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Die Sonne versank hinter dem Stephansdom und tauchte die Wiener Innenstadt in ein dunkelviolettes Licht. Lange Schatten fielen über den Platz, der sich zunehmend leerte. Die Passanten eilten hastig in alle Richtungen. Von Osten her zogen Gewitterwolken auf. Der Horizont hatte sich bereits in eine dunkle Masse verwandelt und in einer Stunde würde es ein saftiges Sommergewitter geben.

Hogart saß in seinem Wagen, der in einer Seitengasse des Stephansplatzes parkte. Von hier aus konnte er den Dom sehen, die Fußgängerzone und den Stock-im-Eisen-Platz. Bestimmt war er schon Dutzende Male an dieser Stelle vorbeigelaufen, hatte aber dem alten, von Nägeln durchbohrten Holzstamm keine Beachtung geschenkt. Seit dem Besuch in der Akademie musste er ständig an Madeleine Bohmanns Gemälde denken, dessen dicke Ölkruste sich unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt hatte.

Eigentlich stand er aber aus einem anderen Grund hier, in Wirklichkeit aus zweierlei Gründen. Zunächst einmal hatte er die Bedeutung der Zahlen 05 herausgefunden. Die Lösung war nicht schwer zu finden gewesen, wenn man ein bestimmtes Detail über Abel Ostrovsky wusste: Er war nicht irgendein Mitglied der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft, wie Hogarts Bruder vermutet hatte, sondern ihr Schriftführer gewesen. Und damit hatte er die gleiche Funktion wie der Wiener Stadtrat Heinz Nittel in den Siebzigerjahren. Es gab eine weitere Gemeinsamkeit: Nittel war am 1. Mai 1981 von Terroristen der Abu-Nidal-Gruppe vor seinem Wohnhaus in Hietzing mit mehreren gezielten Schüssen auf offener Straße ermordet worden, als er in sein Auto steigen wollte. Neben Nittels Leiche hatten die Attentäter mit seinem Blut die Zahlen 05 auf die Pflastersteine des Bürgersteigs geschrieben.

Die Spur der Chiffre 05 reichte bis ins Jahr 1944 zurück. Damals hatten die österreichischen Katholiken, Sozialisten und Kommunisten beschlossen, dem Nationalsozialismus vereinten Widerstand zu leisten, und die Gruppe 05 gegründet. Allerdings war die Null als Buchstabe O zu lesen, und die 5 stand für den fünften Buchstaben des Alphabets, das E. 05 bedeutete nichts anderes als OE, was für Österreich stand. In den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs war dieses Symbol oft an die Fassade des Stephansdoms gepinselt und nach dem Krieg zum Gedenken ins Mauerwerk graviert worden, wo es auch heute noch sichtbar ist.

So viel zur Geschichte. Doch was hatte diese Chiffre mit den Morden an den beiden Schriftführern der jüdischen Kultusgemeinde zu tun? Hogart hatte keine Ahnung, ob es die Gruppe 05 noch gab. Falls ja - war es eine Warnung jener Gruppe oder eine Warnung an die Gruppe? Beim Nittelmord war es etwas anderes gewesen - dort lag die Verbindung zur Politik offen auf der Hand. Doch im Fall Ostrovsky glaubte Hogart an keinen politisch motivierten Mord. Dazu führten die Spuren zu sehr in die medizinische Richtung: Ostrovsky hatte das Video einer Patientin vor seinem Mörder versteckt, und im Krankenhaus waren Unterlagen aus dem Jahr 1988 gestohlen worden; offensichtlich jene Daten, für die sich Ostrovsky interessiert hatte.

Seit Stunden fragte sich Hogart, was 1988 passiert war. Es musste etwas mit Linda Bohmann zu tun haben. Allerdings machte ihn die Tatsache stutzig, dass die Videokassette nicht aus jener Zeit stammte. Sie war höchstens zehn Jahre alt.

Der Wind fegte durch die Gasse und rüttelte am Wagen. Kurz darauf fielen die ersten Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Hogarts Handy begann im Lautlos-Modus zu vibrieren. Er sah nur flüchtig auf das Display. Wieder die gleiche Nummer - und wieder verweigerte er das Gespräch. Hogart stieg aus dem Auto und ging zu Fuß zum Michaeierkeller, der nur fünf Gehminuten von seinem Parkplatz entfernt lag.

Passend zum tiefen Gewölbe der Gruft trug er feste Schuhe und einen Rollkragenpullover unter dem Sakko. Möglich, dass Tatjana sein Aussehen wieder als echt ätzend bezeichnet hätte, doch er wusste, wie kalt es in den Katakomben unter der Michaeierkirche war. Dieses Gebäude, dem Erzengel Michael geweiht, war eine der ältesten Kirchen Wiens und wurde seit den Zwanzigerjahren vom Orden der Salvatorianer betreut. Das Besondere an dieser Gruft waren die in ihr beherbergten Leichen, die wegen der klimatischen Eigenschaften nicht verwesten, sondern mittlerweile mumifiziert waren. Hin und wieder fanden Führungen durch die zahlreichen Katakomben statt und Hogart konnte sich noch lebhaft an seine Schulzeit erinnern, als er zum ersten Mal vor der Mumie eines Adeligen in einem ummauerten Sarg aus dem sechzehnten Jahrhundert gestanden hatte. Angeblich lagen in den Familiengräbern mehr als viertausend Menschen begraben, da sich die Katakomben nicht nur unmittelbar unter der Kirche ausbreiteten, sondern teilweise sogar darüber hinaus. Wie weit die Gewölbe unter die Stadt reichten, wusste wohl niemand so genau.

Der Haupteingang der Kirche befand sich auf dem Michaelerplatz, doch der Eingang zur Gruft lag an der Rückseite des Gebäudes, in der Habsburgergasse. Am Beginn der schmalen Gasse flatterte ein zur Hälfte abgerissenes Plakat an der Hausmauer: Der Schwarze Tod in Wien. Der nicht gerade einladende Aushang passte zu dieser unansehnlichen Gasse. Die mehrstöckigen Häuser pressten sich wie graue Pinselstriche aneinander und berührten mit den Giebeln beinahe die gegenüberliegenden Dächer. Fehlte nur noch das Wasser, dann hätte diese Gegend ebenso gut in Venedig liegen können. Der Eingang zur Gruft war genauso schlicht wie die umliegenden Gebäude: brüchiges Mauerwerk und eine pechschwarze Holztür mit Eisenbeschlägen. Bloß am Schaukasten und den fehlenden Namensschildern war zu erkennen, dass es sich um kein Wohnhaus handelte.

Unmittelbar vor dem Kellerabgang lehnte ein Werbeständer an der Mauer, der den Titel der Ausstellung trug, nur dass diesmal eine hässliche schwarze Fratze das Plakat zierte. Auch hier wurde mit keinem Wort Madeleine Bohmanns Name erwähnt, was nicht gerade der hohen Kunst der Werbung entsprach. Offensichtlich legte sie keinen Wert auf Bekanntheit oder hohe Besucherzahlen.

Als Hogart den Toreingang betreten wollte, kam eine Gestalt aus der Dunkelheit hervor.

»Hi.«

»Was zum Teufel machst du hier?«, entfuhr es Hogart.

Tatjana hatte sich mit schwarzem Lidschatten und mächtig viel Gel im Haar für die makabere Gemäldeausstellung zurechtgemacht.

»Sei froh, dass ich da bin. Du hast nämlich keine Ahnung von Kunst.«

»Ich habe letztes Jahr in Prag den Diebstahl von dreizehn Ölbildern aufgedeckt.« Noch während er sprach, wurde ihm klar, dass es keinen Grund gab, sich vor seiner siebzehnjährigen Nichte zu rechtfertigen.

»Erstens waren es keine Bilder, sondern Gemälde, was wiederum bestätigt, dass du keine Ahnung von Kunst hast«, korrigierte sie ihn, »und zweitens hattest du damals ebenfalls Unterstützung von einer Frau. Das hast du mir selbst erzählt.«

»Ivona Markovic ist Privatdetektivin, sie trainiert Judo und besitzt eine Walther PPK«, zischte Hogart.

»Das brauchen wir alles nicht. Wir werden diesen Fall mit Köpfchen lösen.« Tatjana wandte sich um und marschierte vor Hogart die Kellertreppe hinunter.

Hogart folgte ihr. Bereits nach wenigen Schritten wurde es kühl. Das Deckengewölbe glänzte ebenso feucht wie die Wände. Dieser Ort war bestimmt keine passende Umgebung, um wertvolle Ölgemälde auszustellen. Doch offensichtlich schien Madeleine Bohmann der zum Thema passende Rahmen wichtiger als die Sicherheit ihrer Exponate.

Am Ende der Treppe hing ein Banner von der Decke herab, worauf der Titel der Ausstellung noch einmal in gotischen Lettern zu lesen war.

 

Der Schwarze Tod in Wien

eine Schau über Pest und Cholera

- eine Sonderausstellung der Galerie Grimbaldi -

 

In einer Art Weihwasserkessel in der Mauernische lagen Visitenkarten der Künstlerin. Hogart zog eine heraus und betrachtete sie im Schein der nackten Glühlampen, die entlang einer blanken Stromleitung von der Decke hingen.

 

Madeleine Bohmann

Malerin, Künstlerin, Aktionistin

Engelsmühle 1

Kahlenberg

A-1090 Wien Döbling

 

Die Adresse war ungewöhnlich. Schließlich hatte Priola erwähnt, dass Madeleine einsam und zurückgezogen lebte. Interessant war allerdings, dass ihr Wohnort am Kahlenberg in der Nähe von Abel Ostrovskys Villa lag.

Hogart steckte die Karte ein und sah sich um. Niemand war hier, um die Gäste zu begrüßen, niemand verlangte ein Eintrittsgeld von ihm, und soviel er im düsteren Licht erkannte, gab es weder Sekt noch Brötchen. Es schien, als wurde alles Menschenmögliche unternommen, um bloß keine Besucher anzulocken. Dennoch trieben sich erstaunlich viele Personen herum - Verrückte, um genauer zu sein. Die meisten von ihnen um die vierzig, und damit in Madeleines Alter. Bis auf wenige Ausnahmen sah er nur Frauen. Sie trugen schwarze Kleider, silberne Ketten, jede Menge Ringe an den Fingern und hatten teilweise Lidschatten, dunkles Wangenrouge und schwarzen Lippenstift aufgetragen. Von Madeleine fehlte jede Spur. Unter diesen Gästen fiel Hogart auf wie ein Schaf im Wolfsrudel. Doch immerhin passte Tatjana in die Szene, und falls ihn jemand auf sein konservatives Aussehen ansprechen sollte, konnte er sich immerhin damit rausreden, dass er seine Tochter begleitete.

»Komische Typen«, flüsterte Tatjana an seiner Seite.

Hogart sah sie überrascht an. »Das sagst ausgerechnet du?«

»Die sind doch alle schon über vierzig.«

»Ach so, klar.«

Während sich Tatjana abwandte und an den Gemälden der linken Gewölbeseite entlangschritt, mischte sich Hogart auf der anderen Seite unter die Besucher. Linda Bohmann hatte nicht übertrieben. Die Werke ihrer Schwester waren nicht nur enorm groß, sondern steckten noch dazu in wuchtigen Rahmen. Einige davon reichten von der Hüfthöhe bis zur Decke, womit sie etwas über zweieinhalb Meter hoch waren. Die dunklen Farben vermittelten einen ähnlich düsteren Eindruck wie das Gemälde vom Stock im Eisen aus Lindas Büro. Ebenso waren diese Motive hier auf das Wesentliche konzentriert und wirkten dadurch noch eine Spur morbider. Die dick auf die Leinwand gespachtelte Olschicht glänzte im Licht und warf mitunter kleine spitze Schatten, sodass Hogart den Eindruck gewann, dass sich das Motiv in den Gemälden bewegte, sobald er daran vorbeiging.

Nach dem elften Bild hatte Hogart genug gesehen. Der Streifzug durch einen der abscheulichsten Abschnitte der Wiener Historie war wirklich gelungen, sofern es Madeleines Ziel war, ihre Besucher zu schockieren und ihnen den Appetit zu verderben. Interessanterweise war an keinem der Werke ein Kaufpreis ausgeschildert. Entweder war es in dieser Szene nicht üblich, Gemälde auszupreisen, oder Madeleine lag nichts daran, sie zu verkaufen. Er wusste auch nicht, wer eine solch lieblose Darstellung ohne viel Schnörkel, Details und Beiwerk kaufen sollte. In einem Schlafoder Wohnzimmer machten sich diese Gemälde jedenfalls nicht besonders gut.

Die Bilder auf der gegenüberliegenden Seite des Gewölbes überblickte er nur von der Distanz aus. Erst jetzt bemerkte er, dass die Titel der Exponate in Tafeln über den Rahmen hingen. Im Hintergrund des Gemäldes Die Infizierten erschien Wien als ein einziges großes Lazarett, wobei sämtliche Häuser als Zeichen der Erkrankung mit weißen Kreuzen gekennzeichnet waren. Im Bild daneben stand Der Totengräber als hagere, bleiche Figur mit schwarzem Zylinder neben seinem Fuhrwerk. Die verkrümmte Gestalt erinnerte an den Gevatter Tod, bloß dass er statt einer Sense eine Schaufel in der Hand hielt. Im nächsten Gemälde wurde ein Junge mit Kappe, schmutzigem Gesicht und einer Laterne in der Hand an einem Seil in Das Massengrab hinuntergelassen, um in der Choleragrube nach Lebenden Ausschau zu halten. In Die Pestsäule sah man den mächtigen Kaiser in kniender Haltung demütig zum Gebet gebeugt, um das Ende der Seuche für sein Reich zu erflehen.

Zu guter Letzt fuhren die Siechknechte in den Pestgruben außerhalb der Stadt mit ihren Karren vor die Stadttore, um die schrecklich entstellten Toten abzuladen. Dort wurden die aufgequollenen Leiber regelrecht mit Kalk zugeschüttet. Es sah aus, als trieben die Leichen in einem weißen Meer. Ohne es zu wollen, starrte Hogart länger als nötig auf das Bild. Obwohl die Darstellung auf jegliches Detail verzichtete, bildete er sich ein, das furchtbare Wagengerassel und Peitschenknallen des Kutschers zu hören. Das Surren seines Handys riss ihn aus der Erstarrung.

Mittlerweile war es der fünfte oder sechste Versuch, ihn zu erreichen. Immer wieder eine ähnliche Nummer: einmal Garek, dann Eichinger und jetzt das Büro des Morddezernats. Eddie Seidl hatte der Kripo sicherlich den Mann beschrieben, der sich im Archiv des Kaiserin-Elisabeth-Spitals als Ermittler ausgegeben hatte, und nun versuchte man, ihn zu erreichen. Auf dieses Gespräch konnte er gern verzichten. Solange er keine plausible Erklärung für sein Verhalten hatte und nicht wusste, was es mit der Kassette auf sich hatte, die Ostrovsky ausgerechnet seinem Bruder zukommen lassen wollte, blieb er besser unsichtbar. Er schaltete das Handy endgültig ab.

Irgendwie musste er an diesem Abend mehr über Linda Bohmann herausfinden und vor allem ihre Beziehung zu Ostrovsky klären. Doch Madeleine Bohmann war noch nicht aufgetaucht, und das, obwohl das Gewölbe sich von Minute zu Minute mehr mit Menschen füllte. Als wäre die Ausstellung ein geheimer Treffpunkt, strömten ständig neue Gäste die Treppe herunter. Viele schienen sich zu kennen, da um Hogart herum zahlreiche verhaltene Gespräche geführt wurden.

Plötzlich tauchte Tatjana an seiner Seite auf. Hastig zupfte sie an seinem Sakko. »Dort!«, wisperte sie.

Aus einem Torbogen, hinter dem eine Treppe in ein tiefes Kellergeschoss führte, trat eine hochgewachsene Frau mit breiten Schultern und verdammt langen Beinen.

Gruber, Andreas - Peter Hogart 2
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