sie leise auf. Sie ahnte, dass diese Bilder etwas mit ihr selbst zu tun haben könnten.
Es war ein großes Feuer. Menschen standen auf einem Dach und schrien, während ein Hubschrauber sie nach und nach in Sicherheit brachte.
Bei Anna zu Hause hatte es auch gebrannt. Nein, das war nicht bei ihr zu Hause, sondern woanders gewesen. Dort war auch die Feuerwehr gekommen, um das Feuer zu löschen. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern.
Rose war mit ihr in der Küche, sie kochten, der Fernseher lief. Rose sah das Feuer auch, es hatte das ganze Gebäude erfasst.
Gänseblümchen. Da waren Gänseblümchen an der Wand. Ich nahm sie von der Wand und legte sie hin. Gänseblümchen sollen nicht an der Wand hängen. Sie sollen im Wasser stehen. Aber da war kein Wasser, nur Feuer.
Anna ließ sich von der Bettkante gleiten und kroch in eine Ecke des Zimmers, dann drehte sie sich so, dass sie die Wand anstarrte. Nach einer Weile kam jemand herein und rief einen Namen, den sie nicht kannte. Die Schritte kamen näher, eine Hand berührte ihre Schulter.
“Anna, soll ich Ihnen ins Bett helfen?”
“Wer ist Anna?”
“Sie sind Anna. Und jetzt stehen Sie doch einfach auf, dann können Sie sich ins Bett legen.”
Anna fasste die Hand und zog sich hoch. “Sie müssen mir helfen, ich habe mich verirrt. Ich weiß nicht, wie ich zurück nach Hause komme. Jemand muss mich abholen, ich will nach Hause.”
“Ich weiß, meine Liebe. Aber im Moment fühlen Sie sich nicht besonders gut, und erst mal muss es Ihnen etwas besser gehen, finden Sie nicht auch?”
Sie ließ sich zum Bett führen, wo die Frau ihr aus den Schuhen und dem Sweater half. Nachdem sie die Decke aufgeschlagen hatte, half sie Anna beim Hinlegen. “So, das ist doch gleich viel angenehmer, nicht wahr?” sagte die Frau.
“Ich kann meine Olivia nicht finden”, erwiderte Anna. “Sie mag es, wenn ich sie in den Schlaf wiege, aber ich kann sie nicht finden.”
“Ich helfe Ihnen morgen bei der Suche nach ihr, okay? Und jetzt machen Sie den Mund auf.”
Anna gehorchte und spürte, wie etwas auf ihre Zunge tropfte.
“Und jetzt trinken Sie einen Schluck, das hilft Ihnen beim Einschlafen.”
“Ich bin müde, nicht wahr?” fragte Anna.
Die Frau strich ihr sanft übers Gesicht. “Ja, ich glaube, das sind Sie.”
Anna seufzte. Es war gut, wenn ihr jemand solche Dinge sagte. Als sie allein war, hatte sie so vieles vergessen, da tat es gut, wenn ihr jemand erklärte, was sie tun sollte.