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Die Luttenberger Kunstakademie lag am Ring, der um die Wiener Innenstadt führte. Das zweistöckige Gebäude wurde von dem mächtigen Völkerkundemuseum, der Augustinerbastei und der Hofburg umgeben, welche die Nationalbibliothek beherbergte. Obwohl die Kunstakademie im ähnlich verspielten Stil der k.u.k.-Monarchie errichtet worden war wie die anderen Gebäude, mit Säulen, Treppenaufgängen und zahlreichen Erkervorsprüngen, ging sie neben den anderen Bauwerken regelrecht unter.
Hogart parkte seinen Wagen unter einer Linde. Die Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach und spiegelten sich in den weißen Kieselsteinen, die den Platz vor der Akademie bedeckten. Hogart steckte sich die Sonnenbrille ins Haar und wollte soeben über den Kies zum Treppenaufgang gehen, als eine blitzblaue, aufgemotzte Aprilia über den Kies ratterte, eine Runde um den Springbrunnen drehte und direkt neben Hogarts Wagen zum Stehen kam. Noch bevor der Motor erstarb, wurde Hogart von einer stinkenden Abgaswolke eingenebelt. Diese Göre tauchte immer dann auf, wenn man sie am wenigsten brauchte.
Die Fahrerin zog sich den ebenfalls blitzblauen Motocross-Helm vom Kopf und schüttelte ihr schwarzes zu Rastazöpfen geflochtenes Haar. »Hallo, Onkel Peter.«
»Ich hasse es, wenn du mich so nennst.«
»Sollte ich lieber etwas anderes zu dir sagen, Hog?« Tatjana grinste.
Am liebsten hätte er Kurt, die alte Quasseltante, eigenhändig erwürgt.
Offensichtlich bemerkte Tatjana seinen zornigen Blick, da sie sogleich die Arme entschuldigend hob. »Mein Vater weiß nicht, dass ich hier bin.«
»Und woher weißt du, dass ich hier bin?«
»Anfängerglück.«
Tatjana stieg vom Moped, fädelte eine Kette durch den Hinterreifen und den Sturzhelm und verriegelte das Schloss. Mittlerweile hatten einige Professoren die Akademie verlassen. Sie standen im Schatten unter dem Vordach des Treppenaufgangs, unterhielten sich und warfen Blicke zu ihnen herüber.
Hogart musste eine Entscheidung treffen - und die konnte nur lauten, Tatjana so schnell wie möglich loszuwerden. Manchmal erinnerte sie ihn ein wenig an Kurt, nur dass sie nicht auf der Bio-Hippie-Esoterik-Welle schwamm, sondern eine Spur extremer unterwegs war. Trotz ihrer knapp siebzehn Jahre und der zierlichen Figur trainierte sie zweimal pro Woche am Sandsack in der Boxhalle, spielte Bass in einer Mädchen-Punkband, die sich Johnny Depp nannte, trug ein Nabelpiercing und ein Gothic-Tattoo auf der Schulter. Spider stand darunter, ihr Spitzname in der Band. Hogart konnte den Schriftzug unter dem dünnen Träger des Shirts erkennen. Eigentlich sah es nicht schlecht aus, doch auf dem Körper seiner Nichte gefiel es ihm nicht. Ein Leben lang hatte er von sich behauptet, dass er sich niemals in einen alten, konservativen Kerl verwandeln würde - so wie sein Vater kurz vor dessen Tod -, doch seitdem sich Tatjana mehr und mehr zu einem Freak entwickelte, war er sich dessen nicht mehr sicher.
»Tatjana, bitte«, begann er. »Fahr wieder nach Hause und …«
»Ich habe das Foto in der Zeitung gesehen. Der Ermordete hat meinem Vater ein Video zukommen lassen, das du jetzt besitzt.«
Typisch. Sein Bruder konnte einfach nicht die Klappe halten. »Unter welchem Vorwand gehen wir da jetzt rein?«
»Sei still!« Hogart warf einen Blick zu dem Lehrkörper an der Balustrade.
»Als wer geben wir uns aus?«, wisperte Tatjana. »Wir geben uns als gar niemand aus«, zischte Hogart. »Du fährst wieder heim!«
Tatjana stellte sich auf die Zehenspitzen. »Ich schlage vor, wir sind ein Ehepaar, das sich für Kunst interessiert.«
»Sehr plausibel.«
»Du müsstest allerdings die Sonnenbrille runternehmen. So eine trägt heutzutage niemand mehr - sieht echt ätzend aus.«
Hogart ließ die Brille da, wo sie war. »Fahr heim«, sagte er in einem genervten, aber noch einigermaßen ruhigen Ton.
»Okay, jetzt mal im Ernst.« Tatjana nickte zur Akademie. »Ohne mich wirst du nichts rausfinden. Die merken doch, dass du ein Schnüffler bist. Hast du noch deine gefälschte Polizeimarke?«
»Die hat mir Garek abgenommen.«
»Ist das der Fesche?«
»Garek ist der Hässliche, der Fesche heißt Eichinger.«
Hogart bemerkte, wie die Gespräche an der Balustrade verstummten. Mittlerweile wurden sie von mehreren Personen beobachtet.
»Komm mit«, seufzte er. »Aber du sagst kein Wort, verstanden?« Tatjana nickte.
»Du bist meine Tochter, wirst nächsten Monat maturieren und möchtest im Herbst Kunst unter all diesen Verrückten studieren - ist das klar?«
»Prima Plan.«
»Meine ich auch, du siehst ohnehin aus wie eine Verrückte.«
Wolfram Priola, der Rektor der Akademie, sah überhaupt nicht wie ein Verrückter aus. Der Mann mit der monströsen Brillenfassung und den dicken Gläsern, dem biederen Seitenscheitel und dem kurz gestutzten, grauen Oberlippen- und Kinnbart erinnerte Hogart an seinen eigenen Vater. Obwohl die beiden in zwei verschiedenen Welten gelebt hatten, war er seinem Vater stets mit Respekt und Achtung begegnet. Er hatte immer die demokratische, faire und intelligente Art seines alten Herren bewundert, doch auf der anderen Seite war sein Vater ein Narr gewesen - zumindest was sein Gespür für finanzielle Geschäfte anbelangt hatte. Völlig egal, ob es sich dabei um einen Secondhand-, Lebensmittel- oder Antiquitätenladen handelte. Eine Handvoll Geschäftspartner hatte ihn jedes Mal in den Ruin getrieben, und Hogart hatte sich bereits als Junge geschworen, nie so naiv wie sein Herr Papa zu werden. Mittlerweile wusste er, dass er Versicherungsdetektiv geworden war, um Betrüger zu fassen, die andere aufs Kreuz legten, und damit etwas gutzumachen, das er als Jugendlicher nicht hatte verhindern können.
Priolas Räuspern holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Sie standen in der Aula der Akademie, und jedes Geräusch wurde von der hohen Kuppel mit dem Deckenfresko und den Marmorkacheln auf den prunkvollen Treppenaufgängen zurückgeworfen.
Der Rektor, der Hogart gerade mal bis zur Schulter reichte, lockerte den Krawattenknoten. »Hier sind an die achtzig Studenten eingeschrieben, und sowohl Lehrkörper als auch Gastdozenten unterrichten etwa zwanzig Fächer pro Semester. Für welche Studienrichtung interessiert sich Ihre Tochter?«
Mit Kunstfragen erwischte man Hogart immer auf dem falschen Fuß. So weit konnte der Fettnapf gar nicht entfernt sein, dass er ihn nicht doch noch erreichte. »Ja, Kunst …«, murmelte er, während er Tatjana einen Blick zuwarf.
Diese studierte fieberhaft den Lehrplan an der Tafel, die hinter Priola an der Wand hing. »Lehramt, Kunstgeschichte oder Kulturwissenschaft sind nicht so meine Stärken«, gab Tatjana zu. »Mich interessiert mehr moderne Kunst, vor allem wenn sie in die Tiefenpsychologie hineinspielt - was den Maler dazu bewegt, ein bestimmtes Motiv zu wählen.«
Priola zog eine Augenbraue hoch, wodurch er wie eine Eule wirkte, die soeben festgestellt hatte, dass sich ein zweites Exemplar mit ähnlichen Interessen in ihrem Revier befand. »Eine gute Wahl. Dieses Semester bieten wir beispielsweise das Seminar Die Archetypen der Seele in der modernen Kunst an.«
»Klingt interessant.«
Heuchlerin, dachte Hogart, doch insgeheim war er dankbar, dass sie ihre Sache so gut machte.
»Der Kurs ist gut besucht, unter den Teilnehmern finden sich unter anderem einige bekannte Persönlichkeiten. Das liegt einerseits am reizvollen Thema, andererseits an der Dozentin. Professor Bohmann gilt als eine Koryphäe auf diesem Gebiet - und ihre Unterrichtsmethoden sind unorthodox, aber treffsicher.«
Sie hatten es geschafft.
Tatjana boxte Hogart in die Seite, als sie dem Rektor zu Linda Bohmanns Büro folgten.