24

 

Hogart lenkte seinen Wagen über die Höhenstraße auf den Kahlenberg. Garek und der Spurensicherer folgten ihm im weinroten Opel. Während eine Kassette von Muddy Waters im Autoradio lief, telefonierte Hogart mit dem Wilhelminenspital, in dem Elisabeth Domenik lag. Ihr Zustand hatte sich seit gestern nicht gebessert. Sie litt immer noch an den Folgen der Gehirnerschütterung und wurde soeben mit einem Liegegips von der Unfallchirurgie zum Röntgen gebracht. Der diensthabende Arzt wollte Hogart nicht mit ihr sprechen lassen. Daraufhin bestellte Hogart in seiner Blumenhandlung einen weiteren Strauß, den er wiederum mit einer Karte in die Klinik auf Domeniks Zimmer bringen ließ. Vertrauen Sie mir - ich bringe den Fall zu Ende. Sein schlechtes Gewissen ließ sich zwar mit einem Dutzend Rosen nicht wegzaubern, aber im Moment fand er keine Zeit, ihr einen Besuch abzustatten.

Als Nächstes telefonierte er mit dem chemischen Labor in der Rosensteingasse, in das Domenik die Brandspuren aus dem Archiv der Krankenkasse gebracht hatte. Er ließ sich zu Albert verbinden, der angeblich der Beste seines Jahrgangs war, wie Domenik behauptet hatte. Wie immer gab es Anfangsschwierigkeiten. Erst als Hogart ihm erklärte, dass er ein Bekannter Domeniks sei und für Kohlschmied von Medeen & Lloyd arbeitete, war der Chemiker bereit, ihm am Telefon zu erzählen, was er herausgefunden hatte. Zunächst verstand Hogart kein Wort von der Fachsimpelei über Oktanzahlen und Prozent-Volumensanteile. Für ihn wurde es erst interessant, als der Bursche erwähnte, dass der erhitzte Kunststoff nicht nur das geschmolzene Glas überzogen, sondern sich mit dem Glas vermengt hatte, ehe es erstarrt war. Sowohl im Kunststoff als auch in den Bruchstücken der Fensterscheibe befanden sich Benzinspuren. Super Plus, bleifrei, mit einundzwanzig Prozent Alkene, der Rest interessierte Hogart nicht. Außerdem war der Chemiker heute Morgen im Archiv gewesen, um sich die Stelle anzusehen, die Domenik ihm beschrieben hatte. Er vermutete, dass es sich wegen der enormen Plastikmenge um zwei Benzinkanister mit je zwanzig Liter Inhalt gehandelt haben musste: schwarze Behälter mit grünem Drehverschluss und einem grünen abmontierbaren Auslaufrohr. Aufgrund des hohen Ascheanteils hatte wahrscheinlich auf jedem der Kanister ein großes Papieretikett geklebt. Eine Marke konnte er nicht nennen. Es würde Dutzende geben, die infrage kämen, und Hogart solle ihm nicht länger auf die Nerven gehen. Im Moment reichte Hogart diese Antwort. Er steckte das Handy in die Brusttasche.

Als Hogart den Umkehrplatz der Autobusse passierte, bemerkte er, wie sehr sich der Horizont verdunkelte. Die Wolken bedeckten mittlerweile den gesamten westlichen Himmel. Heute Abend würde es noch ein grässliches Gewitter über der Stadt geben - wie damals, als er mit Madeleine in der Engelsmühle gewesen war.

An jener unscheinbaren Stelle zwischen den Föhren bogen sie in den Waldweg ab. Das schmiedeeiserne Tor stand offen. Die Jungs von der Cobra hatten es bestimmt mit Schweißbrennern geöffnet. Garek folgte Hogarts Wagen, bis sie die Bergkuppe erreichten. Sie parkten die Autos vor dem Brunnen. Bevor Hogart ausstieg, legte er sich das Schulterholster um und steckte die Glock ins Leder. Sicher war sicher.

Krajnik von der Spurensicherung war der lange Kerl mit Wuschelkopf und John-Lennon-Brille, den Hogart bereits vor Faltls Wohnung gesehen hatte. Er sah tatsächlich noch ziemlich verschlafen aus. Er und Garek trugen jeweils zwei große Koffer, in denen sich Krajniks Werkzeug befand. Hogart führte sie am Brunnen und dem Vorratskeller vorbei zum Holzschuppen. Dort gab er ihnen den Schlüsselbund vom Brett oberhalb des Türpfostens.

»Ich habe mit Margaret Braunstorfers Kanzlei am Landesgericht telefoniert und deinen Termin wegen dringender Ermittlungen verschoben.« Garek ließ die Schlüssel in der Hosentasche verschwinden. »Das war’s, wir finden den Weg allein zurück.«

»Ich warte so lange hier.«

»Wozu? Das kann Stunden dauern.«

Hogart nickte zur Mühle. »Falls ihr da drin Hinweise findet, die mit dem Brand in der Gebietskrankenkasse zu tun haben, möchte ich das wissen.«

»Alter, du gibst wohl nie auf, oder? Das war keine Brandstiftung«, murrte Garek.

»Ja, ja, denk an mich, falls euch etwas Merkwürdiges unterkommt.«

Während Garek und Krajnik zum Eingang der Mühle marschierten, blickte sich Hogart auf der Bergkuppe um. Bei Tageslicht sah die Umgebung nicht so gespenstisch aus wie in der Nacht. Erst jetzt bemerkte er, dass Madeleine nicht bloß eine, sondern mehrere Marderfallen aufgestellt hatte. Auf Anhieb zählte er sieben Holzkäfige. Bei jedem stand die Klappe offen. Die Stahlfedern waren gespannt, und auf den Wippen lagen mit Kot beschmierte Hühnereier, die sich Madeleine vermutlich von einem Bauernhof besorgt hatte. Wenn hier derart viele Fallen herumstanden, musste es im Wald nur so von Mardern wimmeln. Er hasste diese Viecher, und am liebsten würde er jenen Kerl fangen, der in der Schlucht auf dem Dach des Mercedes herumgehüpft war, während er selbst unter dem Auto gelegen hatte.

Einige Minuten, nachdem die beiden Ermittler in der Mühle verschwunden waren, ging im ersten Stock das Licht an. In den Räumen würden sie wohl längere Zeit beschäftigt sein.

Hogart ging zur Mühle und betrat das Atelier. Die massiven Steinmauern konservierten die Kälte, sodass ihn fröstelte. Es roch nach Ölfarben und den Petroleumlampen, die an den Deckenbalken hingen. Automatisch steuerte er den Tisch an, auf dem die Mappe mit Tod Brownings und Albert Gaugins Briefverkehr lag. Die Schreiben Gaugins, jenes Arztes und Wissenschaftlers aus dem Wiener Narrenturm, interessierten ihn nicht … aber die Briefe Brownings! Hogart konnte es immer noch nicht fassen, dass hier Schriftstücke mit Gedanken, Ideen und Vorschlägen zu Brownings Film Freaks lagen, die knapp achtzig Jahre alt waren. Seine Hände zitterten, als er das pergamentähnliche Papier anfasste und über die Tinte strich. Brownings Unterschrift war so kräftig und schwungvoll. Was würde er dafür geben, dieses Dokument zu besitzen - eingerahmt an der Wand, unmittelbar neben dem Brief von Gustav Meyrink, den er letztes Jahr aus Prag mitgenommen hatte.

Als er Gareks Stimme im oberen Stockwerk hörte, schlug er die Mappe rasch zu und legte sie in eine Blechschatulle, die er unter einem Stapel Zeitschriften fand. Sein Herzschlag beschleunigte. Er hielt inne und lauschte. Auf der Treppe blieb es still.

Ohne etwas anderes zu berühren, ging Hogart durch den mit Staffeleien vollgestellten Raum und betrachtete Madeleines Gemälde. Der Narrenturm-Zyklus! Zusammengekrümmte Föten, missgestaltete Babykörper, vernarbte Gesichter, amputierte Gliedmaßen, Nähte und offene Wunden. Dem Geist eines wahnsinnigen Arztes entsprungen und von einer noch verrückteren Malerin in grässlichen Rot- und Orangetönen auf Leinwand gebannt.

Unwillkürlich erinnerte sich Hogart an die Fotos von Ostrovskys und Dornauers Leichen, die ihm Gomez in die Wohnung gebracht hatte. Den zu Tode gefolterten Faltl hatte er mit eigenen Augen in dessen Badewanne gesehen. Im Licht von Madeleines Wahnsinn ergaben die Morde einen neuen Sinn. Drei bizarre Gemäldezyklen und drei bizarre Morde.

Ostrovskys malträtierter, zerschnittener und zu einer Fötusstellung auf den Stuhl gefesselter Körper erinnerte an die Motive aus dem Narrenturm-Zyklus. Man hätte die Fotos der Kripo und des Gerichtsmediziners direkt neben die Gemälde halten können - als hätte Ostrovskys Körper Modell für diese Bilder gestanden.

Dornauers nackter, vom Schwefelwasser aufgedunsener Körper, der kopfüber in der Zinkwanne seiner Reha-Klinik getrieben hatte, erinnerte an die Pestgruben außerhalb der Stadt, jenes Werk, das Hogart selbst in der Ausstellung im Michaelerkeller gesehen hatte. Zuletzt glich der an den Armen in seiner eigenen Badewanne aufgehängte Faltl mit Dutzenden Nägeln im Körper wie ein zu Fleisch gewordener Stock im Eisen … einem Mann auf jenem Gemälde, das in Lindas Büro in der Akademie hing. Sie selbst hatte ihm erklärt, dass es aus jener Zeit stamme, als Madeleine einen Bilderzyklus über die Wiener Legenden gemalt hatte. Ostrovsky, Dornauer, Faltl … entsprechend der Todeszeit, die Bartoldi festgestellt hatte, war das die Reihenfolge der Morde in jener Nacht von Freitag auf Samstag. Je weiter die Taten voranschritten, desto mehr ließ sich Madeleine von ihren älteren Zyklen inspirieren, als reise sie gedanklich in ihre Vergangenheit. Würde es je zu einem vierten Mord kommen, orientierte sie sich möglicherweise an dem Motiv aus einem ihrer Frühwerke.

Natürlich würde kein Richter der Welt auch nur eine Sekunde verschwenden, um Hogarts Gedankengängen zu folgen, aber die Verbindung war zu auffällig, als dass es sich dabei um reinen Zufall handeln konnte. Ziemlich sicher hatten Madeleines Morde Methode, denn einen gewissen Sinn für Symbolik besaß sie … andernfalls hätte sie die Schere, mit der sie ihre Schwester vor knapp zwanzig Jahren verstümmelt hatte, kaum bis zum heutigen Tag aufbewahrt, um damit neue Opfer zu malträtieren. Diesmal Menschen, die ihrer Schwester nahestanden. Wieder kam ihm Gareks Idee in den Sinn, die beiden Frauen könnten unter einer Decke stecken. Doch Garek irrte sich, die beiden lebten in zwei gänzlich unterschiedlichen Welten.

Hogart brauchte plötzlich frische Luft. Die morbide Atmosphäre trieb ihn noch in den Wahnsinn. Er stürzte ins Freie und inhalierte die kühle Waldluft. Als er die Erde und die Föhrennadeln roch, entspannte er sich wieder. In weiter Ferne grollte ein leiser Donner. Das Gewitter rückte näher.

Während er zur Rückseite der Mühle ging, dachte er über alles nach. Dabei durchsuchte er seine Manteltaschen, erinnerte sich jedoch wieder, dass er alle Zigaretten weggeworfen hatte. Hinter dem Gemäuer lag tatsächlich das ausgetrocknete Bachbett, das Madeleine ihm beschrieben hatte. Äste und Nadeln knirschten unter seinen Schuhen. Aus dem Wald drang der Ruf eines Käuzchens. Ihm fiel die Sage vom Müllers ein, der seine Frau angeblich in den Brunnen gestoßen hatte, worauf die Quelle versiegt war. Nichts weiter als eine alte Sage. Trotzdem war Madeleine davon besessen, ebenso von der Geschichte der Engelmacherin, die in der Mühle gelebt und Tausende Babys abgetrieben hatte. Eine ziemlich inspirierende Gegend für eine durchgeknallte Künstlerin.

Hogart lief das Bachbett entlang, um die Mühle herum, bis er wieder zum Brunnen kam. Die Steine ragten hüfthoch aus dem Erdreich. Zu beiden Seiten waren die Vertiefungen zu erkennen, in denen früher wohl das Holzgerüst mit Kurbel und Seilwinde gesteckt hatte, um einen Eimer in den Brunnen hinunterzulassen. Die Tiefe war unmöglich zu schätzen. Ein fauler Modergestank drang von unten herauf. An der Innenseite ragten einzementierte Eisensprossen aus dem Gestein. Die vierte Sprosse war nur noch vage zu erkennen, danach versank der Schacht in Dunkelheit. Es wäre das ideale Versteck, um Beweismittel verschwinden zu lassen - und in diesen Brunnen würden Garek oder Krajnik garantiert nicht steigen. Hogart legte Mantel und Sakko über die Steinbrüstung und nahm das Schulterholster ab. Dann schwang er sich über den Rand. Natürlich war es Wahnsinn, mit den neuen Lackschuhen, dem Hemd und der Anzughose, die er heute Morgen wegen seines Friedhofbesuchs angezogen hatte, in dieses Dreckloch zu klettern. Aber pfeif drauf! In seinem Schrank hingen noch andere Anzüge.

Statt der ersten Sprosse ragten nur zwei stumpfe Eisenstangen aus der Mauer. Bloß nicht daran aufspießen. Als er sein Gewicht auf die zweite Sprosse verlagerte, brach die Stange mit einem knirschenden Geräusch aus dem Stein. Hogart rutschte ab. Rasch klammerte er sich am Rand fest. Er schürfte sich die Handflächen auf und zerriss sich das Hemd am Ellenbogen. Keuchend zog er sich hoch und schob sich über den Rand. Was für eine blödsinnige Idee, in diesen jahrhundertealten Brunnen zu steigen.

Andererseits ließ ihn der Gedanke nicht los, das Ende des Schachts zu erforschen. Sollten Garek und der Spurensicherer doch das Haus auf den Kopf stellen. Madeleine war bestimmt nicht so leichtsinnig, belastende Beweise auf dem Nachttisch liegen zu lassen. Falls sie etwas verschwinden ließ, dann bestimmt in diesem Schacht.

Hogart marschierte zum Holzschuppen. Darin befanden sich nur alte, mit Spinnweben überzogene Fahrräder, weitere Marderfallen, Ölfässer und rostige Werkzeugkästen. An der Wand hing eine dreiteilige Holzleiter, die sich verlängern ließ, wenn man die Teile ineinandersteckte. Hogart hob die Leiter aus dem Schuppen und ließ die Haken auf der jeweils obersten Sprosse einrasten. Damit war sie nahezu drei Meter lang. Zwar sahen die Holzsprossen nicht gerade vertrauenerweckend aus, doch immer noch besser als die porösen Metallhaken, an denen er sich fast aufgeschlitzt hatte.

Hogart zerrte die Leiter zum Brunnen, wuchtete sie über die Mauer und ließ sie in die Tiefe sausen. Im nächsten Augenblick verschwand sie in der Dunkelheit. Dumpf prallte sie auf.

»Leck mich!«, entfuhr es ihm. Zumindest befand sich kein Wasser, sondern fester Boden auf dem Grund des Brunnens.

Wenn er sich über die Brüstung beugte und in die Finsternis starrte, erkannte er gerade noch die oberste Holzsprosse.

Ohne lange zu überlegen, ging Hogart zurück ins Atelier, um eine Petroleumlampe zu holen. Im Behälter befand sich genug Brennstoff, sodass die Lampe eine gute Stunde brennen würde. Auf dem Rückweg blieb er beim Schuppen stehen, den er noch einmal nach einem brauchbaren Werkzeug durchstöberte. Allerdings befand sich nicht einmal eine Kelle in der Hütte, mit der er den Grund des Schachts hätte aufgraben können. Sicherheitshalber warf er einen Blick in den Vorratskeller, der neben dem Schuppen in den Berghang führte. Aus dem Kohlenkeller drang ein fürchterlicher Gestank nach feuchtem, schimmeligem Gemüse. In den Holzsteigen faulten Kartoffeln, Zwiebeln, Radieschen und Knoblauchzehen vor sich hin. Meterlang war das Gemüse von einem grünen Pilz überzogen. Diese Lebensmittel hatte bestimmt noch Ernest Bohmann persönlich hier verstaut. Hogart würgte. Als er noch dazu die fetten Spinnen sah, die über die Decke krabbelten und sich hinter den Holzsteigen im Schatten verkrochen, lief ihm eine Gänsehaut über Arme und Nacken. Schon wollte er den Vorratskeller wieder schließen, da stieß er mit dem Fuß gegen den Türpfosten, und der Griff eines Spatens fiel ihm in die Hände.

Mit dem Werkzeug marschierte er zum Brunnen, entzündete die Petroleumlampe und hing sie an den vorstehenden Eisenstift der ersten Sprosse. Das Licht reichte aus, um die ersten zwei Meter der Leiter zu erkennen. Hatten sich seine Augen erst an die Dunkelheit gewöhnt, würde er noch mehr sehen. Hauptsache, auf dem Grund des Brunnens gab es keine Spinnen.

Mit dem Spaten in der Hand kletterte er über die Mauer, tastete sich bis zum Beginn der Leiter und stieg Sprosse für Sprosse in die Tiefe.

Unten angekommen roch der faulige Schlamm am intensivsten. Doch in wenigen Minuten würde er sich an den Gestank gewöhnt haben.

Hogart stützte sich auf den Griff des Spatens und versuchte, durch die Nase zu atmen, was ihm aber nicht gelang. Sein Keuchen klang merkwürdig hier unten, als würde nicht er, sondern der Schacht ihn atmen, so sehr hallte das Echo von den Steinwänden wider. Allein der Blick nach oben konnte schon für Platzangst und eine Panikattacke sorgen. Von hier unten sah die Brunnenöffnung etwas größer als eine Radkappe aus. Darüber lag der bewölkte Himmel. Vom letzten Regen war der Boden noch aufgeweicht. Dorniges Wurzelwerk überzog den Grund und wucherte an den Steinwänden empor. Die Brüder Grimm hätten ihre wahre Freude an diesem Anblick gehabt.

Unten maß der Brunnen etwa zwei Meter im Durchmesser. Platz genug, um den Boden ein wenig aufzugraben und mit dem Spaten in der Erde zu wühlen. Hogart krempelte sich die Hemdsärmel auf und trieb das Schaufelblatt in die Erde. Schon nach wenigen Minuten lief ihm der Schweiß über den Rücken, und das Hemd klebte ihm nass auf der Haut. Irgendwann wischte er sich den Schweiß von den Augenbrauen, danach haftete die Erde auch noch in seinem Gesicht. Nach etwa einer Viertelstunde gab er auf. Er hatte nicht das Geringste gefunden. Als einziges Resultat blieb: Er sah dreckiger aus als nach seinem Abstieg in die Schlucht zum Wagen der Bohmanns - und mittlerweile versank er mit seinen Lackschuhen immer tiefer im Schlamm. Madeleine hatte rein gar nichts hier unten versteckt. Eigentlich hätte er sich das denken können, nachdem er keine fremden Spuren im Wurzelwerk entdeckt hatte.

Kaum hatte er den Fuß auf die Leiter gesetzt, um nach oben zu steigen, läutete sein Handy in der Brusttasche. Der Klingelton hallte unheimlich an den Wänden wider. Was für ein bedrückender Klang. Bestimmt war es Garek, der sich wunderte, wo er steckte.

Hogart meldete sich, ohne zuvor aufs Display zu sehen.

»Hallo, Herr Hogart. Wir haben noch nichts von Ihnen gehört.« Eine widerliche Stimme mit einem süffisanten Unterton. Kohlschmied. Der kleine schmierige Außendienstleiter von Medeen & Lloyd hatte wieder mal seine Fühler ausgestreckt, um ausgerechnet dann anzurufen, als es am unpassendsten war. Andererseits wäre sein Anruf innerhalb der letzten Tage zu jedem Zeitpunkt unpassend gewesen.

»Es ist 14.00 Uhr. Wann gedachten Sie, uns anzurufen?«

Schon 14.00 Uhr? Hogart wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn. »Ich habe erst unlängst mit dem Labor telefoniert.«

»Ich weiß«, unterbrach Kohlschmied ihn. »Der Bericht des Chemikers liegt uns mittlerweile vor. Ich finde es interessant, dass Sie sich nicht die Mühe machen, uns anzurufen, um uns über den Stand der Ermittlungen zu informieren. Oder sind Sie anderweitig beschäftigt? Wie ich höre, sitzt Ihr Bruder in Untersuchungshaft, und Sie selbst haben eine Anzeige von der Staatsanwaltschaft am Hals. Ständig schlittern Sie in irgendeinen Schlamassel und verlieren das ursprüngliche Ziel aus den Augen. Was immer Sie im Augenblick treiben, ich bin mir sicher, es hat nichts, rein gar nichts, mit unserem Fall zu tun!«

»Ich ermittle!«, entfuhr es Hogart. Hätte er eine Möglichkeit gehabt, wäre er Kohlschmied in diesem Moment an die Kehle gesprungen. »Ich wate durch einen Morast und wühle im Moment ziemlich viel Schlamm auf.« Im wahrsten Sinn des Wortes. »Geben Sie mir noch ein paar Stunden, dann weiß ich mehr.«

»Hogart …« Kohlschmied seufzte, als stünde er kurz davor, die Nerven zu verlieren. »Sie erinnern sich, was Sie unterschrieben haben?«

Wie konnte er das vergessen? Die Konkurrenzklausel, die ihm der Mistkerl untergejubelt hatte, band ihn für ein halbes Jahr an die Versicherung, falls es ihm nicht gelang, eine Brandstiftung nachzuweisen. Dann musste er die Akontozahlung zurückerstatten und konnte sich sein Honorar in die Haare schmieren.

»Sollten wir diesen Fall nicht bis heute Abend zum Abschluss bringen, droht uns eine Zahlung in Höhe von sieben Millionen Euro. Haben Sie eine Ahnung, wie lange die Kollegen arbeiten müssen, um diese Summe zu verdienen?«

Ja, das konnte er sich ausrechnen. Aber so war die Versicherungsbranche nun mal. »Ich bin auf dem besten Weg, Ihnen eine Brandstiftung zu servieren - ich brauche nur noch etwas mehr …«

»Wie denn? Mit ein paar Glasscherben, einem geschmolzenen Kanister und ein paar Prozent von irgendwelchem bleifreien Spurenelemente-Quatsch? Das beweist noch lange keine Brandstiftung.« Kohlschmied redete sich in Rage. »Glauben Sie, die Rechtsanwälte der Gebietskrankenkasse lassen uns aus dem Versicherungsvertrag, nur weil der Hausmeister im Keller einen Benzinkanister gelagert hat? Die Gasleitung war leck und Bum! Das gesamte untere Stockwerk ist ausgebrannt, sämtliche Großrechner und Computeranlagen nur noch Schutt und Asche, alle Datensicherungen pulverisiert … und Sie kommen mir mit einem geschmolzenen Benzinkanister.« Er knallte einen Büroordner oder etwas Ähnliches auf den Tisch.

Während Kohlschmied weiterzeterte, stieg Hogart auf der Leiter nach oben. Er löschte das Licht der Petroleumlampe, warf den Spaten über den Brunnenrand und kletterte über die Mauer.

»… hören Sie mir überhaupt noch zu?«

»Was? Ja, natürlich«, keuchte Hogart, nachdem er das Handy wieder ans Ohr geführt hatte.

»Wo sind Sie überhaupt? Die Verbindung ist so schlecht.«

»Ich verfolge eine Spur außerhalb der Stadt.«

Mittlerweile überzog eine dunkle Wolkendecke den Himmel. Es sah aus, als hätte die Abenddämmerung bereits eingesetzt. In der Ferne krachte ein Donner. Wind kam auf und rauschte durch den Föhrenwald. Das schweißnasse Hemd klebte Hogart kalt am Körper. Ihn fröstelte. Während er Kohlschmied zuhörte, schlüpfte er umständlich ins Sakko und blickte anschließend an sich hinunter. Er sah aus wie nach einer Partie Schlammcatchen. Er durfte gar nicht daran denken. Schuhe und Anzughose waren total im Eimer. Diese blöde Idee hatte sich in keiner Weise bezahlt gemacht.

»… was immer sie gerade treiben - ich brauche innerhalb der nächsten Stunden handfeste Beweise für eine Brandstiftung, einen Täter, den Tathergang oder das Motiv!«

»Ich bin dran.« Hogart brachte den Spaten zum Gemüsekeller. Als er die Kellertür aufriss, sah er zuerst zur Decke. Wieder einmal flüchteten sich die Spinnen in den hintersten Winkel der Vorratskammer, wo es dunkel und feucht war und die Kartoffeln in den Holzsteigen vor sich hin faulten. Hogart lehnte den Spaten an den Türpfosten. Er kniff die Augen zusammen. Dort hinten lagerten nicht nur Gemüsepaletten, wie er jetzt erkannte, da seine Augen noch an die Dunkelheit gewöhnt waren, sondern noch etwas anderes. Er machte einen Schritt in die Finsternis. An der Rückseite des Kohlenkellers, wo sich Hunderte Briketts neben den Paletten auftürmten, ging die Holzdecke in das Erdreich über. Der Verschlag mündete direkt in den Hügel. Kein Wunder, dass sich hier so viele Tiere verbargen. Doch der Ekel vor den Spinnen war wie weggeblasen, als er ganz hinten, neben den Briketts, einige Benzinkanister entdeckte. »Hogart?«, fragte Kohlschmied.

»Sie stehlen meine Zeit. Ich rufe zurück!« Hogart schaltete das Handy aus. Er ging gebückt nach hinten und schleppte einen Behälter ins Freie. Er war schwer. Ein Zwanzig-Liter-Kanister aus schwarzem Kunststoff, mit grünem Drehverschluss, einem grünen, abnehmbaren Auslaufrohr und einem großen Warnetikett an der Seite. Mein Gott, das war’s! Mit etwas Glück befand sich Benzin der Marke Super Plus in den Kanistern, bleifrei, mit einundzwanzig Prozent Alkene. Jetzt fehlte ihm nur noch das Motiv.

Hogart schob die Tür ganz auf, damit so viel Licht wie möglich in den Keller fiel. Anschließend ging er noch einmal nach hinten, um nach weiteren Spuren zu suchen, die Madeleine belasten könnten. Doch hier lagen bloß eingetrocknete Kotreste. Zusätzlich ging ein beißender Uringestank von der Ecke aus, der bestimmt von einem Marder stammte. Das Biest hatte nicht nur die Kanister angepisst, sondern auf den Deckeln herumgekaut, die Etiketten runtergefetzt und die Kunststoffbehälter angenagt. Außerdem hatte das Tier die Erde aufgebuddelt. Auf dem Boden waren deutlich die Spuren von Marderkrallen zu sehen. Anscheinend hatte sich das Vieh durch den Spalt unter der Holztür durchgezwängt, um am Benzin zu schnüffeln. Ein dreckiger Stofffetzen lag im aufgewühlten Erdreich. Hogart wollte ihn aufheben, um seine Hände abzuwischen, doch der Stoffteil war im Boden vergraben. Er zog daran, worauf die Erdkruste aufbrach. Jemand hatte Stoffreste, möglicherweise sogar Kleider verscharrt. Vielleicht handelte es sich um Madeleines blutbesudelte Kleidung aus der Mordnacht.

Euphorisch stürzte Hogart zum Spaten und trieb ihn in die Erde. Wenn sich auch nur ein Blutstropfen mit Ostrovskys, Dornauers oder Faltls DNS auf diesem Stoff befand, hatten sie Madeleine nicht nur wegen Mordes an ihren Eltern, sondern auch wegen zusätzlichen Dreifachmordes dran. Nachdem er ein wenig gegraben hatte, wusste er, worum es sich handelte. Ein kariertes Baumwollhemd. Die Knöpfe waren noch dran. So gut es in dem niedrigen Keller ging, trieb er den Spaten in die Erde. Als er ein knackendes Geräusch hörte, verharrte er in der Bewegung. Er drehte das Schaufelblatt herum und stemmte sein Gewicht auf den Griff. Das Werkzeug sank mit einem brechenden Geräusch tiefer ein. Sogleich zog er den Spaten heraus, warf ihn weg, fiel auf die Knie und grub mit den Händen weiter. Ein ekelhafter Geruch schlug ihm entgegen. Ihn würgte. Seine Finger steckten in etwas Weichem drin. Auf jeden Fall waren es keine Wurzeln. Eilig schob Hogart die Erde beiseite. Schon bald starrte er auf eine menschliche Hand, die er bis zum Gelenk freigelegt hatte. Das Fleisch war eingedörrt, die Fingerkuppen fehlten. Wie es aussah, lag die Hand auf einem Bauch, in den Hogart den Spaten getrieben hatte. Bei dem Anblick würgte er den Kaffee von heute Morgen herauf. Die Magensäure stieg ihm in den Rachen und lief ihm durch die Nase. Röchelnd kroch er auf allen vieren ins Freie, ließ sich auf den Rücken fallen und schnappte nach frischer Luft.

 

»Dort hinten.« Hogart trat zur Seite.

Garek und Krajnik verschwanden für mehrere Minuten mit ihren Taschenlampen im Gemüsekeller.

Hogart legte den Kopf schief. Wenn er doch nur ein Wort von dem verstehen könnte, was sie flüsterten.

»Der Torso wurde erst kürzlich mit einem stumpfen Gegenstand verstümmelt!«, rief Krajnik plötzlich nach draußen.

Hogart warf einen Blick in die Höhle. »Das war ich!« ‘

»Super, Hog«, antwortete Garek.

Sie hockten wieder flüsternd nebeneinander und legten die Leiche mit einem Handbesen von Erdkrumen frei.

Schließlich kam Garek aus dem Keller, während Krajnik weiterarbeitete. Der Ermittler streckte den Rücken durch, bis die Wirbel knackten. Er war blass, doch Krajnik schien Gefallen an der Arbeit gefunden zu haben. Eine Leiche auszubuddeln war für ihn sicher interessanter, als Schubladen zu durchwühlen oder Glasflächen einzupudern, um nach Fingerabdrücken zu suchen.

Garek streifte sich die Latexhandschuhe ab. »Die sprichwörtliche Leiche im Keller. Ich möchte gar nicht wissen, was du in diesem Loch zu suchen hattest, oder wie du ausgerechnet auf die Idee kamst, dort hinten zu graben.« Er blickte kurz zum Himmel und sog die Luft ein. »Die Leiche ist größtenteils verwest. Fingerkuppen fehlen - und wer das tut, schlägt dem Toten meist auch noch die Zähne aus.« Er verzog das Gesicht und spuckte auf den Boden. »Wird schwierig, die Leiche zu identifizieren. Liegt sicher schon fünf oder sechs Jahre da drin.«

Garek wählte mit dem Handy eine Nummer. Das Gespräch dauerte ein paar Minuten. Soviel Hogart mitbekam, sprach er zunächst mit Eichinger, der sich noch immer in der Pathologie befand, und anschließend mit Bartoldi. Nachdem Garek ihm den Weg zur Engelsmühle beschrieben hatte, beendete er das Gespräch.

»Der Gerichtsmediziner schickt ein Team rauf«, erklärte Garek. »Die Jungs sind höchst erfreut, dass sie noch heute eine zweite Obduktion durchführen dürfen. So viele Leichen wie diese Woche lagen noch nie gleichzeitig auf ihren Tischen.«

»Hat Bartoldi schon etwas rausgefunden?«

Garek hob die Schultern. »Das Übliche. Nach zweieinhalb Jahren gibt es keine Blutreste mehr. Er muss Knochenteile und Knochenmark in Reagenzgläsern ansetzen. In einer Woche gibt’s die toxikologischen Ergebnisse. Dann wissen wir, ob die Bohmanns mit Gift oder Schlafmittel betäubt wurden. Die gute Nachricht: Wegen des Lehmbodens sind noch Teile des Gehirns vorhanden … uhhh!« Garek verzog das Gesicht. »Bartoldi hat Spuren von Alkohol festgestellt. Die beiden waren so voll wie eine Spirituosenhandlung. Außerdem gibt es keine Quetschungen am Rumpf, das heißt, sie waren nicht angeschnallt.«

»Dafür wird Madeleine bestimmt gesorgt haben.«

»Eichinger hat eine Großfahndung nach ihr rausgegeben und lässt mittlerweile sämtliche Personen observieren, die in den letzten Jahren Kontakt zu ihr hatten.«

»Schick einen Beamten zum Narrenturm.«

»Der Narrenturm? Mit all den Föten und Organen in Spiritus?«

Hogart nickte. »Madeleine besucht öfters die Ausstellung, um sich Inspirationen zu holen.«

Garek blähte die Backen. »Das kann ich mir denken.« Er starrte für einen Moment auf den Behälter neben dem Türpfosten. »Was ist das eigenüich für ein Kanister?«

»Der gehört mir. Sorg dafür, dass die anderen Benzinkanister dort hinten sichergestellt werden. Bis später.« Hogart nahm den Behälter und ging zu seinem Wagen.

»Wo willst du hin?«

»Muss noch was erledigen. Danach besuche ich Linda. Sie hat mich zum Kaffee eingeladen.«

»Lass es dir schmecken«, ätzte Garek.

»Ja, ja - vielleicht finde ich einen Hinweis, wo sich Madeleine aufhält.« Immerhin war sie der Schlüssel zu dem Versicherungsfall, und er musste Kohlschmied spätestens heute Abend eine konkrete Spur servieren, damit er aus diesem verdammten Vertrag mit der Konkurrenzklausel herauskam.

»Vergiss deine Gerichtsvorladung nicht! Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«

»Ja, ja«, murrte Hogart.

»Und zu Linda kein Wort über die Leiche!«

»Du hältst mich wohl für bescheuert?«

»In der Tat!« Hogart antwortete nicht. Er wuchtete den Benzinkanister in den Kofferraum.

»Übrigens könnte dich das interessieren.« Garek schlenderte zu Hogarts Wagen. »Wir haben verbrannte Stoff- und Plastikreste im offenen Kamin der Mühle gefunden.«

»Von einem Duschvorhang, der als Unterlage für den Ostrovsky-Mord verwendet wurde?«, vermutete Hogart.

»Beispielsweise …« Garek nickte. »Aber nicht nur das. In der Asche lag unter anderem ein verkohltes Videoband.«

Hogart hob die Augenbrauen. »Eine 8-mm-Kassette von einem Camcorder?«

»Könnte hinkommen.«

Da war es also, das Sony-Videoband mit der Nummer 348. »Es gehörte meinem Bruder«, sagte er. »Damit begann die ganze Scheiße.«

Gruber, Andreas - Peter Hogart 2
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