10
In dem Atelier war es kühler als draußen. Die dicken Steinmauern speicherten die Kälte wie eine Gefriertruhe. Zudem roch es nach Holz und Kalk.
Während Hogart versuchte, etwas in der Dunkelheit zu erkennen, entzündete Madeleine einige Petroleumlampen, die an Ketten unter der Zimmerdecke baumelten. Der große Raum wurde Stück für Stück aus der Schwärze gerissen. Etwa einen Meter über ihm verliefen mehrere schwere Holzbalken, die in den Steinwänden verschwanden. Der Raum war mit mannshohen Staffeleien ausgestattet. Auf den Tischen dazwischen stapelten sich Stofffetzen, Spachtel, Einmachgläser, Farbpaletten und Pinsel in den unterschiedlichsten Größen.
Hogart erinnerte sich, was ihm Madeleine in der Galerie erzählt hatte. »Du sagtest, du fühlst dich wie ein Fisch im Sand?«
»Daran erinnerst du dich?«
»Phänomenales Gedächtnis.« Grinsend tippte er sich an die Stirn, während er die fünf Malerstaffeleien im Raum betrachtete. Weiter hinten lehnten weitere Gemälde an der Wand. »Das sieht nicht so aus, als hättest du eine Schaffenskrise.«
»Mit Ausnahme eines einzigen Werks gibt es hier nur Entwürfe, Skizzen, Fragmente, und wie es im Moment aussieht…« Sie seufzte.
»Du hast doch Talent, eines Tages wirst du sie beenden.«
»Im Entwurf zeigt sich das Talent«, korrigierte sie ihn, »aber in der Ausführung die Kunst.« Mit einem Mal klang sie nicht mehr so von sich überzeugt wie noch vor Stunden in der Galerie. Es schien, als bröckle ihre Fassade langsam ab, worunter die wahre Madeleine zum Vorschein kam.
»Was hindert dich daran, die Bilder fertig zu malen?«
»Ein Künstler ringt nie mit seinem Werk, sondern mit dem, was ihn daran hindert.« Sie wandte sich um. »Belassen wir es einfach dabei.«
Die unmittelbar neben Hogart auf den Keilrahmen gespannte Leinwand zeigte den missgestalteten Fötus eines menschlichen Kindes. Obwohl er kaum eine Strichzeichnung von moderner Kunst unterscheiden konnte, erkannte sogar er, dass das Gemälde nur zur Hälfte fertiggestellt war - und dass Madeleine für diesen neuen Zyklus tatsächlich veränderte Motive und alternative Techniken verwendete. Die Bilder waren heller, bunter und präziser gemalt, aber trotzdem morbider als alles andere, was er bisher von ihr gesehen hatte.
»Es ist mit deinen vorherigen Bildern nicht zu vergleichen - zumindest die Farben erinnern mich an die moderne Malerei deiner Schwester.«
»Was heißt schon moderne Malerei?«, fragte sie. »Es gibt moderne Krawatten, moderne Schuhe, moderne Kleider, aber Kunst unterliegt niemals den Ansprüchen der Mode. Kunst entsteht hier drinnen.« Sanft nahm sie seine Hand und berührte mit seinen Fingern ihre Schläfe. »Meine Schwester hat keine Ahnung davon.«
»Sie hat immerhin Kunst studiert«, gab Hogart zu bedenken.
»Ja, stimmt«, fauchte Madeleine. »Während sie ihr Studium an der Kunstakademie mit Auszeichnung abschloss, brach ich es nach dem vierten Semester ab.«
Sie blickte einen Augenblick zur Decke, dann erzählte sie, dass sie einige Jahre als Setzerin in der Druckerei ihres Vaters und später als Layouterin im Verlagshaus gearbeitet hatte. Zwar war sie die Tochter des Chefs, blieb aber trotzdem immer nur Mädchen für alles, während Linda von ihrem Vater vor allen Kunden und Freunden stets als erfolgreiche Malerin gelobt wurde. Bald hatte Madeleine die Nase voll, kündigte und machte sich als freischaffende Künstlerin selbstständig. Natürlich hatte ihr Vater kein Verständnis dafür, sah er doch in ihr die Versagerin, die das Studium abgebrochen hatte. Irgendwann hätte sie im Verlag bestimmt in seine Fußstapfen treten sollen, doch die Entscheidung, eigene Wege zu gehen, änderte alles.
Ohne einen Cent Unterstützung durch ihren Vater hauste Madeleine zunächst in Wohngemeinschaften und lebte von Stipendien und der Sozialhilfe. Ihre Förderungsanfragen wurden meist abgelehnt, dennoch schrieb sie jeden Monat ihre Standardbriefe, da sie von irgendetwas leben musste. Von Zeit zu Zeit wurde sie von Vereinen oder befreundeten Kollegen aus dem ehemaligen Ostblock eingeladen, wo sie für Unterkunft und Essen Lehrgänge hielt. Seit dem Tod der Eltern liefen ihre Ausstellungen in einigen Galerien in Wien, Prag und Budapest einigermaßen gut, sodass sie sich ihren Golf und die Erhaltung der Mühle leisten konnte. Im Gegensatz dazu hatte Linda nie im Verlagshaus ihres Vaters arbeiten müssen. Obwohl sie sich unmittelbar nach dem Studium als Künstlerin selbstständig gemacht hatte, genoss sie den höheren Stellenwert bei ihren Eltern.
»Linda feierte unglaubliche Erfolge als Malerin, wurde als eines der größten Nachwuchstalente bejubelt und erlangte einen Ruf, den ich wohl nie erreichen werde.« Madeleine blickte Hogart an. »Ich finde, wir haben bereits genug über sie gesprochen.«
Eigentlich hatte nur sie über Linda gesprochen, aber vielleicht musste sie sich ihren Frust von der Seele reden. Hogart betrachtete die Staffeleien. Ein Motiv mit verkrüppelten Kindern reihte sich an das nächste - teilweise Föten, teilweise Neugeborene, mit Nähten im Gesicht und Klammern an Kopf, Schultern und Gelenken. Hogart wurde nicht schlau aus dieser Frau. In einem Moment wirkte sie natürlich und sympathisch, im anderen wiederum abgrundtief krank.
»Was geht dir durch den Kopf?«, fragte sie.
»Dass die Bilder der Spiegel der Seele sind.«
Sie schmunzelte. »Ich mag es, wenn man mich richtig zitiert.« Neben ihr stand ein verdecktes Gemälde auf einer Staffelei. Sie zog das Leintuch vom Rahmen. »Hier ist das erste Gemälde, zugleich ist es als Einziges fertig.«
Das Bild zeigte den Kopf eines Mädchens, das Gesicht schrecklich verstümmelt, mit entsetzlich roten Farben auf die Leinwand gespachtelt, sodass man die offenen Wunden förmlich spüren konnte. Unwillkürlich kniff Hogart die Augen zusammen.
»Ich habe diese Dinge nicht erfunden. Sie existieren tatsächlich. Und wenn man sie einmal gesehen hat, gehen sie einem nicht mehr aus dem Kopf.«
»Muss man sie sehen?«, fragte er.
»Soll man sie verheimlichen, unter den Teppich kehren?«, erwiderte sie. »Diese Motive stammen aus einer dunklen Vergangenheit. Missgestaltete Kinder, Föten, Freaks, Krüppel. Im Wiener Narrenturm in der Spitalgasse siehst du noch viel schrecklichere Dinge als diese hier.«
Hogart wusste nicht viel über den Narrenturm, bloß dass das Gebäude in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts das erste Krankenhaus zur Unterbringung von Geisteskranken gewesen war. In jener psychiatrischen Klinik, einem festungsähnlichen Rundbau mit schlitzartigen Fenstern, war Platz für etwa zweihundert bis zweihundertfünfzig Geisteskranke gewesen.
»Du kennst den Narrenturm?«, stellte sie fest, als sie seinen Blick bemerkte.
»Ich war nie drinnen.«
»Ich bin öfters dort - vor allem, wenn ich auf der Stelle trete. Heute ist es ein pathologisch-anatomisches Museum. Durch die langen Korridore zu gehen, die Skizzen und Fotografien von damals zu betrachten, die Inhalte der Schaukästen und Vitrinen zu studieren ist zwar erschreckend, aber ebenso inspirierend.«
Sie warf das Leintuch über das Gemälde. »Am schlimmsten sind die Ausstellungsstücke im fünften Stockwerk. Von Albert Gaugin hatte ich dir bereits erzählt. Er war ein äußerst zweifelhafter Arzt, unbestreitbar selbst ein Geisteskranker. Aber wer konnte das damals schon so genau sagen? Immerhin hatte er Medizin studiert und genoss den Ruf eines Vordenkers.« Sie breitete die Arme aus. »Das sind seine Kinder. Als Arzt entwickelte er die moderne Säftelehre, vertrat die mittelalterliche Euthanasie und führte Operationen am Unterleib schwangerer Frauen durch. Allerdings habe ich auf eine Nachbildung seiner in Spiritus eingelegten Frauenorgane verzichtet.«
Hogart hatte sich soeben entschieden, nicht hier zu übernachten. »Du wolltest mir etwas zeigen«, erinnerte er sie. »War es das?«
Sie schmunzelte. »Wusstest du, dass Albert Gaugin mit Tod Browning in Briefkontakt stand?«
Hogart horchte auf.
Sie schmunzelte. »Ich dachte mir, dass dich das interessieren würde.«
Der amerikanische Underground-Regisseur hatte in den Dreißigerjahren einen Filmklassiker geschaffen, den Hogart zwar auf Videokassette besaß, doch wegen der schockierenden Aufnahmen nie zu Ende gesehen hatte. In Hogarts Sammlung befanden sich unter anderem die Autogramme zweier Schauspieler, die an diesem Film mitgewirkt hatten - wobei die Bezeichnung Schauspieler übertrieben war, da sie nachher nie wieder an einem anderen Film mitgewirkt hatten.
»Mittlerweile ist allgemein bekannt, dass keine einzige Aufnahme in Freaks gestellt ist«, sagte Madeleine. »Als sich damals herumsprach, dass die darin gezeigten monströsen Jahrmarktsgestalten echt waren, lösten die Kritiker einen Skandal aus, worauf der Film zensiert und in manchen Ländern sogar verboten wurde.«
In Hogart kamen Erinnerungen hoch. Echt oder unecht - die Aufnahmen waren schockierend. Er sah den Schlangenmenschen förmlich vor sich, die kleinköpfige Frau und den lebenden Torso, der ohne Arme und Beine versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden.
»Tod Browning starb als einsamer Alkoholiker an Krebs. Er bekam nicht mehr mit, dass sein Film sechzig Jahre nach der Veröffentlichung als Meisterwerk gefeiert wurde. Er war seiner Zeit weit voraus, ebenso wie Albert Gaugin.«
»Warum standen die beiden in Briefkontakt?«
Madeleine schob einige Farbpaletten zur Seite und zog eine in Leder gebundene, besprenkelte Mappe hervor. »Browning interessierte sich für Gaugins Arbeit als Wissenschaftler. Der Arzt stand Browning während der Dreharbeiten sozusagen als medizinischer Berater zur Seite. Einige von Gaugins …« Sie machte eine Pause. »… Patienten sind in der Rohfassung von Brownings Film zu sehen. Vor der Uraufführung wurden diese Szenen von Browning allerdings rausgeschnitten, als ihm klar wurde, dass Gaugin ein Verrückter war, der die Schuld dafür trug, dass seine Patienten so aussahen, wie sie aussahen.«
Hogart warf einen Blick auf die Gemälde. Währenddessen schlug Madeleine die Mappe auf. Einige lose, handbeschriebene Blätter lagen darin.
Hogart trat näher. »Das sind doch nicht etwa …?«
»Doch! Brownings Briefe aus den Jahren 1929 bis 1931.«
Hogart fuhr mit dem Finger über das vergilbte, brüchige Papier. Bei Brownings Signatur hielt er inne. Ihm stockte der Atem. Es war nicht zu fassen. Dieser Schatz lag hier einfach so herum, zwischen Farbpaletten und Leinwänden. Es brauchte nur ein Wasserglas umzustürzen, und die Dokumente wurden unleserlich.
»Du hast diese Briefe doch nicht auf dem Flohmarkt gekauft?«
»Von einem befreundeten Malerkollegen aus Zagreb. Ich kann dir nicht sagen, woher der sie hatte. Während meiner Reisen nach Belgrad und Bukarest, in die rumänische Hafenstadt Giurgiu und nach Varna in Bulgarien habe ich vieles gesehen. Damals fand ich mehr über meine wahren Interessen heraus. Zu jener Zeit festigte sich mein Malstil.« Sie sah sich um. »Ich habe bis jetzt gebraucht, um das aus meinem Kopf heraus auf die Leinwand zu bringen.«
Hogart fragte sich, wie lange er brauchen würde, um diese Bilder aus seinem Kopf zu bekommen.
Sie sahen sich lange Zeit an, ohne ein Wort zu sagen. Die Erotik, die er noch vor Kurzem in der Hütte zwischen ihnen gespürt hatte, war verflogen und einem morbiden Gefühl gewichen.
»Das ist nicht deine Welt, oder?«, fragte Madeleine schließlich.
Er schüttelte den Kopf. »Bis auf das Autogramm nicht.«
»Solange ich an dem Zyklus male, möchte ich es behalten. Anschließend kannst du es haben.«
Hogart nickte. Nach Madeleines derzeitiger Verfassung konnte das Jahre dauern.
»Noch hungrig?«, fragte sie.
»Was erwartest du nach diesen Bildern?«
Sie lächelte. »Komm mit nach oben, dort gefällt es dir bestimmt besser.« Sie ließ die Petroleumlampen brennen und ging durch das Atelier.
Hogart folgte ihr zu einer Tür, hinter der eine schmale lange Treppe in das obere Stockwerk führte.
Madeleine hatte nicht zu viel versprochen, was den Wohnbereich betraf. Die Räume wirkten so gemütlich wie die Stube einer Blockhütte. Stehlampen, gedimmte Spots an der Decke, ein Parkettboden mit dickem Teppich, Holzkommoden und eine Leseecke mit Bücherregalen und Schaukelstuhl sorgten für eine wohnliche Atmosphäre. Durch die Zimmermitte verlief die Holzkonstruktion, die früher den Mühlstein bewegt hatte. Mittlerweile war das Loch in der Decke zum Abzug eines offenen Kamins umfunktioniert worden. Madeleine entfachte ein Feuer im Kamin. Anschließend schlüpfte sie aus ihren Stöckelschuhen und streifte den tunikaähnlichen Umhang ab. Achtlos ließ sie ihn auf den Boden fallen, während sie barfuß in die Küche verschwand. Hogart warf sein Sakko über eine Stuhllehne. Er kramte seinen Autoschlüssel, das Handy, Feuerzeug und Zigaretten aus den Hosentaschen und schob alles auf der Glasplatte des Couchtisches zusammen. Seine alte Marotte. Dann sah er sich um. Bücher von Gorki, Tschechow und Solschenizyn standen in dem Regal, und natürlich fehlten auch nicht die Klassiker von Tolstoi und Dostojewksi. Dazwischen ragten die Bände von Ibsen und Kierkegaard hervor, die aber nicht wirklich zum Rest der Bibliothek passten. Hogart fragte sich, ob das hier noch die Literatur von Madeleines Vaters war oder ob sie diese Schinken tatsächlich selbst las.
Er hörte das Offnen und Schließen des Kühlschranks. Im nächsten Moment kam Madeleine wieder, in der einen Hand eine Flasche Sekt mit zwei Gläsern, in der anderen balancierte sie ein Tablett mit Brötchen.
»Die sind gestern von der Vernissage übrig geblieben. Stört dich das?«
»Kein Problem, solange keine Shrimps drauf sind.«
»Mann, hast du ein Glück«, neckte sie ihn. »Die wurden gestern alle gegessen.«
Sie setzten sich auf das Sofa und Madeleine balancierte das Tablett auf ihrem Schoß. »Rohschinken, Käsewürfel und Weintrauben - bon appetit.«
Ihr Blick fiel auf die Schachtel Stuyvesant. »Ich dachte, du rauchst nicht.«
»Nur für Notfälle.«
»Junge, du denkst aber auch an alles.«
Er öffnete den Sekt und sie aßen die Sandwiches. Zwischendurch schaltete Madeleine mit der Fernbedienung die Stereoanlage an und spielte eine CD ab.
»Sade«, stellte Hogart fest.
Madeleine schmunzelte. »Der Mann ist gut. Ihre Love Deluxe finde ich am besten.«
»Und ich dachte, du stehst mehr auf die Musik von Marilyn Manson.«
Statt eine Antwort zu geben, drehte sie die Musik lauter. Hogart genoss die sanften, erotischen Pianoklänge und Sades unverwechselbare Stimme. Angeblich wurden zu diesen Songs mehr Babys gezeugt als zu anderer Musik. Für einen Moment dachte er an die Motive der Gemälde, die ein Stockwerk tiefer auf den Staffeleien standen. Was für ein Gegensatz zu dieser Musik. Madeleine war nicht nur eine vielseitige, sondern auch zutiefst widersprüchliche Frau, aus der Hogart nicht schlau wurde.
Plötzlich rückte sie näher, schob völlig überraschend ihren Rock über die Oberschenkel und setzte sich auf ihn.
»Ooops!« Kichernd bemerkte sie, dass sie etwas Sekt aus dem Glas verschüttet hatte. Sie presste die Schenkel zusammen und bewegte ihren Unterleib, sodass der Rock höherrutschte. Hogart sah ihre weißen Oberschenkel.
»Du fühlst dich wohl nicht gern bedrängt?«, fragte sie mit einem gespielt drohenden Unterton in der Stimme.
Statt eine Antwort zu geben, strich er zärtlich mit den Händen über ihre Haut. Die Beine fühlten sich weich und warm an. Über ihren Hüften spürte er den engen String ihres Tangas. Hogart fuhr mit den Fingern darunter.
»Oh …« Sie kicherte. »Ich sehe, das gefällt dir.« Sie presste ihr Schambein gegen die Wölbung seiner Hose.
Hogart spürte, wie das Blut in sein Glied gepumpt wurde. Sein Penis hörte nicht mehr auf zu pochen.
Sie beugte sich zu ihm herunter. »Wie macht es das Männchen der Gottesanbeterin?«, flüsterte sie in sein Ohr.
»Was?« Er versuchte, sich aufzurichten, doch sie drückte ihn nieder.
»Langsam - laaangsam macht es das Männchen«, hauchte sie. »Falls es zu forsch ist oder sich zu rasch bewegt, wird es von der Gottesanbeterin gefressen, weil sie es als Beute betrachtet.«
Da war sie wieder, diese perfide Mischung aus Erotik, Lust und Tod. Unwillkürlich nahm er die Hände von ihren Hüften.
»Was hast du?«
»Ich …«
Plötzlich schoss sie nach vorne und steckte ihm die Zunge in den Mund. Sein Hinterkopf knallte an die Wand. Auf dem Regal über ihm kippten einige Bilderrahmen um, einer davon polterte zu Boden. Er spähte zur Seite.
Sie löste sich von ihm. »Was hast du, verdammt?«, fragte sie weiter, als sie ihn dabei ertappte, wie er das Foto auf dem Boden betrachtete.
»Ist das Linda?« Er deutete auf das Bild. »Damals hatte sie noch längeres Haar.«
»Bitte?«, rief sie, während sie von ihm herunterkletterte und eine Armlänge von ihm wegrückte. »Du hast es voll drauf, einen romantischen Abend zu zerstören.«
»Was habe ich falsch gemacht?«
»Was du falsch machst?«, rief sie. »Ich lege Sade auf, und du fragst mich nach dieser eingebildeten Kuh? Damals hatte sie noch längeres Haar«, äffte sie ihn nach.
Hogart spürte, wie seine Halsschlagadern vor Zorn anschwollen.
»Lass doch dieses verdammte Bild auf dem Boden liegen. Stört es dich?« Sie griff zum Sektglas und schüttete den Inhalt über den Bilderrahmen. Fehlte noch, dass sie das Glas hinterherwarf.
»Krieg dich wieder ein«, murmelte er.
»Ich soll mich einkriegen?«
»Herrgott, es ist doch nur ein Bild. Sie ist immerhin deine Schwester. Ich dachte …«
»Falsch gedacht!« Sie fixierte ihn mit scharfen Augen. »Okay, ich sag dir was!« Sie zog den Rock über die Knie. »Immer dreht sich alles um sie.«
»Wir müssen nicht schon wieder über Linda reden«, versuchte er sie zu beruhigen.
»Nein, schon gut, lass es! Sie ist immer im Mittelpunkt. Schon bei der Geburt. Sie kam zehn Minuten vor Silvester zur Welt und war der gesamte Stolz der Familie. Mich holten diese Idioten von Ärzten erst eine halbe Stunde später raus. Die wussten vorher nicht einmal, dass Mutter mit Zwillingen schwanger war. Seitdem lebe ich in Lindas Schatten, vollkommen egal, was ich mache. Ständig dreht sich alles um sie, die arme Linda in ihrem Rollstuhl.«
Madeleine stellte das Sektglas zur Seite. Ihre Hände zitterten. »Verstehst du das Dilemma? Ich bin nur die Zweitgeborene«, spie sie aus. »Ich habe das Studium abgebrochen und sogar im Verlag meines Vaters das Handtuch geworfen.«
»Es tut mir leid, ich wollte …«
»Willst du wissen, weshalb ich ein Foto von ihr habe? Es erinnert mich daran, wie viel man erreicht, wenn man die Gefühle der Menschen ausnützt. Als die Kuh noch malte, verkaufte sie auf einer einzigen Ausstellung mehr Gemälde als ich in einem ganzen Jahr. Trotzdem hat sie ihre Malerkarriere an den Nagel gehängt und unterrichtet nur noch an der Luttenberger Akademie in der Innenstadt, während ich Hunderte Kilometer mit dem Zug fahren muss, um vor einem Dutzend Tschechen einen Malkurs abzuhalten. Und weißt du, woran das liegt?« Ohne eine Antwort abzuwarten, redete sie weiter. »Weil der Krüppel im Rollstuhl sitzt. Alle lieben sie. Damit ist sie eine Besonderheit, der Tür und Tor offen stehen. Und sie weiß, wie sie die Sympathien der Menschen an sich reißt.«
Die Worte klangen nach einer krankhaften Mischung aus Hass und Eifersucht.
Madeleine sah Hogart scharf an. »Ich weiß, dass auch du auf sie stehst. Sieh mich nicht so an! Denkst du, ich erkenne es nicht an deinem Blick, mit dem du ihr Bild anstarrst. Alle stehen auf sie. Das ist nichts Neues. Aber du kannst sie nicht ficken!«, zischte sie. »Du kannst höchstens mich flachlegen und dir dabei ihr Bild vor Augen halten. Denn bei Linda bist du ein paar Jahre zu spät. Ihre Fotze ist so trocken und hohl wie ein alter Baumstamm.« Sie hatte sich in eine wilde Euphorie geredet und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
Hogart antwortete nichts darauf. Er war wie vor den Kopf gestoßen. Trotzdem war ihm ein Detail nicht entgangen.
»Sie ist nicht von Geburt an querschnittgelähmt?«, fragte er.
Madeleine lachte schrill auf. »Die Kuh ist gestolpert und die Treppe runtergestürzt - jene Treppe, die du vom Atelier selbst raufgegangen bist. Der Lendenwirbel war gebrochen, die Nerven glatt durchtrennt. Da hilft nicht einmal mehr die Heilige Jungfrau Maria.«
»Mein Bruder sitzt auch im Rollstuhl - Autounfall«, log Hogart. »In welchem Krankenhaus war Linda Patientin?«
Zunächst glaubte er, dass Madeleine die Frage gar nicht gehört hatte. Doch schließlich starrte sie ihn an.
»Früher war sie alle paar Jahre mal drei bis vier Wochen im Weißen Hof. Angeblich bekam sie dort eine gute Physiotherapie.«
»Dann kannte sie bestimmt Ostrovsky«, vermutete Hogart, obwohl er noch nie vom Weißen Hof gehört hatte.
Madeleine schwieg. Hogart bemerkte keine Reaktion in ihrem Gesicht. Unverändert starrte sie an ihm vorbei ins Nichts, als erfüllte sie jetzt eine neuerliche Leere, nachdem sie allen Dampf abgelassen hatte.
»Wer ist das?«, fragte sie schließlich.
»Ostrovsky?«, fragte Hogart. »Einer der besten Neurochirurgen. Er hat damals meinen Bruder zusammengeflickt.«
»Wie kommst du darauf, dass sie ausgerechnet diesen Typ kennt?«
»Kannte«, korrigierte er sie. »Er starb am Wochenende. Die Zeitung schrieb über seine brutale Ermordung.«
»Niemand lebt ewig.« Sie füllte ihr Glas und leerte es in einem Zug, als wollte sie ihre miese Laune mit Sekt runterspülen. »Meine Meinung war schon immer, dass die Gesellschaft die Verbrecher hat, die sie verdient.« Im nächsten Moment wurde ihr abwesender Blick wieder klar. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Haben wir das Thema Linda Bohmann nun endlich abgehakt?«
»Abgehakt! Bis auf eine Frage.«
Sie seufzte.
»Wann war ihr Unfall?«
Madeleine zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, Linda war damals etwas über zwanzig oder so.«
Hogart wusste, dass Linda ein Jahr älter war als er, ein vierundsechziger Jahrgang. »1988?«, fragte er.
Madeleine fixierte ihn. »Ja, das kommt hin. Warum zum Teufel interessiert dich das?«
Ein Schauer rieselte Hogart über den Rücken. Der Killer hatte ihre Unterlagen aus dem Elisabethspital gestohlen.
»Was ist mit dir? Willst du nun ficken oder nicht?«, fragte sie, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen.
»Es ist spät.«
»Was?« Sie sah ihn mit einem ungläubigen Blick an. »Hast du nur am frühen Morgen Sex?«
Hogart war bei Gott nicht unflexibel, er war spontan und konnte verrückte Dinge tun, doch mit den Stimmungsschwankungen dieser Frau, die wie auf einer Achterbahn rauf und runter rasten, konnte er nicht mithalten. Er stand auf und nahm seine Sachen vom Glastisch.
Als er endlich draußen war, lehnte er sich an den Steinbrunnen und blickte zum Nachthimmel. Das Gewitter hatte sich verzogen. Einige Sterne funkelten am Firmament. Das Mondlicht spiegelte sich in den Wasserlachen.
Im Atelier brannten immer noch die Petroleumlampen und hinter den Fensterläden schimmerte das Licht aus Madeleines Wohnzimmer. Er wollte nichts auf der Welt mehr, als mit dieser Frau schlafen, aber sie war absolut verrückt. Beängstigend verrückt.
Hogart fingerte die Zigarettenpackung aus der Hose und riss die Folie ab. Er steckte sich eine Stuyvesant an - die erste seit drei Monaten.