3. Die systematische Offensive gegen die Slawen beginnt
Gab es auch längst vor Karl I. gelegentliche Konflikte zwischen Franken und Slawen (vgl. S. 236 f.), so wurde doch ihr allmähliches Einsickern nach Thüringen, Bayern, bis an Naab und Regen, Main und Regnitz (»Reichswenden«), wurde das Vordringen von Menschen serbischer und böhmischer Herkunft im 7. und 8. Jahrhundert durch die fränkische Staatsgewalt nicht gestoppt, sei es, weil man nicht konnte, sei es, weil man nicht wollte. Die slawische Landnahme im 8. Jahrhundert im Gebiet am oberen Main soll sogar im Einvernehmen mit dem Reich erfolgt sein. Karl aber eröffnete als erster Frankenherrscher eine systematische antislawische Politik, mischte sich auch in innerslawische Verhältnisse ein und machte diverse benachbarte Stämme tributpflichtig bis zur Oder.
Es war die Vernichtung des Awarenreiches, die den Beginn der Christianisierung der mährischen Slawen eingeleitet hat. Sie kamen kurz nach dem ersten Feldzug 791 gegen die Awaren unter fränkische Oberherrschaft.41
Doch dieser neue Erfolg stillte den königlichen Aggressionsdrang nach Osten nicht. Nun kam Böhmen an die Reihe, auf drei Seiten ja bereits vom Frankenreich umgeben. Und kaum hatte Karl Sachsen und Awaren endgültig überwunden, setzte er ein weiteres großes Kriegsunternehmen in Gang. Er warf 805, in dem Jahr, in dem sein Diedenhofener Capitulare den Waffenhandel mit Slawen beschränkte, drei Heere gegen die Böhmen, in den fränkischen Quellen Beheimi (Boemani) und Cichu-Windones (tschechische Wenden) genannt. Unter Führung seines ältesten Sohnes Karl ließ er Böhmen von drei Seiten angreifen und bis über die Elbe hinaus verwüsten, auf der ein viertes Heer mit Schiffen bis Magdeburg vordrang. Und während seine Truppen buchstäblich verheerend operierten, auch Lecho, den Böhmenherzog, töteten, vergnügte Majestät selbst sich wieder einmal monatelang auf der Jagd in den Vogesen.
Freilich – »die wahre Jagd war doch die Menschenjagd, der Krieg« (Riché). Schon 806 erfolgte ein neuer Feldzug gegen Böhmen, der eigentlich aber nur eine Wiederholung des letzten war. Wieder stieß man mit drei Heersäulen aus Bayern, über das Fichtelgebirge und von Norden her gegen die Böhmen vor, die in die unwegsamen Wälder entwichen. Man unterjochte auch die östlich des limes sorabicus siedelnden slawischen Stämme und erzwang Steuern, Gold, Silber, Vieh, das die Böhmen mindestens bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts entrichteten. Weitere erfolgreiche Angriffe wider die Heiden im Osten und Norden schlössen sich an. Noch 806 befahl Karl den Krieg gegen die Elbslawen, die Nachbarn der Böhmen. Nachdem einer ihrer Fürsten getötet worden war, unterwarfen sie sich. Und schließlich beugte man auch die Wilzen.42
Böhmen, Wilzen und Awaren wurden, wie Notker der Stammler, der Mönch von St. Gallen, von seinem im kaiserlichen Gefolge ziehenden Recken Eishere aus dem Thurgau rühmt, »wie das Gras auf der Wiese gemäht«. Sieben, acht oder neun dieser »Kröten« (ranunculi) pflegte er auf seiner »Lanze aufgespießt« mit sich herumzutragen. Und unser Monachus Sangallensis läßt seinen Thurgauer Kämpen noch recht christlich hinzusetzen: »Unnützer Weise haben der Herr König und ich uns mit diesem Wurmzeug (vermiculos) abgemüht.«43
Was die Slawen für den Mönch des 9. Jahrhunderts, immerhin einen Seligen der katholischen Kirche, waren, »Kröten« und »Wurmzeug«, sind sie durch sehr viele Jahrhunderte für sehr viele Christen geblieben.
Seit der Jahrhundertwende stand die »Slawenmission« für den Kaiser im Vordergrund. Ob es dabei mehr um Christianisierung oder um das Aufzwingen von Tributpflichten ging, sei dahingestellt. Jede Verweigerung der Abgaben wurde als Aufstand betrachtet und als Grund für einen neuen Krieg. Die fortwährenden Feldzüge aber und das – auch im ganzen 9. Jahrhundert – bewußt eingesetzte »Prinzip ›divide et impera‹« (Nový) hatten jeden festeren Zusammenschluß der sorbischen Stämme zu verhindern.
Besonders bemerkenswert dabei, daß der Krieg gegen die Böhmen kurz nach dem Besuch Papst Leos III. im Jahr 804 bei Karl begann, und überhaupt jetzt die Offensiven gegen die Slawen, im Unterschied zu allen früheren, schnell vorübergehenden Zusammenstößen, systematisch geführt worden sind. »Erst mit der Übersendung der Awarenbeute an den Papst und mit der Begründung des Erzbistums Salzburg kam es zu einem planmäßigen Vorgehen, und diese Ereignisse hängen ihrerseits wieder ... mit dem Bündnisschluß zwischen Karl und Leo III. im Jahre 796 aufs engste zusammen.« »Am Anfang der karolingischen Slawenmission steht Karls des Großen Bund mit Rom« (Brackmann).
Am Ende all dieser Raubzüge stand ein Viertel des heutigen Südosteuropas unter fränkischer Oberhoheit: Böhmen, Mähren, Westungarn und der nordwestliche Balkan.44
808 und 810 führte Karl noch Feldzüge gegen die Dänen – ausnahmsweise Verteidigungskriege. König Göttrik hatte 808 Nordalbingien überfallen, den Ostseehafen der Abodriten, der mit den dänischen Häfen konkurrierte, zerstört, hatte zwei Jahre später mit einer Flotte von 200 Schiffen Friesland heimgesucht und die Friesen in drei Schlachten geschlagen. Karls Abwehr war nicht sehr erfolgreich, und Göttrik drohte, demnächst gegen Aachen zu ziehen. Karl, der einen gefährlichen, vielleicht sogar katastrophalen Schlag erwarten mußte, inspizierte seine Flotte und trommelte im ganzen Reich Truppen zusammen. Doch der Dänenkönig kam nicht. Einer seiner Leibgardisten hatte ihn getötet.
Die »Expansionskraft« der Franken war inzwischen erschöpft, auch die Kriegslust vieler, besonders die der freien Bauern; und der Landhunger des Adels war weitgehend saturiert. Im nächsten Jahr schloß Karl Friede mit den Dänen (deren Land Thron- und Parteikämpfe zerrissen) – und jagte gleich darauf drei Heere in die verschiedensten Himmelsrichtungen, »eines über die Elbe gegen die Linonen, welches ihr Gebiet verwüstete und die im vorigen Jahre von den Wiltzen zerstörte Feste Höhbeck an der Elbe wiederherstellte, das andere in die pannonischen Länder, um den Streitigkeiten mit Hunnen und Slawen ein Ende zu machen, das dritte endlich gegen die Bretonen, um sie für ihre Treulosigkeit zu bestrafen. Alle führten ihre Sache glücklich aus und kehrten ohne Verlust zurück« (Annales regni Francorum).45
Der Verlust war fast immer auf der anderen Seite. Ganz überwiegend. Und das Unglück auch. Doch davon sprechen die fränkischen Quellen kaum, andeutungsweise, allenfalls – wie die Historiker in der Regel (und ich rede hier, wie auch sonst stets, nur vom Regelfall) noch jetzt. Sie halten sich eben an das, was sie lesen. Woran sonst? Ist das nicht korrekt? Eben nicht. Denn wo so viel Triumph gemeldet wird, so viel Sieg und Heil und Heil und Sieg, gibt's stets auch viel vom Gegenteil, und bei den Besiegten nicht allein. Doch davon schweigen weithin die Sänger, von den alten Annalisten bis zu den Gelehrten heute. Sie alle liegen vor Karl »dem Großen« ganz gewöhnlich auf dem Bauch.
Warum? Doch nicht wegen der – um sie denn einmal zu nennen – Karolingischen Renaissance? Die ja, nach Motiv wie Zusammenhang, vor allem mit der »Reform« der fränkischen Kirche sich verband; die, wie diese, im wesentlichen dieselbe Zielsetzung hatte, somit auch niemandem mehr als der Kirche diente; den Geistlichen und Mönchen, ihrem – gewöhnlich! – Minimum an Wissen, an Bildung, der »Emendation« gerade auch christlicher Opera, des Alten, des Neuen Testaments, der Kirchenväter ... Während etwa die Erstellung einer deutschen Grammatik, die Sammlung germanischer Literatur schon unter Karls Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen wieder abgebrochen worden ist.46
Natürlich leugnet niemand auch sonst einen gewissen Gewinn; etwa für die Tradierung antiker klassischer Texte. Doch dies stand nicht im Vordergrund. Und überhaupt: auch die »Karolingische Renaissance« war eine Frucht der karolingischen Kriege. Wie auch, was sonst noch für diesen Frankenkönig sprechen mag, ohne diese Kriege nicht denkbar ist. Einzig und allein sie, einzig und allein dies brutale Ausschreiten über tausendfaches Unrecht und Leid hinweg, einzig und allein dieser vieltausendfache Terror zum Nutzen für Reich und Kirche verhalfen Karl I. zu dem Attribut »groß«. Wer jedoch war das? Das Reich? Die Kirche? Adel und Klerus. Zumal: der hohe Adel, der hohe Klerus. Sie allein wurden die großen Profiteure. Denn selbst die Masse des eigenen Volkes, 90, 95 Prozent, vielleicht noch mehr, hatte davon nichts. Nicht einmal den Frieden im eigenen Land – denn die Kriege in Bayern, in Sachsen sind, zumindest zeitweise, schon Bürgerkriege gewesen.
Eins im Verbrechen – eins in der Heiligkeit
»Karolus serenissimus augustus a Deo coronatus magnus pacificus« (Karl, der durchlauchtigste, von Gott gekrönte, große und friedebringende Kaiser), wie der Beginn seines umständlichen Titels seit 801 lautete, dieser friedebringende, von Gott gekrönte und auch »per misericordiam Dei« (durch das Erbarmen Gottes) regierende Kaiser, der sich seit 802 auch »imperator christianissimus« nannte und (angeblich) mit den Worten des 31. Psalms starb: »In deine Hände, Herr, befehle ich meinen Geist«, dieser Mensch hatte ein Gemetzel nach dem anderen veranstaltet, in seiner 46jährigen Regierung, von 768 bis 814, nahezu fortgesetzt Krieg geführt, fast 50 Feldzüge, nur in zwei Jahren, 790 und 807, schlachtete er nicht – »eine glückliche Zeit für die Kirche« (Daniel-Rops). Kein Wunder, wenn er in den Chansons de geste, den französischen Heldenepen des Hochmittelalters, bereits »zweihundert und mehr Jahre alt«, mit den kühnsten seiner Recken in den Kampf reitet. Er hat die Langobarden, Sachsen, Friesen, die Bayern, Awaren, Slawen, die Basken, die Araber in Spanien, die Byzantiner in Süditalien bekriegt, in fast lauter kalt berechneten Angriffskriegen, und er hat dabei ungezählte Menschen in den Tod getrieben, einen oft grauenhaften, qualvollen Tod. Doch hat er nicht nur in Kriegen gemordet, sondern auch 4500 Gefangene töten und Tausende Familien vertreiben lassen – oder, wie es in einer der frühesten liturgischen Karlsdichtungen heißt, »Tausende niedergeworfen, die Erde von heidnischem Unkraut [!] gesäubert ..., die Ungläubigen bekehrt, die Götzenbilder zertrümmert, die fremden Götter vertrieben«. Wie denn für ihn selbst, nach seinem Biographen Einhard, die Sachsen- und Awarenkriege wichtiger waren als alle anderen politischen Aufgaben. Und wie dann ja gerade kirchliche Kreise des 10. Jahrhunderts die Sachsenkriege als sein bedeutendstes Werk für die christliche Mission in den Vordergrund stellten.47
Nicht nur darum nämlich, obschon schlimm genug, geht es, daß Karl »der Große« so gut wie pausenlos (die Winter meistens ausgenommen) geschlachtet, unterjocht, versklavt hat, daß er nichts so sehr war wie Krieger, Eroberer, Mörder und Räuber im größten Ausmaß – das, belehren uns seit längerem die gelehrtesten der Gelehrten, sei damals eben so üblich, sei sozusagen der (gute) Stil der Zeit gewesen, es zu tadeln ein gräßlicher Anachronismus, von unserer »aufgeklärten« (in Wirklichkeit doch noch ganz genau so erobernden, mordenden und raubenden) Zeit her geurteilt, sei überdies unangemessen richterlich, rigoristisch, moralisch beckmesserisch, kleinkariert. Nein, es geht auch darum, daß Karl »der Große« diesen ganzen ungeheuren Blutsumpf mit intensivster Beteiligung des Christentums und der Kirche seiner Zeit (die natürlich auch »zeitgebunden« waren!) angerührt, daß diese Kirche nie dagegen protestiert, vielmehr gewaltig davon profitiert hat. Es geht darum, daß christlicher Feudalstaat und christliche Feudalkirche so gut wie eins waren, eins gerade im Verbrechen.
Denn Karl, dessen eigentliches »Staatsbuch« die Bibel war, zu dessen Lieblings werken Augustins »Gottesstaat« gehörte, regierte und agierte nicht nur als König der Franken, sondern auch als erklärter Schutzherr der Kirche, als Partner und Bundesgenosse des Papstes, wie seine Gesetzgebung, seine Korrespondenz, die Geistliche führten, und seine nächsten Mitarbeiter bezeugen. Dieser Monarch war eine Art Königspriester, war »rector et devotus sanctae ecclesiae defensor et adiutor in omnibus« (Lenker und der heiligen Kirche ergebener Verteidiger und Beistand in allen Dingen).
Reich und Kirche sind im Imperium christianum unlösbar verquickt, Hoftage und Konzilien kaum noch unterschieden. Karl beruft Synoden, führt dabei den Vorsitz, er bestimmt nach eigenem Ermessen Bischöfe und Äbte, richtet die Bistümer in Sachsen, die er brauchte, selber ein. Er läßt den Papst, als er für seine Awarenattacke ein Erzbistum benötigt, dazu Salzburg erheben. Und er verfügt über das Kirchengut. Er bereichert die Päpste durch Land, ebenso die Bischöfe. Er gewährt ihnen zahlreiche Immunitätsprivilegien und bedroht die Verletzung kirchlicher Immunität mit dem zehnfachen Königsbann von 600 Solidi. Er gibt Bischöfen Zollbefreiung, verleiht ihnen das Münzrecht. Er läßt Kirchenraub und -brandstiftung mit dem Tod bestrafen. Vor allem aber verfügt er die allgemeine Zehntpflicht zugunsten des Klerus, und er treibt die Zehnten für die Bischofskirchen staatlich ein. Auch vermachte er der Kirche, die ihn in seinen letzten Jahren besonders beschäftigte, drei Viertel seines Barschatzes (während seinen Kindern und Enkeln zusammen nur ein Zwölftel der beweglichen Hinterlassenschaft zufiel, so viel wie der Hofdienerschaft). Und hingen auch die Prälaten ganz von ihm ab, war doch ihr Einfluß unter ihm, den zumindest alle fränkischen als allgemeines Haupt der Kirche anerkannten, beträchtlich gewachsen; sie zogen mit Karl in den Krieg, fungierten neben den Grafen als Richter und spielten die Hauptrolle am Königshof.48
Zum engeren Mitarbeiter- und Freundeskreis des Herrschers zählten der Erzbischof Beornrad von Sens, der Patriarch von Aquileja, Paulinus, der Bischof Theodulf von Orléans, der Angelsachse Alkuin, früherer Leiter der Kloster schule von York, dann Abt von Saint-Martin in Tours, der einen fast entscheidenden Einfluß auf die Kaiserpolitik hatte. Überhaupt gehörten zu seinen nächsten, das Hofleben besonders beherrschenden Vertrauten einige weitere Äbte: sein Vetter Adalhard, Abt von Corbie, und dessen Nachfolger, Abt Wala von Corbie, ebenfalls Karls Vetter. Noch stärkeren Einfluß auf den Monarchen hatte Angilbert, der Abt von Saint-Riquier, der, beiläufig, auch noch Karls junger Tochter Bertha, der fünfzehn-und der zwanzigjährigen, je einen Sohn machte (Hartnid und Nithard, den Geschichtsschreiber) und infolge der »Wunder« an seinem Grab als Heiliger verehrt worden ist, in einer Vita des 12. Jahrhunderts als Heiliger erscheint.
Abt Fulrad von Saint-Denis leitete zunächst als oberster Kapellan die Hofkapelle und war »die beherrschende Figur unter Karls Helfern der Frühzeit«. Sein Nachfolger wurde Bischof Angilram von Metz, der 791 auf dem Awarenfeldzug starb, und dessen Nachfolger wieder Erzbischof Hildibald von Köln, der »unter Karl den ersten Platz in seiner Aachener Pfalz« einnahm (Fleckenstein). Die Hofkapelle, an sich ein rein geistliches Institut, erhielt, ganz konsequent, immer mehr politisches Gewicht. Ihr Vorsteher, der Erzkapellan (im Rang eines Erzbischofs ohne erzbischöfliches Amt), war erster Berater des Monarchen und einer der höchsten Würdenträger des Reiches. Unter Karl erledigten ausschließlich Geistliche die schriftliche Verwaltungstätigkeit, die bei den Merowingern sogenannte referendarii, meist Laien, besorgt hatten. Verbunden war die Hofkapelle mit dem Mittelpunkt der Regierung, der Hofkanzlei, die unter den Karolingern völlig klerikalisiert war und an deren Spitze der Kanzler oder Erzkanzler stand, gewöhnlich ein Kleriker. (Seit der Mitte des 9. Jahrhunderts wurde in Deutschland das Amt des Erzkaplans und Erzkanzlers vereint. Und endlich wird der Primas des Reiches, der Erzbischof von Mainz, zugleich auch der höchste Beamte des Königs.)49
Doch auch außerhalb der Zentralregierung, der weitgehend klerikalisierten königlichen Capella und der Kanzlei, hatte der fränkische Klerus einen großen und vielseitigen Einfluß auf das öffentliche Geschehen. Kirchliche Würdenträger übten rein politische Ämter aus. Sie hatten im Reich, das in 300 Grafschaften aufgeteilt war, neben den Grafen, nach dem Rechten zu sehen. Sie walteten auch als Königsgesandte (missi dominici), ein besonders wirksames Instrument der Zentralregierung, doch kein beliebtes, nicht zuletzt wegen der hohen Unkosten. (Ein Bischof, der in dieser Funktion kam, konnte für sich und seine Begleitung pro Tag vierzig Laib Brot erheben, drei Eber, ein Spanferkel, drei Hennen, drei modii Getränke und vier modii Futter für die Pferde.) – Im späteren 9. und im frühen 10. Jahrhundert wurde für Italien das Königsbotenamt sogar prinzipiell mit dem Bischofsamt verbunden. »Wir sind hergesandt«, beginnt die uns erhaltene Ansprache eines solchen Sendboten, »von unserem Herrn, dem Kaiser Karl, um eures ewigen Heiles willen, und wir befehlen euch, tugendhaft zu leben nach dem Gesetze Gottes und gerecht nach dem Gesetz der Welt. Wir wollen euch zunächst wissen lassen, daß ihr glauben müßt an den einen Gott, den Vater, den Sohn und den heiligen Geist ...« Diese Missi dominici, deren Tätigkeit an den jeweiligen Orten üblicherweise mit einem Gottesdienst begann, kontrollierten mehrmals jährlich Gerichts-, Militär-und Verwaltungswesen und hielten deshalb Inquisitionsgerichte ab. Mit den Grafen nahmen Bischöfe und Äbte in jedem Frühjahr auch an der Reichsversammlung teil, die mit einem Truppenantreten verbunden war, entweder am Königssitz oder im jeweiligen militärischen Aufmarschgebiet. Hatten sich doch überhaupt Bischöfe wie Äbte auch mit militärischen Fragen zu befassen und natürlich auch Heereskontingente zu stellen, sie sogar, entgegen dem Kirchenrecht, in den Kampf zu führen, ja, nicht selten befehligten sie selbst größere Heere.
Wie aber der Klerus in den Staat eingriff, so der König in die Kirche. Er regelte in seinen Kapitularien noch die Heiligung des Sonntags, den Kirchengesang oder die Aufnahme von Novizen in den Klöstern. Er kümmerte sich um die Ausstattung von Bethäusern, die Ausgestaltung des Gottesdienstes, um Ausbildung wie Lebensführung der Geistlichen. Er introduzierte 790 das sogenannte Sacramentarium Hadrianum, das heißt die Gründungsordnung der römischen Messe. Kirchengesetze machte er oft zu Reichsgesetzen, und die Vergehen gegen die Reichsgesetze wurden mit Kirchenstrafen bedroht.
Karl mischte sich sogar in dogmatische Angelegenheiten ein, etwa in den Adoptianismusstreit, und wollte »diese ungesunde Pest mit jedem Mittel ausrotten«, die spanischen »Ketzer« gar den Sarazenen ausliefern. Er agierte eifrig im Bilderstreit (S. 349 ff.), wo er gegen den Papst stand, weshalb denn auch 794 ein großes, vom König berufenes Konzil der westlichen Bischöfe 794 in Frankfurt die Lehren der Bilderverehrer widerlegte. Fühlte er sich doch als »Stellvertreter Gottes«, wie er in seinem ersten Brief an Leo III. schrieb, als »Herr und Vater, König und Priester, Führer und Schützer aller Christen«. Auf der anderen Seite rühmt Papst Hadrian I. schon 785: Karl, der König der Franken und Langobarden und Patricius der Römer, habe »unseren Mahnungen Folge leistend die Barbaren des ganzen Ostens und Westens seiner Herrschaft angegliedert«.
Nun war »der Große« ja auch persönlich ein gläubiger Katholik, der seinen Untertanen gegenüber so gern die christliche Moral vertreten, sie den armen Seelen eingeschärft hat, der aber selbst nicht nur nicht zögerte, die Kinder seines Bruders Karlmann um die Hälfte des Frankenreiches zu bringen, sondern der auch alles sonst verstieß, was ihm lästig war: die Fränkin Himiltrud, die ihm schon vor seiner ersten Ehe einen Sohn, den buckligen Pippin, geschenkt, ebenso wie seine rechtmäßige erste Gattin, die Tochter des Langobardenkönigs. Und der dann noch drei weitere Ehefrauen verbrauchte. Alle drei starben jung, an einer Krankheit; und die vierte, Liutgard, teilte bereits sein Bett, als die dritte, Fastrada, noch am Leben war. Dazu kamen, ohne daß der Hofklerus auch nur den geringsten Einspruch erhob, noch Nebenfrauen, die der Alternde sogar am Hof bei sich hatte (vier Konkubinen sind namentlich bekannt, doch gab es weitere). Ihnen machte er acht uneheliche Kinder, vier Söhne und vier Töchter. Sie kamen vor, zwischen und vor allem nach den Geburten von elf ehelichen Kindern, vier Söhnen und sieben Töchtern, zur Welt.
Beim Tod der heißgeliebten Hildegard (783), der Seligen der Kirche, wurden sogar »die ehernen Herzen der Krieger zu Tränen gerührt, ihre Zähren sah man zwischen Schild und Schwert niederrinnen«. Und wie war Karl erst bewegt! Hatte er sie doch beinah Jahr für Jahr oder doch wenigstens jedes zweite geschwängert. (Bei drei Historikern las ich dazu drei verschiedene Zahlen: sechs, acht und zehn Kinder.) Aber wenige Monate später heiratete er schon Nummer drei.
Überhaupt duldete der allerchristlichste Regent, der doch die Tugend(en) seinen Franken so ans Herz gelegt, im eignen Heim ein lockeres, hedonistisches Leben. Während die Kirche nur den ehelichen Geschlechtsverkehr erlaubte, und den lediglich, um weitere Christen zu machen, ohne Unterbrechung des Koitus und bloß in einer einzigen Stellung, hurten Karls Töchter mit ihren Liebhabern – Alkuin warnte vor den »gekrönten Tauben, die in den Räumen des Palastes herumfliegen«. Sogar Prostituierte gab es in den Königspfalzen. Und warum nicht, wenn sie doch auch das fränkische Heer, sogar die Pilger in den Wallfahrtsorten befriedigten, etwa die bei Saint-Martin in Tours, wenn es (nicht nur) damals in den Klöstern viele »schmutzige Unzuchtsfälle« gab, einschließlich von Sodomiten unter den Mönchen. (Vgl. auch S. 314) – Wie anders sah es in dieser Hinsicht bei den heidnischen Germanen aus.
Dabei war Karl, »der Vater der Kirche«, wie ihn Theodulf von Orléans schon Anno 800 nennt, auch persönlich ein eifriger Christ, ein praktizierender Katholik, der angeblich streng die kirchlichen Fasten hielt, auf seinen Reisen allerorten regelmäßig zuerst in die Kirche ging, ja täglich der Messe beiwohnte. Die Aachener Marienkirche besuchte er mehrmals täglich, sogar nachts. Er ließ sich gerne aus Augustins »De civitate Dei« vorlesen. Er besaß ein umfangreiches Reliquienarsenal. Als Talisman trug er in einem Medaillon »im Leben und auch im Tode« (natürlich unechte) Haare der Muttergottes. Aachens Basilika füllte er mit (vermeintlichen) Reliquien von Aposteln, Märtyrern, Bekennern, Jungfrauen, zum Schutz des Reiches und Nachlaß der Sünden. Auch unter seinen Steinthron dort konnten Reliquien geschoben werden, und noch in sein Grab kam ein Reliquiar.
Aachen selber wurde im 12. Jahrhundert als »sacra civitas« bezeichnet und überhaupt, in Deutschland wohl am meisten von Legenden umrahmt, zu einer »mythischen Stadt«, einer »Art Nationalheiligtum« (Meuthen), zu einem hochbedeutenden Wallfahrtsort, nicht zuletzt wegen des hl. Karl. Er wurde von der Kirche über die Maßen gefeiert, galt als »rex et sacerdos«, als Priesterkönig, als »mit dem Namen Christi gezeichnet«, sein Reich als »Corpus christianum«, »imperium christianum«, ja, für die »Libri Carolini« ist Christus selber »unser König« (noster rex), »unser Kaiser« (noster imperator). »Christ ist Sieger, Christ ist König, Christ ist Kaiser«, lautete der Refrain der Laudes, der Litaneien, die man Ende des 8. Jahrhunderts im Frankenreich an hohen kirchlichen Feiertagen in Gegenwart des Königs sang. Und in Rom gedachte man seiner in Meßgebeten und beugte in der Liturgie der Fastenzeit am Samstag auf Anordnung Papst Hadrians I. das Knie bei Nennung seines Namens. Die Synode von Mainz 813 preist ihn als »den frommen Leiter der Kirche«, der Mönch Notker von Sankt Gallen (gest. 912) als »Bischof der Bischöfe«, ja »nicht dem Wort, aber der Sache nach – als Abbild Gottes« (Löwe). Erzbischof Odilbert von Mailand als »vom heiligen Geiste erleuchtet«.50
Nicht genug. Nachdem man schließlich von Krankenheilungen und Wundern an Karls Grab zu berichten wußte, sprach ihn 1165 Papst Paschalis III., Gegenpapst Alexanders III., auf Betreiben Kaiser Friedrichs I. und dessen Kanzler Rainald von Dassel, heilig. Zur Kanonisierung führte Barbarossa Karls Verdienste für Kirche und Glauben an: Durch seine Bekehrung der Barbaren wurde er ein »wirklicher Apostel« (verus apostolus), und sein Mühen machten ihn zum »Märtyrer« (eum martyrem fecit), und ein Armknochen des hl. Karl wurde als Reliquie in einem kostbaren Schrein aufbewahrt. Papst Gregor IX. bestätigte die Kanonisation, spätere Päpste erklärten sie nicht für ungültig, gestanden vielmehr einzelnen Kirchen die Verehrung Kaiser Karls als eines Heiligen zu. In spätmittelalterlichen Gebetbüchern erscheint er mit einem eigenen Gebet. In Aachen wurde er Stadtpatron, als welchen man ihn noch im 17. Jahrhundert verehrte. Noch 1899 schreibt der damalige Domkapitular Adolf Bertram, in seiner Geschichte des Bistums Hildesheim, daß dieses Karl »den Großen« »als seinen ersten Stifter und als Heiligen hoch verehrt«.51
Eine Untersuchung aus dem Jahr 1967 zählt nicht weniger als 109 »Kultstätten des hl. Karl« auf; darunter Aachen (wo man noch heute den Todestag Karls, 28. Januar – an dem ich als Kind noch meinen Namenstag beging –, im Münster feiert), Bremen, Brüssel, Dortmund, Frankfurt (»einer der Hauptorte der Karlsverehrung«: Kötzsche), Fulda, Halle, Ingelheim, Köln, Konstanz, Lüttich, Mainz, Minden, Münster, Nürnberg, Regensburg, Straßburg, Trier, Wien, Würzburg, Zürich. Bemerkenswert auch, daß Karl im gesamten sächsischen Gebiet kultische Verehrung genoß.52
Jahrhundertelang galt Karl »der Große« als Idealbild des Herrschers, und für viele, viel zu viele ist er es noch heute.
Voltaire und Gibbon hatten seine Barbarei gebrandmarkt und ihm persönliche Größe abgesprochen. Ranke aber fand ihn dann sogar »zu groß zu einer Biographie«, nannte seine Tätigkeit »vielleicht die großartigste Regierung, die vorgekommen ist«, und fand in seiner »Weltgeschichte«, wo er weder Alexander noch Caesar, noch den christlichen Heroen Konstantin oder Otto I. so viel Gewicht und Aufmerksamkeit beimaß wie Karl, mit dessen Namen sogar »die Idee moralischer [!] und historischer Größe unwiderruflich« verbunden.
In Frankreich pries man im frühen 19. Jahrhundert Napoleon, ganz in seinem Sinne, als »wiedergeborenen Karl den Großen«. Nach der Gründung des deutschen Reiches im 19. Jahrhundert entdeckten die Deutschen Karls »Germanentum« und kriegerischen Geist wieder, überlegten gar britische Gelehrte, ob man ihn nicht lieber »Karl« statt »Charles« nennen sollte.
In der faschistischen Ära, als man mitten im Zweiten Weltkrieg am 2. April 1942 den 1200. Geburtstag des »Großen« beging, wurde er als »Karl der Einiger«, der »Europäer« im antikommunistischen, besonders antisowjetischen Sinn ausgespielt, eine Tendenz, auf die man auch in den Adenauerjahren zurückgriff, als man immer mehr das »christliche Abendland« gegen den »gottlosen Kommunismus« mobilisierte. Bezeichnenderweise war es der Kölner Kardinal Frings, der nicht nur als erster öffentlich in Deutschland die Aufrüstung der Deutschen forderte, sondern der auch im September 1952 feststellte: »Die Verwirklichung des Ideals, das Reich Karls des Großen zu errichten, ist noch nie so nahe gewesen wie jetzt.«53
Das karolingische Reich, das »imperium Christianum«, wie es Alkuin seit 798 nannte, das »regnum sanctae ecclesiae« (Libri Carolini), reichte von der Nordsee bis zu den Pyrenäen und zur Adria. Es umfaßte das heutige Frankreich, Belgien, Holland, Westdeutschland, die Schweiz, den größten Teil Italiens, die Spanische Mark und Korsika. Es umfaßte etwa 1200000 Quadratkilometer, war fast so groß wie das weströmische Imperium, und so gut wie alles in Nordosten und Süden dieses »Königreichs der Kirche« war zusammengeraubt.54