Einige Beispiele für geistliche Fälschungen von Konzilsakten, Reliquien und Heiligenleben
Ungezählte Kleriker und Mönche haben im Mittelalter mittels Fälschungen der Kirche religiöse, politische, wirtschaftliche und rechtliche Vorteile, kurz Glauben, Ansehen und Geld verschafft, haben mit wahrer Leidenschaft auf allen nur in Frage kommenden Gebieten des religiösen und kirchlichen Lebens gefälscht.10
Man fälschte, schon vom 4. Jahrhundert an, Konzilstexte, fälschte ganze Konzilsakten, alles nur um des wahren Glaubens willen; wie man denn schon in die Bibel die Trinität hineinfälschte, »die wunderlichste dogmatische Zumutung« (Thomas Mann).
Während des Sechsten Allgemeinen Konzils in Konstantinopel (680/681) versuchte Patriarch Makarios von Antiochia, gegen Rom die Lehre von der Einheit des Willens in Christus, den sogenannten Monotheletismus, eine freilich auch von Papst Honorius I. anerkannte Ketzerei (S. 336 ff.), aus früheren Synoden und Kirchenvätern zu erweisen. Er arbeitete dabei mit verstümmelten, entstellten, plump erfundenen Texten, wofür er den Rest seines Lebens in einem römischen Kloster verbüßen mußte.11
Kirchenvater Abt Anastasius Sinaita bestritt um dieselbe Zeit leidenschaftlich die Monophysiten. Insbesondere bekämpfte er die Fälschereien jener vierzehn Kalligraphen, die unter Leitung des Präfekten Severian, in einer ganzen Fälscherwerkstätte vereint, im monophysitischen Sinne fälschten. Aber Kirchenvater Anastasius, ein veritabler Heiliger der katholischen Kirche (Fest: 21. April), bediente sich ihnen gegenüber derselben Methoden und fälschte seinerseits völlig skrupellos. Nicht genug, er bezeichnete sein Tun als vorbildlich, forderte die Ketzerbekämpfer zum Nachahmen seiner Methode auf und berief sich auf das Pauluswort: »Mit List habe ich euch gefangen!«12
Mit dem stets irrer ausartenden Heiligenkult begann eine wahre Blüte hagiographischen Schwindels, lokalpatriotischer und liturgisch-kultischer Betrügereien, Reliquienfälschungen etwa. Es gab so viele »echte« Kreuzpartikel, daß man daraus wohl ein Dutzend, wenn nicht mehr »echte« Kreuze Jesu hätte fabrizieren können. Es gab auch mehr als ein Dutzend wiederum echter Vorhäute des Herrn, die durch eine eigene »Bruderschaft von der Heiligen Vorhaut«, durch spezielle Vorhautkapläne, festliche Prozessionen und Hochämter zu Ehren der heiligen Vorhaut verehrt worden sind.
Nur um die Schenkung gewisser Reliquien (neben einigen anderen »Rechten«) nachzuweisen, fälschte Bischof Benno von Osnabrück (1068–1088) eine auf den 19. Dezember 803 datierte Kaiserurkunde Karls »des Großen«. Und in Regensburg wurde seinerzeit durch einen der »interessantesten Schriftsteller des 11. Jahrhunderts« (»Lexikon für Theologie und Kirche«), durch Otloh von St. Emmeram (der auch durch Fälschungen sein Kloster dem Einfluß des Ortsbischofs zu entziehen suchte), ein ganzer Übertragungsbericht, die Translatio Dionysii, gefälscht, wonach man dort die Reliquien des Dionysius Areopagita zu besitzen behauptete, seinerseits selber einer der begnadetsten Fälscher der Christenheit und »für Jahrhunderte« ihr »Lehrmeister« (III 147 ff.).13
Es gab auch gefälschte »Teufelsbriefe« und »Himmelsbriefe« im Mittelalter, und je nach Bedarf forderte man mit den Himmelsbriefen zum Frieden oder zum Kreuzzug auf, auch zur Sonntagsheiligung, zu einer Klostergründung, zum Beten des Rosenkranzes oder zum Glauben an Jesu Auferstehung etc. (III 172 f.).
Vor allem aber grassierte jede Menge primitivster Mirakelfabeleien, Jenseitsvisionen, Heiligenlegenden. Denn hatte ein Heiliger keine Vita, war er in der Konkurrenz mit anderen Heiligen einer Stadt, einer Kirche, eines Klosters im Nachteil. Deshalb brauchte man auch für diese Heiligen eine Vita und fälschte sie einfach. So sind die Taten der hl. Genoveva, der Schutzpatronin von Paris (vor deren Gebet ein Attila ebenso zurückweicht wie ein Drachenpaar auf der Seine, eine Heilige, die überhaupt stupende Wunder haufenweise wirkt, auch vor Pest und Krieg, vor Augenleiden schützt und Blattern), wohl samt und sonders ebenso erstunken und erlogen wie die in Köln von den Hunnen hingemordeten elftausend (!) Gefährtinnen der hl. Ursula. »Das Blutbad wird bei Ankunft der Schiffe aufs grausamste verwirklicht. Zuletzt bleibt Ursula allein übrig. Der Hunnenfürst selbst begehrt sie und erschießt die sich verweigernde Standhafte mit seinem Pfeil.« Aber: »Ruhm und Reliquien verbreiten sich nachweislich vom 10. Jh. an.« (Keller)14
Völlig gefälscht ist zum Beispiel auch eine angebliche Passio des Abtes Vinzenz von Léon. Er soll unter dem arianischen Suebenkönig Rechila um seines katholischen Glaubens willen das Martyrium erlitten haben – am 11. März 630. Rechila war aber gar kein Arianer, sondern Heide und regierte überdies fast zweihundert Jahre früher, zwischen 441 und 448. Ebenso gefälscht ist die Passio von Vinzenz, Ranimirs angeblichem Nachfolger, der mit zwölf Mönchen das Martyrium erlitten haben soll.15
Gefälscht wurde im Laufe des 10. und 11. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Heiligenviten, die zum Kreis der »falschen Karolinger« zählen. Einerseits hat man da einige bekanntere Karolinger nachträglich zu Heiligen gemacht, andererseits diese Familie durch völlig erfundene Heilige vermehrt. Zu dem Fälschungskreis gehören die Vita Ermelindis, Vita Berlindis, die Lebensbeschreibung der Gudula u.a., wobei die Fälscher, wie üblich, jeweils Geistliche oder Mönche waren.16
Nun unterscheidet die »fromme« (und sogar die weniger fromme) Forschung gern zwischen den Produkten einer »unreflektierten Wundergläubigkeit«, die zwar ebenfalls historisch bodenlos, gänzlich erfunden, aber eben »guten Glaubens« erfunden worden seien, und den bewußten, absichtsvollen, den eigentlichen Fälschungen. Doch auch die Zahl allein dieser Gruppe im Mittelalter »ist unüberschaubar«, »Legion« (Fuhrmann).17