EPILOG
Gelbe und rote Luftballons baumelten von den Türstöcken, Dutzende Papierspiralen lagen auf dem Teppichboden verstreut. In der zweistöckigen Wohnung der Hogarts ging es zu wie bei einer Faschingsfeier im Endspurt. Fehlte noch, dass jemand Konfetti von der Balustrade des Treppenaufgangs runterrieseln ließ.
Im Wohnzimmer knallte ein Sektkorken. Hogart ging in Deckung. Das Geschoss zischte an ihm vorbei und prallte gegen den Spiegel im Vorraum. Sabina hatte sich mit der Überraschungsparty für Tatjana wieder einmal selbst übertroffen. Im Esszimmer roch es nach Kaffee und Nusstorte, und aus dem Wohnzimmer drang der raue, schlecht abgemischte Sound einer Punkband. Sie feierten den siebzehnten Geburtstag der Kleinen, und die Wohnung war mit Leuten voll bis unters Dach. Allerdings herrschte eine klare Grenzlinie, die durch den Korridor verlief. Die Freunde der Familie saßen im Esszimmer und tranken Kaffee, während Tatjanas Band- und Schulkollegen die Sektflaschen im Wohnzimmer köpften.
Sabina lief mit einem Backblech voller Pizzabrötchen an Hogart vorbei. »Wann dreht ihr endlich diesen Lärm leiser?«
»Leiser? Das ist kein Lärm!«, rief Tatjana aus dem Wohnzimmer.
»Das ist das neue Demo von Johnny Depp«, erklärte Hogart seiner Schwägerin. »Ein bisschen mehr Respekt.« Er zwinkerte Sabina zu. »Die haben immerhin zwei Wochen lang in Gullys Keller dafür geprobt.«
Sabina drehte sich um. »Gully?«
Hogart nickte ins Wohnzimmer. »Der Typ mit den langen Haaren.«
»Welcher von denen mit den langen Haaren?« Sabina grinste ihm zu und verschwand mit dem Backblech im Wohnzimmer. »Essen, meine Herrschaften!«
So übel war sie gar nicht. Seitdem die Kripo Kurt letzte Woche aus der Untersuchungshaft entlassen hatte, schien sich das Eheleben der beiden wieder eingerenkt zu haben. Zumindest machte Sabina einen entspannteren Eindruck als zuvor. Während sie Brötchen verteilte, sprang Tatjana aus dem Gewühl der Menschenmenge heraus, um den Sound der Stereoanlage leiser zu drehen. Dann kam sie mit Gully im Schlepptau aus dem Wohnzimmer und stellte sich neben Hogart in den Gang. Partnerlook war immer noch angesagt. Beide trugen ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift: Wir können auch ohne Spaß Alkohol haben. So änderten sich die Zeiten.
»Amüsierst du dich, Hog?«
»Unheimlich, Spider!«
»Das ist Gully.«
»Kenne ich bereits - Hi.« Hogart nickte dem etwa Achtzehnjährigen zu. »Glaubt ihr nicht, dass ihr mal Ärger mit Depps Rechtsanwälten bekommt?«
»Ach wo, der ist cool, außerdem haben wir ja Dr. Fliesenschuh, der regelt das, korrekt?« Tatjana boxte Hogart in die Seite.
Dieser verzog schmerzhaft das Gesicht.
»Oh, sorry. Das ist übrigens mein Onkel, der Versicherungsdetektiv, von dem ich dir erzählt habe. Ich werde später auch einmal Detektiv - falls das mit der Band nicht klappen sollte.«
»Klar.« Gully nickte. »Starke Leistung, Mann. Hab’s in der Zeitung gelesen.«
»Danke, Mann«, antwortete Hogart.
»Hör auf, so zu reden!« Tatjana bedachte Hogart mit einem maßregelnden Blick. »Sorry.«
»Du tust es schon wieder!« Tatjana kniff die Augenbrauen zusammen.
»Wie geht’s deinen Eltern?«, fragte Hogart. »Du weißt schon, diese Sache …«
»Ich glaub, es ist überstanden. Hat sich wieder eingerenkt.«
»Okay.« Hogart nickte.
Sie standen eine Weile da, ohne etwas zu sagen. Schließlich rauschte Sabina mit dem leeren Backblech an ihnen vorüber. »Tatjana, die Brötchen werden kalt.«
»Jaaaaa.« Sie verdrehte die Augen und hakte sich bei Gully unter.
»Ich sehe nach deinem Vater, ich glaube, er ist allein in der Küche.«
Tatjana grinste. »Neutrales Land.«
»Genau.« Hogart stütze sich auf seine Krücken und humpelte in die Küche. Hinter seinem Rücken hörte er den Jungen wispern. »Ist der schon so alt?«
»Hast du doch in der Zeitung gelesen«, zischte Tatjana. »Die mussten ihn im Krankenhaus wieder zusammenflicken, Idiot!«
Die Küche war tatsächlich neutrales Gebiet. Kurt stand alleine mit dem Rücken zur Tür, starrte aus dem Fenster und beendete soeben ein Telefongespräch. »Leb wohl.«
Er nahm das Handy herunter und wandte sich um. »Hallo, mein Großer. Mischst du dich gar nicht unters Volk?«
»Mit dem Bein? Ich bin doch nicht lebensmüde.« Hogart lehnte sich an die Arbeitsfläche. »Solange die Fäden noch drinnen sind, kommt mir besser niemand zu nahe.«
»Diese Frau hat dich ganz schön zugerichtet, was?« Kurt verzog das Gesicht. »Tja, hab das Finale leider verpasst, war mein letzter Abend in der Zelle.«
»Du wärst eher rausgekommen, hättest du dein Alibi preisgegeben.«
»Oder wenn du dir das Videoband nicht hättest klauen lassen.« Hogart nickte. »Touche.«
»Der Dreitagebart steht dir übrigens gut - etwas grau, aber nicht schlecht.«
»Hast du schon mal versucht, dich zu rasieren, wenn dein Gesicht zerschnitten ist?« Hogart strich mit den Fingern über die Stoppeln. Seine rechte Hand war bandagiert. Ein weiteres Andenken an Madeleine. »Grau ist angeblich sexy.«
Hogart wurde ernst. Er nickte zum Handy in Kurts Hand. »Wer war das?«
Kurt hob die Schultern. »Du weißt, wer das war.«
»Victoria Berger aus Alt-Erlaa?«
Kurt spähte zur Tür, doch es war niemand in der Nähe. »Ich habe mit ihr Schluss gemacht. In den drei Tagen Untersuchungshaft ist mir vieles durch den Kopf gegangen. Sabina und ich versuchen einen Neuanfang.«
»Sie macht einen glücklichen Eindruck.«
»Teilweise ist das nur Fassade.« Kurt sah aus dem Fenster.
»Vermutlich weiß sie, dass ich ein Verhältnis mit einer anderen hatte, aber sie sagt nichts. Das Thema ist tabu. Aber sie kämpft um diese Familie - und ich auch.«
»Sie hat auch um dich gekämpft, während diese Victoria Berger mit ihrem Mann zum Shoppen fuhr«, ergänzte Hogart.
»Ja, das hat sie. Ich habe eine großartige Frau und eine großartige Tochter.«
»Du wärst verrückt, das alles aufzugeben.«
Kurt nickte. »Aber am meisten gab mir zu denken, als du mich mit Mutter verglichen hast…«
»Vater hatte es nie verdient, so betrogen und hintergangen zu werden.«
Kurt blickte aus dem Fenster. Seine Gesichtszüge wurden lang. »Da kommt der alte Drachen.«
»Mutter?«
»Kannst du annehmen!« Kurts Hals wurde lang. »Wie üblich in voller Pracht, knöchellanger Rock und ein Hut so groß wie dein Auto. Diesmal hat sie ihren neuen Lebensabschnittspartner dabei.«
»Du verarschst mich?« Hogart humpelte zu Kurt ans Fenster. Wie zwei neugierige Jungs schoben sie den Vorhang beiseite und starrten nach draußen. Ihre Mutter ging soeben mit einem grau melierten Herrn im dunklen Anzug durch den Innenhof zur Eingangstür.
»Der sieht aber nett aus«, sagte Hogart.
Kurt grinste. »Die arme Sau.«
Schließlich mussten sie so laut lachen, dass ihnen die Tränen kamen. »Was amüsiert euch?«
Sie fuhren herum. Tatjana stand in der Tür.
Kurt wischte sich die Tränen aus den Augen. »Oma hat einen neuen Freund.«
»Und das findet ihr zum Lachen?« Tatjana schüttelte den Kopf. »Eher zum Weinen. Wo findet sie nur immer diese armen Kerle?«
»He, der sieht diesmal nett aus«, verteidigte Hogart sie.
»Umso schlimmer.« Kurt musste wieder grinsen.
»Da muss er selbst draufkommen.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht stemmte sich Hogart in die Krücken. »Es wird Zeit.«
»Du gehst schon?«
»Ich muss noch etwas erledigen. Außerdem kenne ich Mutters alte Leier zur Genüge. Kann darauf verzichten.« Hogart verließ die Küche.
»Du solltest ihr mal die Meinung sagen«, rief Kurt ihm nach. »Das hättest du schon längst machen sollen«, pflichtete Tatjana ihm bei. »Was bringt das?«
»Denk an meine Worte: Wenn du es jetzt nicht machst, tust du es nie!« Tatjana hielt die beiden zu einem Victory-Zeichen gespreizten Finger hoch.
Hogart ging durch den Flur. Sabina kam ihm entgegen.
»Du gehst schon?«
»Muss noch was erledigen.«
»Der Bart steht dir gut.« Sie richtete sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke für alles, mein grauer Wolf.« Dann verschwand sie in die Küche.
Hogart öffnete die Eingangstür. Mutter stand mit ihrem Begleiter im Treppenhaus. Sie nahm erst den Finger vom Klingelknopf, als sie Hogart bemerkte.
»Was machst du hier?«, entfuhr es ihr.
»Vielleicht meiner Nichte zum Geburtstag gratulieren?«, schlug Hogart vor. Er drängte sich auf den Krücken an seiner Mutter vorbei und nickte ihrem Lebensgefährten zu.
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Halte dich lieber fern von Tatjana. Was immer du anfasst, schafft nur Probleme. Nicht nur, dass du Kurt in diese Lage gebracht hast, sondern auch das arme Mädchen. Stell dir vor, ihr wäre etwas passiert. Wärst du doch nur Sachbearbeiter bei der Versicherung geblieben, statt so ein miserabler Detektiv zu werden. Dann könntest du dir endlich eine Frau suchen und kämst auf andere Gedanken. Und dieser Bart! Grässlich!«
Typisch Mutter, sie konnte einfach keine Ruhe geben. Ihrem Begleiter schien die Sache mehr als peinlich zu sein. Er reichte Hogart die Hand. »Entschuldigen Sie bitte, sie meint das nicht so.«
»Und ob ich das so meine!«, protestierte sie.
Na klar, dessen war Hogart sich sicher. Er hatte bereits kehrtgemacht, als er es sich anders überlegte, noch einmal umdrehte und mit seiner Mutter auf Tuchfühlung ging.
»Noch ein Wort aus deinem Mund«, flüsterte er ihr ins Ohr, »und ich erzähle deinem Kumpel hier, dass du Vater jahrelang mit seinem Geschäftspartner betrogen hast - und dich auch jetzt noch regelmäßig mit ihm triffst.«
Sie wurde blass und schnappte nach Luft. »Woher weißt du das?«
»Selbst ein so miserabler Detektiv wie ich hat seine Kontakte.«
»Aber das …«
»Noch ein Wort!«, drohte er ihr. »Ich sage nur Caruso-Hotel.« Er ließ seine Mutter mit offenem Mund zurück und hinkte durch den Innenhof auf die Straße, wo ein Taxi auf ihn wartete.
Hogart humpelte durch den Korridor der unfallchirurgischen Abteilung des Wilhelminenspitals. Mit der Krücke stieß er die Tür zu einem der Patientenzimmer auf.
Eichinger richtete sich abrupt im Bett auf. Er trug ein niedliches blaues Hemd, das ihm bis zur Hüfte reichte. Beide Beine waren eingegipst - eines bis zum Knie, das andere bis zum Oberschenkel. Neben dem Bett stand ein Rollstuhl.
»Mit dir habe ich am wenigsten gerechnet«, sagte Eichinger.
Zum Glück war er allein im Raum. Hogart mühte sich durchs Zimmer, lehnte die Krücken an den Nachttisch und setzte sich stöhnend auf das freie Nachbarbett.
»Eigentlich bin ich wegen Elisabeth Domenik hier, meiner Kollegin von der Versicherung. Sie liegt einen Stock tiefer, doch ihr Zimmer ist leer.«
»Hätte ich mir denken können, dass du nicht wegen mir den weiten Weg machst.« Das Fernsehgerät lief. Eichinger schaltete es mit der Fernbedienung aus. »Ich habe sie in der Cafeteria getroffen. Du stehst doch nicht etwa auf die Kleine, oder?«
»Sie ist eine Kollegin. Ein LKW hat sie angefahren.« Hogart betrachtete Eichingers Gips, auf dem rund ein Dutzend Kripokollegen unterzeichnet hatte. »Wie geht es dir?« Soviel Hogart wusste, war der Ermittler in jener Gewitternacht unterkühlt und mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert worden.
»Ich habe mehr Nägel und Schrauben in den Knochen als ein Eisenwarenhändler in seinem Laden.« Eichinger versuchte zu grinsen. »Aber du siehst auch nicht besser aus.«
»Die Ferse macht Probleme beim Gehen.«
»Ich meinte dein Gesicht, Kollege.«
Hogart fuhr sich unwillkürlich über den Bart. Es war lange her, dass Eichinger ihn Kollege genannt hatte.
Der Ermittler stützte sich auf den Ellenbogen. »Du hast diese Madeleine Bohmann ganz schön zugerichtet. In den Zeitungen stand, du hättest ihr ein volles Magazin in den Körper gepumpt.«
»Die Zeitungen«, wiederholte Hogart abschätzig. »Es waren nur drei Kugeln. Madeleine war noch eine Stunde am Leben und ist erst auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.«
»Ich weiß, Garek hat es mir erzählt. Wie auch immer, für die Presse bist du der Held.«
»Über dich haben sie mehr geschrieben. Du Schuft hast mich von der Titelseite verdrängt.«
»Tja, Ehre, wem Ehre gebührt.«
Hogart wusste, dass unmittelbar nach den Ereignissen jener Nacht der Polizeipräsident persönlich an Eichingers Krankenbett gekommen war, um ihm eine Ehrenmedaille an die Brust zu heften. Natürlich nicht ohne den dazugehörigen Medienrummel. Schließlich standen die Wiener Landtagswahlen bevor, und in dieser Zeit konnte man einen Mann wie Eichinger gut gebrauchen. Im Moment saß er recht fest im Sattel. Sein Ruf, Missstände in den eigenen Reihen aufzudecken, war mehr als gefestigt, denn immerhin hatte er nicht nur eine Serienmörderin gestellt, sondern auch Staatsanwalt Hauser mit brisantem Beweismaterial - wie es hieß - zu Fall gebracht.
»Gegen Hauser wird übrigens immer noch wegen Behinderung einer laufenden Untersuchung ermittelt«, sagte Hogart.
»Der Arsch hat es nicht anders verdient. Aber so wie die Bürokratie in diesem Land abläuft, kommt er sicher mit einem blauen Auge davon.«
»Wenn schon.« Hogart grinste. »Von Fliesenschuh weiß ich, dass seine Frau das Ende der Ermittlung nicht abwartet. Sie hat schon jetzt die Scheidung eingereicht.«
»Nein, ehrlich?« Eichinger lachte auf. »Schadenfreude ist doch etwas Schönes!«
»Bestimmt.« Plötzlich wurde Hogart ernst. »Danke, dass du diese Anzeige zurückgezogen hast.«
Eichinger nickte. »Und plötzlich hatte Richterin Maggie Braunstorfer keinen Fall Hogart mehr abzuhandeln. Die Eiserne Lady war ganz schön sauer - aber ich kann mich nicht um alles kümmern.« Plötzlich runzelte er die Stirn. »Es ist Sonntag. Solltest du nicht auf dem Flohmarkt sein?«
»Garek hat heute meinen Stand übernommen. Mit etwas Glück verhökert er die Edgar-Wallace-Videosammlung meines Bruders.«
»Oder seine von den Tatorten geklauten Postkarten.« Eichinger schüttelte den Kopf. »Hoffentlich drehen sie ihm dort keinen russischen Klassiker an.«
»Etwas Bildung schadet ihm nicht. Alexander Solschenizyn hat er ja schon versucht.«
»Ach, hör doch auf!«, murrte Eichinger. »Seine Frau hat mittlerweile die polnische Übersetzung von Der Achipel Gulag zu Ende gelesen und erklärt ihm nun jeden Abend ein weiteres Kapitel. Und dann erzählt er es mir - ich kann den Kram schon nicht mehr hören.«
»Sei froh, dass er nicht mit Krieg und Frieden kommt.«
Eichinger schmunzelte.
Eine halbe Stunde später verließ Hogart das Zimmer. Sie hatten immerhin gescherzt - und das war zumindest ein Anfang, die alte Geschichte von damals zu vergessen.
Der Taxilenker drehte sich zu Hogart um. »Sind Sie sicher, dass Sie da rauf wollen?«
Hogart schnallte sich ab. »Dort oben beim Brunnen können Sie halten. Ich brauche nicht lange.«
Das Taxi kam zum Stehen und Hogart stieg aus. Die würzige Waldluft strich durch sein Haar. Die milden Frühlingstage der letzten Woche hatten den Erdboden wieder hart werden lassen. Neben der Scheune und dem Vorratskeller lagen noch einige Werkzeuge der Spurensicherer, und über dem Brunnenrand hing noch immer das Seil, an dem sich der Cobrabeamte in den Schacht gelassen hatte, um Eichinger zu bergen.
Hogart starrte zur Mühle empor. Mittlerweile hatten die letzten Engel die Mühle verlassen. Alles, was sich im Lauf der Geschichte an diesem Ort ereignet hatte, war nie besonders von Glück gesegnet gewesen. Kummer und Leid, solange das Gemäuer über den Kahlenberg geherrscht hatte. Nun war es zu einer schwarzen Ruine verkommen, ausgebrannt und eingestürzt. Die Flügel hingen wie die verkohlten Extremitäten einer Gottesanbeterin aus dem Torso des Gebäudes.
Hogart hielt sich am Türstock fest. Einen Moment lang kostete es ihn Überwindung, das Atelier zu betreten. In diesem Raum hatte Madeleine mehrfach auf ihn eingestochen. Über diesen Boden hatte sie ihn nach draußen geschleift. Bestimmt klebte noch irgendwo sein Blut auf den Brettern. Damals hätte er nicht gedacht, dieses Gebäude noch einmal lebend zu betreten.
Hogart sah zur Treppe, die Linda Bohmann einst runtergestürzt war. Das obere Stockwerk war komplett ausgebrannt. Irgendwo unter den Trümmern befand sich eine CD von Sade, die zu einem Kunststoffklumpen geschmolzen war. Wie hatte er sich in dieser Frau so täuschen können? Bis jetzt wusste er nicht, ob er sich in Madeleine oder Linda verliebt hatte. Jedenfalls hatte er die wahre Linda nie kennengelernt.
Die verbrannten Stoffreste, die Krajnik bei der Hausdurchsuchung in Madeleines Kamin gefunden hatte, waren im Labor in einer Kochsalzlösung aufgelöst worden. Sie enthielten tatsächlich fremde Blutspuren. Der Serologe hatte die exakten Unterblutgruppen bestimmt, wobei es sich um jene von Faltl, Dornauer und Ostrovsky handelte. Gestern hatte auch Bartoldi die Obduktion der Bohmanns abgeschlossen. Sie waren alkoholisiert und mit einer Mischung aus Rohypnol und Thiopental abgefüllt gewesen. Somit stand Madeleine als Mörderin ihrer Eltern, ihrer Schwester und dreier Ärzte fest. Nachdem Albert im Chemielabor auch noch die Übereinstimmung des Benzinkanisters aus Madeleines Vorratskeller mit den Spuren aus dem Archiv der Gebietskrankenkasse bestätigt hatte, lagen Medeen & Lloyd eindeutige Beweise für eine Brandstiftung vor. Zwar einige Tage zu spät, doch das ließ sich hinbiegen. Die Rechtsanwälte sämtlicher Parteien würden nun wohl klären, wer welche Summe zahlen musste. Jedenfalls hatte sich Albert einen Teil von Hogarts Prämie verdient, und Hogart war Kohlschmieds Klammervertrag entkommen. Nie wieder würde er für Medeen & Lloyd arbeiten, zumindest nicht, solange Kohlschmied als Außendienstleiter fungierte. Dieses Kapitel war für Hogart endgültig abgeschlossen. Doch eine Sache blieb noch zu erledigen.
Durch den Brand war der Großteil der Einrichtung und Gemälde zerstört worden. Allerdings hatte das Feuer innerhalb der Steinfassade nicht so wild gewütet wie im oberen Stockwerk. Hogart humpelte durch das Atelier, bis er die Reste eines verkohlten Tisches erreichte. Er schob die Trümmer mit der Krücke auseinander. Eine Metallschatulle kam zum Vorschein. Er bückte sich und öffnete sie. Tod Brownings Briefe lagen noch unversehrt darin. Hogart faltete sie zusammen und schob sie in eine Klarsichtfolie, die er mitgenommen hatte. In wenigen Tagen würde der Bagger in dem Gebäude wüten und den Schutt in einen Müllcontainer schaufeln. Ob die Engelsmühle restauriert oder dem Erdboden gleichgemacht wurde, hing davon ab, ob sich ein Käufer für das Grundstück fand. Und dieser Käufer hatte bestimmt kein Interesse an einem achtzig Jahre alten Brief, der von einem Schwarz-Weiß-Film handelte.
Als Hogart im Freien stand und in den Föhrenwald blickte, ließ er Brownings Briefe in der Manteltasche verschwinden. Irgendwo klopfte ein Specht im Wald. Er wollte bereits zum Taxi gehen, als sein Handy klingelte.
»Hogart.«
»He, endlich erreiche ich Sie.« Es war Elisabeth Domeniks Stimme. »Herzlichen Dank für die vielen Blumen. Es ist unglaublich, jeden Tag kamen neue ins Zimmer. Mittlerweile sind sämtliche Regale voll. Die Schwestern haben gar keine Vasen mehr. Alle beneiden mich darum.«
»Um die Blumen?«
»Ach was.« Sie lachte. »Um meinen Verehrer.«
Hogart schmunzelte. »Sind Sie noch im Krankenhaus?«
»Ja, ich unterzeichne gerade die Entlassungspapiere.«
»Ich war vor einer Stunde im Krankenhaus, doch Ihr Zimmer …«
»Ich weiß, ich war in der Cafeteria. Ihr Kollege, dieser Eichinger, kam eigens im Rollstuhl herunter. Er hat mich gesucht, um mir auszurichten, dass Sie hier waren.«
Eichinger, dieser Amor auf zwei Gipsbeinen! Er musste ihn bei Gelegenheit auf ein Bier einladen. »Dann haben wir uns nur kurz verpasst«, sagte Hogart.
»Ich weiß, blöd.« Sie raschelte mit einer Zeitung. »Ich habe gehört, Sie haben den Fall allein gelöst. Gratuliere. In der Zeitung steht, Sie sind ein Held, aber das wusste ich schon früher. Allerdings ist das Foto von Ihnen schlecht, in Wahrheit sehen Sie besser aus.«
»Danke, aber wie können Sie das beurteilen?«, fragte Hogart. »Es war finster, als wir uns im Keller der Krankenkasse begegnet sind.«
»Sie meinen, als Sie mich dort fast erschossen hätten.«
Mann, die Frau ging ran. Hogart schmunzelte. »Sie sind ganz schön nachtragend.«
»Ich vergesse nie etwas. Außerdem schulden Sie mir noch ein Abendessen im Steakhaus. Sie dachten wohl, Sie könnten sich mit all den Blumen um die Einladung drücken.«
»Wie wäre es mit heute Abend?«, fragte er prompt.
»Ich werde zwar in Kürze entlassen, aber ich muss noch …«
»Ich hole sie ab.«
»Ich habe einen Gips und kann nicht laufen.«
»Ich auch nicht. Ich gehe auf Krücken.« Sie lachte. »Wie ist das passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Er sah den Hügel hinunter, wo das Auto parkte. »Ich stehe übrigens gerade vor einem Taxi. Was halten Sie davon, wenn ich Sie abhole und nach Hause bringe. Sie nehmen sich so viel Zeit, wie Sie möchten, und abends unternehmen wir etwas.«
»Klingt gut«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Ich bin in einer halben Stunde abflugbereit.«
- Ende -