13

 

Während der Autofahrt nach Hause versuchte Hogart, seinen Bruder am Handy zu erreichen. Doch nach dem sechsten Läuten aktivierte sich die Mailbox. Er hinterließ keine Nachricht. Die Beamten hatten Kurt bestimmt das Handy abgenommen. Wahrscheinlich hatten sie ihn schon in der Mangel. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Hogart von seiner Mutter oder Sabina, Kurts Frau, angerufen wurde, die ihm die Hölle heiß machten, weil er seinen Bruder in diese Lage gebracht hatte. Als Nächstes telefonierte er mit der Rechtsanwaltskanzlei von Dr. Fliesenschuh, einem befreundeten Anwalt, mit dem er öfters zusammenarbeitete. Fliesenschuh hatte Hogart sogar einmal vertreten, als ihn Eichinger wegen einer dummen Geschichte, die Vor Jahren schiefgelaufen war, vor Gericht gezerrt hatte. Diesmal bat Hogart den Mann mit der Furcht einflößenden tiefen Stimme, dem wirren Vollbart und der schwergewichtigen Statur eines Bären, sich um seinen Bruder zu kümmern.

Das Einzige, was Hogart jetzt noch tun konnte, war, eine Kopie des Videobandes anzufertigen und das Original in Eichingers Revier zu bringen. Bis er Gareks Unterlagen vom Tatort erhielt, musste er sich etwas einfallen lassen, was er den Leuten von Medeen Sc Lloyd wegen des Brandes erzählen sollte. Als er die Stufen im Treppenhaus zu seiner Wohnung hochstieg, überlegte er, wie er sich aus dem Fall mit der Krankenkasse elegant rauswinden konnte, ohne das Gesicht zu verlieren. Allerdings hatte er den Vertrag heute morgen unterzeichnet und zurückgefaxt. Er brauchte rasch Ergebnisse, doch die Zeit lief ihm davon. Er konnte Kohlschmied nicht ewig hinhalten, zudem hätte er schon längst mit dieser Frau Domenik telefonieren müssen, die auf seinen Bericht wartete.

Als er die letzte Etage erreichte, bemerkte er die Holzsplitter auf dem Boden. Dann sah er den zerfetzten Rahmen seiner Wohnungstür. Sie stand einen Spaltbreit offen, die Metallplatten des Schlosses waren komplett verbogen.

Ungläubig starrte er auf das Schild unter der Klingel. Er befand sich vor der richtigen Wohnung. Langsam schob er die Tür mit der Schuhspitze auf. Holzspäne rieselten zu Boden. Der Einbrecher hatte das Schloss gewaltsam mit einem Stemmeisen aufgebrochen. An der Breite der Abdrücke bemerkte Hogart, dass es sich um ein großes Werkzeug gehandelt hatte. Ein Profi wäre anders vorgegangen. Er hätte gewusst, wo sich die fünf Zapfen des Sicherheitsschlosses befanden. Doch dieser Kerl hatte das Stemmeisen wahllos an verschiedenen Stellen angesetzt und so lange probiert, bis die Tür aufsplitterte. Von der Oberkante des Türrahmens bis zum Boden war das Holz komplett eingedrückt.

Mit rasendem Herzen betrat Hogart die Wohnung. Das schwere Stemmeisen lehnte sogar noch an der Wand. Welcher Dilettant hinterließ absichtlich solche Spuren? Im ersten Moment dachte er an die Jugendlichen aus dem Nachtclub im Kellergeschoss, die sich einen Spaß erlaubten, Wohnungen aufzubrechen, Partys zu feiern und die gesamte Einrichtung zu zerstören. Doch die Möbel waren nicht demoliert worden. Er ging durch den Vorraum und blickte in jedes Zimmer. In der Küche waren alle Schubladen aufgezogen und sämtliche Schränke geöffnet. Die Sitzbänke der Essecke waren aufgeklappt, die darin befindlichen Servietten und Tischtücher rausgeworfen. Der Einbrecher wollte nichts verwüsten - er hatte etwas Bestimmtes gesucht. Doch weshalb in der Küche? Die Schuhe aus der Kommode lagen im Vorzimmer verstreut - die Hosen und Jacken im Schrank waren an den Kleiderhaken zur Seite geschoben, als habe jemand an der Rückwand nach einem Safe gesucht.

Er warf einen kurzen Blick ins Schlafzimmer. Auch dort das komplette Chaos. Das Bett war verschoben, die Schranktüren und Laden des Nachttisches standen offen. Seine Socken und Boxer-Shorts lagen auf dem Bett. Die Räume sahen aus, als hätte ein Tornado durch die Etage gefegt. Im Esszimmer war der Teppich aufgeschlagen, doch darunter befand sich nur der Parkettboden - mit keinem einzigen losen Brett. Die gerahmten Bilder und signierten Schallplatten von Duke Ellington, Muddy Waters und John Lee Hooker hingen schief an der Wand. Hinter keinem davon befand sich ein Safe. Was hatten die Einbrecher erwartet? Die Wohnung eines verkappten Millionärs? Als er für einen Augenblick verharrte, glaubte er ein Rauschen und Knistern zu hören, das aus dem Wohnzimmer drang. Hogart versteifte sich. Vorsichtig betrat er den Raum. Fernsehgerät und Videorekorder standen noch auf ihrem Platz. Die Mattscheibe flimmerte. Auch der Videorekorder war noch eingeschaltet, die grüne Lampe leuchtete. Beide Geräte schienen noch intakt zu sein, doch abgesehen davon sah das Wohnzimmer verheerend aus. Alle Schallplattenhüllen lagen auf dem Boden, auch wenn auf den ersten Blick keine davon zerrissen war. Die Videofilme seiner Sammlung lagen ebenfalls auf dem Boden verstreut. Die von Bette Davis und Rita Hayworth signierten Kinoplakate hingen nur noch an einer Ecke befestigt von der Wand. Hogart stieg vorsichtig über die Schellacks und Videos. Mit dem Kugelschreiber aus seiner Brusttasche schob er eine bestimmte Schublade auf. Darin lag seine Dokumentenmappe. Das Schloss war aufgebrochen, doch es schien nichts zu fehlen. Niemand hatte den Reisepass, die Euro oder Geldnoten in Fremdwährungen gestohlen. Wozu der Einbruch? Die Situation erschien ihm reichlich surreal.

Instinktiv blickte er noch einmal zu dem knisternden Fernsehgerät. Der Adapter lag mit aufgeklapptem Fach vor dem Videorekorder. Ostrovskys Film fehlte! Mit der Fernbedienung brachte er endlich das TV-Gerät zum Verstummen. Die Mattscheibe versank in eine glänzende Schwärze. Das Wohnzimmer spiegelte sich im Glas. Er sah sich selbst inmitten des verwüsteten Raums, schief und verzerrt. Hinter ihm stand eine zweite Gestalt reglos im Türrahmen zum Esszimmer.

Hogart wirbelte herum. Die Gestalt verschwand aus dem Türrahmen. Gleichzeitig hörte er stolpernde Geräusche aus dem Ess- und Schlafzimmer. Der Einbrecher war noch in der Wohnung! Deshalb lehnte das Stemmeisen an der Wand.

Instinktiv griff er unter das Sakko an jene Stelle, wo er früher das Schulterholster getragen hatte. Doch die Waffe lag im Handschuhfach seines Wagens. Sein Puls begann zu rasen. Er musste den Kerl erwischen. Dann wären beide Mordfälle gelöst.

Hastig lief er durchs Wohnzimmer und riss die zweite Tür auf, die in den Flur führte. Die Räume seiner Wohnung waren ringförmig angeordnet, sodass er jetzt wieder am Beginn des Vorraums neben der Eingangstür stand. Er wollte nach dem Stemmeisen greifen, das an der Wand gelehnt hatte, doch es war verschwunden. Da hörte er ein Geräusch aus dem Esszimmer. Aus irgendeinem Grund war der Einbrecher nicht aus der Wohnung geflüchtet, sondern hatte sich nur die Brechstange geholt.

Das Eisen krachte gegen Tisch und Stühle. Holz und Glas splitterten. Der Einbrecher schlug wie ein Berserker um sich.

»Wütend?«, rief Hogart durch den Vorraum, doch niemand antwortete.

Vorsichtig schloss er die Eingangstür hinter sich. Es gab nur zwei Möglichkeiten, zum Ausgang zu gelangen. Entweder durch das Wohnzimmer oder durch den Flur. Solange er hier stand, würde niemand vorbeikommen. Er griff zum Handy und wählte den Notruf der Polizei.

Da hörte er, wie das Fenster im Schlafzimmer geöffnet wurde. Der Luftzug ließ den Fensterrahmen gegen die Wand krachen, Glas splitterte. Zwei Meter unterhalb des Fensters lag das Plateau der Feuerleiter. Ein rostiges Gitter, von dem man zur Straße runterklettern konnte.

»Scheiße!« Hogart ließ das Handy fallen und sprintete los.

Er stürzte ins Schlafzimmer zum geöffneten Fenster. Doch bevor er sich über die Fensterbank beugen konnte, um zu sehen, wohin der Einbrecher geklettert war, traf ihn ein harter Gegenstand auf dem Hinterkopf.

Benommen ging er zu Boden. Trotzdem rollte er sich instinktiv auf den Rücken und riss beide Arme überkreuzt vors Gesicht. Der nächste Schlag traf seine Unterarme. Das Brecheisen würde gewaltige Quetschungen und Blutergüsse hinterlassen. Hogart wollte sich aufrappeln, doch die Schläge trafen ihn immer härter. Er ließ sich zurückdrängen, krümmte sich in der Ecke wie ein Kind in Fötusstellung zusammen und hielt die Arme schützend über den Kopf.

Im nächsten Moment wurde ihm das Bettlaken über den Kopf gezogen. Ein Fußtritt traf ihn in die Magengrube. Während ihn die Tritte erwischten, stemmte er sich hoch. Für einen Augenblick ließen die Schläge nach. Er verlor keine Zeit damit, sich das Laken vom Kopf zu reißen, sondern stürzte mit nach vorne gebeugtem Kopf in die Richtung, in der er den Angreifer vermutete. Er rammte dem Mann den Schädel in die Rippen und drängte ihn zurück, bis er gegen den Schrank krachte. Der Spiegel splitterte. Hogart blieb keine Zeit, die Arme schützend vors Gesicht zu ziehen. Da traf ihn das Knie des Mannes am Kinn. Er taumelte zurück, schlug mit dem Hinterkopf gegen das Fensterbrett und sank zu Boden.

Von einer Sekunde auf die nächste wurde ihm schwarz vor Augen.

 

Hogart wusste nicht, was zuerst da war. Die Kopfschmerzen oder die Schläge ins Gesicht. Er spürte, wie er an der Schulter gerüttelt wurde. Kurz darauf lief ihm kaltes Wasser über den Nacken.

Er öffnete ein Auge, und sogar diese Bewegung trieb ihm einen stechenden Schmerz durch den Schädel. Vor sich sah er die verschwommenen Umrisse eines Kopfes. Langsam formten sich die verschiedenen Konturen zu einem Gesicht. Er erkannte Gomez’ platte Nase und den schwarzen Kinnbart. Augenblicklich dachte er an den Einbrecher. Er konnte sich nicht erinnern, sein Gesicht gesehen zu haben.

»Wie spät ist es?«, krächzte Hogart.

»Deine Tür wurde aufgebrochen, deine Wohnung verwüstet, dein Gesicht sieht aus wie eine zerquetschte Tomate, und du willst wissen, wie spät es ist?«

Hogart saß immer noch im Schlafzimmer, unter dem Fenster an die Mauer gelehnt. Er rappelte sich auf. Ein schmerzhafter Stich fuhr ihm durch den Schädel. »Wie spät?«

Gomez reichte ihm sein Handy. Das Display hatte einen Sprung. »Hat vor deiner Wohnung gelegen. Brauchst du einen Krankenwagen?«

Hogart blinzelte auf die Anzeige. Es war kurz nach 18.00 Uhr. Sein Schädel schmerzte, als wäre er in ein leeres Schwimmbecken geköpfelt. Er befühlte seinen Hinterkopf. Das Haar war blutverkrustet. Seine Unterarme schillerten in roten und blauen Farbtönen. Vermutlich war auch eine Rippe angeknackst.

»Alles okay. Hast du ein Glas Wasser?«

Nachdem Gomez wiederkam und ihm zu trinken gegeben hatte, setzte er sich auf Hogarts Bett. »Also? Krankenwagen, Polizei, Anzeige?«

»Ich kümmere mich selbst drum. Hast du die Unterlagen dabei?«

Gomez legte ihm eine dicke Mappe in den Schoß. »Du schuldest mir fünfzig Eier. Das nächste Mal musst du mehr dafür springen lassen. Ich habe zehn Minuten lang kopiert.«

»Hat dir Garek nichts gegeben?«

»Nein, Mann. Er sagte mir, ich bekomme den Fünfziger von dir. Lass ihn rüberwachsen, ich habe nicht ewig Zeit, oder glaubst du, ich bin hergekommen, um dir beim Aufräumen zu helfen?«

Garek war ein Halsabschneider. Aber nach dem dicken Papierstapel zu schließen, war die Akte des Dornauer-Mords vollständig.

Hogart gab Gomez das Geld und dieser verschwand wieder.

 

Zunächst hielt Hogart den Kopf in der Badewanne unter das kalte Wasser. Höllische Kopf- und Magenschmerzen machten ihm zu schaffen. Er schluckte zwei Tabletten Parkemed gegen die Gehirnerschütterung. Dann telefonierte er mit dem Hausmeister, der ihm versprach, einen Tischler aufzutreiben, der sich um die kaputte Tür kümmern würde. Anschließend zündete er sich eine Zigarette an, drückte die Stuyvesant aber gleich wieder aus, da ihm nach dem ersten Lungenzug übel wurde. Er breitete die Unterlagen des Dornauer-Falls auf dem Bett aus. Während er die Tatorrfotos betrachtete, rief er Eichinger auf dem Handy an.

»In meine Wohnung wurde eingebrochen«, erklärte er.

»Was wurde gestohlen?«

»Das Videoband, von dem ich dir erzählt habe.«

Eichinger schwieg eine Weile. »Ich schicke ein Spurensicherungsteam zu dir.«

»Habt ihr an Ostrovskys Tatort fremde Fingerabdrücke gefunden?«, fragte Hogart.

»Nur die deines Bruders!«

Hogart dachte daran, dass sich in seiner gesamten Wohnung Kurts Fingerabdrücke befanden. »Die Mühe kannst du dir sparen. Hier sind bestimmt keine.«

»Möglicherweise hat dein Bruder das Video verschwinden lassen«, vermutete Eichinger.

»Blödsinn! Ich habe mit ihm heute Morgen die Wohnung verlassen, und danach habt ihr ihn aufs Revier gebracht.«

»Dann hat er einen Komplizen beauftragt«, vermutete Eichinger.

»Du weißt ja nicht, wie schwachsinnig das klingt.«

»Schwachsinnig?«, rief Eichinger. »Er hat für Freitagabend während der Zeit der beiden Morde kein Alibi. Der Richter hat eine U-Haft verhängt, die der Staatsanwalt soeben genehmigt hat. Dein Bruder sagt kein Wort. Interessanterweise hat er schon einen Anwalt. Weißt du, wonach das aussieht?«

Verdammt ja, er wusste es! Aber er wusste auch, dass Kurt die besagte Nacht bei einer Freundin verbracht hatte. Bevor der Idiot seine Ehe aufs Spiel setzte, blieb er lieber in U-Haft.

»Ihr seid auf der falschen Spur«, sagte Hogart. »Ihr müsst euch Linda Bohmann vorknöpfen.«

»Vielen Dank für den Tipp, du Schlaumeier! Garek hat bereits mit ihr gesprochen, und wir haben uns ziemlich blamiert. Sie kennt Staatsanwalt Hauser.«

»Ich weiß, seine Frau studiert an der Akademie.«

»Ach, das weißt du? Großartig! Bohmann hat sich erst mal über Garek erkundigt, bevor er mit ihr sprechen durfte.«

»Und was habt ihr rausgefunden?«

»Nichts!« Eichinger schnaubte am Telefon. »Deine Linda Bohmann kennt weder Ostrovsky noch Dornauer.«

»Auf dem Video ist sie gemeinsam mit Dornauer zu sehen!«

»Kannst du das beweisen?«, fragte Eichinger sarkastisch. »Ich hab es langsam satt! Wir haben das Archiv der Dornauer-Klinik auf den Kopf gestellt. Dort existiert keine einzige Unterlage über eine Linda Bohmann.«

»Die wurden gestohlen.«

»Klar, genauso wie dein ominöses Video. Die Geschichte kaufe ich dir nicht ab. Dein Bruder bleibt achtundvierzig Stunden in U-Haft. Wie es im Moment aussieht, ist er unsere beste Spur.« Eichinger legte auf.

Hogart dachte an Linda Bohmann. Warum log sie? Aus welchem Grund sollte vertuscht werden, dass sie eine Patientin in Doktor Dornauers Zentrum gewesen war? Außerdem musste er den Grund herausfinden, weshalb Ostrovsky das Band nicht der Polizei geben wollte. Doch nicht etwa, weil Linda den Staatsanwalt kannte? Hauser war zwar ein Arsch - wie Eichinger es heute morgen formuliert hatte -, doch er war garantiert in keine Mordsache verwickelt.

Das Läuten des Handys riss ihn aus den Gedanken. Noch bevor er zu Wort kam, plapperte eine aufgeregte Frauenstimme drauflos. Es war Elisabeth Domenik von der Medeen & Lloyd-Versicherung. Ihre Stimme klang jugendlich, im Grunde sympathisch, doch war sie im Moment ziemlich aufgebracht. Domenik erklärte ihm, dass es bereits Dienstagabend war und sie noch nichts von ihm gehört hatte. Spätestens in zwei Tagen sollten konkrete Beweise für eine Brandstiftung vorliegen, da die Versicherung sonst zur Kasse gebeten werde.

Hogart hörte nur mit einem Ohr hin. Er starrte auf die Fotos, die der Pathologe von Ostrovsky und Dornauer gemacht hatte. Der pensionierte Primär war übel zugerichtet worden, aber Dornauers Leiche stellte alles in den Schatten, was er bisher gesehen hatte. Gesicht, Hals, Nacken, Schultern und Brust des Mannes waren mit einer Messerklinge bearbeitet worden. Der Killer hatte ihn regelrecht in Streifen geschnitten. Anschließend war der Leichnam tagelang im Wasser des Schwefelbeckens getrieben, bis ihn der Portier gefunden hatte. Dementsprechend aufgedunsen sah das Fleisch aus. Die Schnittwunden klafften auf, als wolle sich der Körper von innen nach außen stülpen.

»Hören Sie mir zu?«

»Ja, ich höre Sie«, murmelte Hogart. »Ich stecke mitten in den Untersuchungen. Es ist noch zu früh, um etwas Konkretes zu sagen.«

Er schob die Fotos auseinander. Auf einem Bild lag Dornauer mit dem Rücken auf den schäbigen Fliesen in der Badestube des Kellers. Sein gesamter Körper war malträtiert worden. Der Killer hatte keine Stelle ausgelassen. Dem Bericht des Gerichtsmediziners zufolge war Dornauer immer wieder mit Ohrfeigen, kalten Umschlägen und Riechsalz zu Bewusstsein geholt worden. Der Killer wollte etwas aus Dornauer herausbekommen. Die Foltermethode ähnelte jener in Ostrovskys Villa.

»Herr Hogart! Können Sie Ihre Ermittlungen bis Donnerstagabend abschließen?«, drängte Domenik.

»Ja«, antwortete er knapp.

»Ich melde mich morgen wieder bei Ihnen.«

»Ja, tun Sie das.« Er legte auf.

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er Bartoldis Bericht über die Tatwaffe las. Der Mörder hatte kein Messer verwendet. Die Schnittverletzungen stammten von einer scharfen Papierschere. Länge und Breite der Klinge, die Tiefe der Schnitte und Stiche sowie der Winkel, mit dem die Schere Dutzende Male in Dornauers Körper eingedrungen war, ähnelten den Umständen des Ostrovsky-Mordes. Entsprechend den Hieben war der Killer groß und kräftig. Hogart befühlte seine Wunde auf dem Hinterkopf. Mit ziemlicher Sicherheit war er ihm vor Kurzem begegnet. Hogart fragte sich, weshalb ihn der Einbrecher nicht ebenfalls ermordet hatte. Möglicherweise konnte er sein Leben nur dem Umstand verdanken, dass der Dieb fand, wonach er gesucht hatte. Das Video.

Hogart widmete sich wieder den Unterlagen der Spurensicherung. Dornauer war ebenso wie Ostrovsky auf einer Folie gefoltert worden. Es gab weder Schuh- noch Fingerabdrücke, keine fremden Haare oder Hautteile am Tatort. Die medizinischen Befunde über die Harn-, Blut-, Leber-, Milz-, Lungen- und Gehirnproben fehlten noch. Doch Hogart interessierte ohnehin nur die Todeszeit, die der Pathologe aufgrund der verdauten Speisereste in Dornauers Magen auf 21.00 Uhr festgelegt hatte. Nach Bartoldis Meinung starb der Arzt Freitagnacht, etwa zwei Stunden nach dem Mord an Ostrovsky.

Der Rest war uninteressant - bis auf eine Sache: Wie schon bei Ostrovskys Leiche hatte der Gerichtsmediziner auch bei Dornauer die Einstiche zweier Nadeln in den Oberschenkeln festgestellt. Allerdings stammten sie von keiner Injektion, sondern von einem Geschoss. Der Killer hatte Dornauer eine hochkonzentrierte Dosis Botox mit einem Blasrohr verabreicht. Das Mittel wurde gewöhnlich gegen Krämpfe und Spastizität verwendet. Es blockierte die Nervenimpulse, wodurch sich die Muskeln nicht mehr wie gewohnt anspannen ließen. Hoch dosiert wirkte es wie ein Lähmungsgift, das auf der Stelle bewegungsunfähig machte.

Gemäß der toxikologischen Untersuchung waren die Spuren in Dornauers Blut so hoch, dass er nach den Einstichen nicht mehr aufrecht stehen konnte. Hilflos war er den Attacken durch die Schere ausgeliefert gewesen. Daher hatte die Kripo am Tatort keine Spuren eines Kampfes feststellen können und weder Blut, Schweiß, Haare oder Hautfetzen unter Dornauers Fingernägeln gefunden. Als Todesursache wurde allerdings nicht der schwere Blutverlust festgestellt. Dornauers Tod trat durch Atemlähmung ein. Offensichtlich hatte der Killer die Dosis des Gifts zu hoch angesetzt. Vermutlich war Dornauer sogar früher als geplant gestorben. Anschließend war der Leichnam von den Fliesen in das Schwefelbecken gekippt worden.

Hogart wusste, dass Botox nicht wie Aspirintabletten in den Verkaufsregalen der Apotheken lag. Normalerweise lagerte dieses Gift nur unter Verschluss in Krankenhäusern, die über eine plastische Chirurgie oder eine neurologische Abteilung verfügten. Wahrscheinlich konnte man hoch dosiertes Botox nicht einmal auf dem Schwarzmarkt kaufen. Man musste schon Arzt sein, um an dieses Konzentrat ranzukommen … oder zumindest ein Chiropraktiker wie Kurt. Hogart bekam ein flaues Gefühl im Magen. Das Parkemed wirkte noch immer nicht, seine Kopfschmerzen pochten lauter denn je.

Als er die Unterlagen zusammenschob, stieß er auf die Telekomliste mit Dornauers Gesprächen aus der Mordnacht, die er sich vergeblich über Lisa organisieren wollte. Am Freitagnachmittag hatte Dornauer nur ein einziges Telefonat geführt, und zwar mit Primär Abel Ostrovsky. Hogart war ohnehin klar, dass sich die beiden Ärzte kannten, denn aus welchem Grund hätte Ostrovsky sonst ein Videoband aus Dornauers Klinik besitzen sollen? Doch lohnte es sich, für so ein Video zwei Morde zu begehen? Oder für ein Blatt Papier?

Hogart kramte das Überstellungsprotokoll aus der Hosentasche, das er aus dem Papiercontainer der Reha-Klinik gefischt hatte. Das Dokument stammte vom Mai 1987. Es ging um einen damals noch jungen Burschen, der nach einem Motorradunfall von der Chirurgie des Kaiserin-Elisabeth-Spitals zur Nachbehandlung in die Dornauer-Klinik überwiesen worden war. Ein gewisser Doktor Alfred Faid hatte das Protokoll unterzeichnet. Mehr gab es auf dem Blatt nicht zu lesen. Hogart starrte auf die Unterschrift. Bei dem Namen klingelte etwas in seiner Erinnerung. Eddie Seidl, der junge Archivar aus dem Krankenhaus, hatte ihm etwas über diesen Doktor Faltl erzählt. Angeblich war Faid ein versoffener und hundsmiserabler Unfallchirurg gewesen. Doch immerhin hatte er das Archivierungssystem erfunden, nach dem Seidl heute immer noch ablegte. Die Faltl-Methode, direkt aus der Steinzeit!

Womöglich hatte Faltl damals alle Überstellungsprotokolle unterzeichnet, auch jenes, das aus der Reha-Klinik gestohlen worden war - und plötzlich sah er den Zusammenhang: Sowohl Ostrovsky als auch Dornauer interessierten sich für bestimmte Akten aus dem Jahre 1988. Beide wurden zu Tode gefoltert. Irgendetwas sollte vertuscht werden, und der einzige Hinweis darauf befand sich vermutlich auf der Videokassette, die Hogart nicht mehr besaß. Der alte versoffene Doktor Faid war im Moment der Einzige, der Licht in die Sache bringen konnte. Mit etwas Glück würde Hogart ihn finden, und vielleicht war er sogar nüchtern.

Gruber, Andreas - Peter Hogart 2
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