20
Eine der Rolltreppen reichte tiefer in den Bauch des Westbahnhofs als alle anderen. Sie führte in einen entlegenen Trakt, wo die Deckenbeleuchtung nur noch sporadisch flackerte und die Reklamationsstelle für verloren gegangene Gepäckstücke lag. Dort befanden sich auch die Langzeitschließfächer. Hier waren sie richtig. Der Schlüssel aus Faltls Wohnung glich jenen, die in den offenen Türen steckten.
Der Spind mit der Nummer 816 lag am Ende des Korridors. Das Fach wäre noch achtundzwanzig Tage lang verschlossen geblieben, danach hätte sich das Zeitschloss automatisch geöffnet und die Blechtür wäre aufgesprungen.
Hogart sperrte die Tür auf. Darin befand sich lediglich ein Schnellhefter aus Pappkarton, prall gefüllt mit Dokumenten, die von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Hogart klemmte sich die Mappe unter den Arm und schloss die Tür wieder. Allerdings ließ er den Schlüssel stecken. Ohne ein Wort zu verlieren, verließen Tatjana und er den Westbahnhof und überquerten den Mariahilfer Gürtel. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag das alte, fast schon kitschig traditionelle Kaffeehaus Tjurn Basilisken, in dem Hogart viel Zeit verbracht hatte, als er noch an der Filmhochschule studieren wollte. In den letzten Jahren führte ihn sein Weg nur noch hierher, wenn er ungestört an einem Fall arbeiten wollte. Das Klicken der Billardkugeln, der Qualm der Pfeifen und Zigarren, die schlurfenden Schritte des Kellners auf den knarrenden Holzdielen und das Klappern der Löffel in den Kaffeetassen regten seinen Geist an.
Als Hogart noch ein Junge gewesen war, hatte ihm sein Vater erzählt, dass früher an der Stelle des Kaffeehauses eine Bäckerei mit einem tiefen Brunnenschacht gestanden hatte, in dem angeblich ein furchtbar hässliches Tier mit plumpen, warzigen Füßen gelebte hatte. Die mittlerweile schwarz gewordenen Holzschnitte an der Wand des Kaffeehauses zeugten von der Sage des Basilisken, dem das Lokal seinen Namen verdankte. Hogart und Tatjana saßen in einer der Nischen, während die Autokolonnen der Mariahilfer Straße an ihnen vorüberzogen. Hogart breitete die Unterlagen aus dem Schließfach vor sich auf dem Tisch aus: jede Menge Protokolle, Fotos, Notizzettel, medizinische Befunde und der zusammengerollte Negativstreifen aus einem Fotoapparat. Es würde einige Zeit dauern, bis er sich durch die einzelnen, teilweise zwanzigjahre alten Dokumente gelesen hatte.
Nach einem Bananensplit für Tatjana und mehreren großen schwarzen Mokkas für ihn kristallisierte sich folgendes Bild heraus: Die Röntgenaufnahmen vom Mai 1988 zeigten einen komplizierten Lendenwirbelbruch. Hogart war kein Fachmann auf diesem Gebiet, doch entsprechend dem medizinischen Befund handelte es sich um die Wirbelsäule der damals dreiundzwanzigjährigen Linda Bohmann. Beim Sturz über die Treppe ihres Elternhauses hatte sie sich den ersten Lendenwirbel gebrochen. Dabei waren die Nervenbahnen glatt durchtrennt worden. Zudem hatten zahlreiche Knochensplitter das Rückenmark verletzt. Die Ärzte sprachen von völlig irreparablen Schäden. Trotzdem hatte der damalige Chef der Neurochirurgie, Primär Abel Ostrovsky, während einer Operation versucht, Lindas Rückenmark zu versteifen und die Wirbelsäule ober- und unterhalb der Bruchstelle mit Platten und Schrauben zu stabilisieren. Linda trug ein halbes Jahr ein Gipsmieder. Seit diesem Unfall musste sie, aufgrund einer Empfehlung von Doktor Faltl, regelmäßig zur Untersuchung in die Klinik des Neurologen Harald Dornauer. Eine fünf Jahre alte Röntgenaufnahme zeigte, dass sie die Schrauben und Platten immer noch im Körper trug.
So weit hatte sich Hogart die Geschichte bisher auch zusammenreimen können, doch dann stießen Tatjana und er auf Unterlagen, die ihm einen Schauer über den Rücken jagten. Offensichtlich handelte es sich dabei um Kopien jener Akten, die der Killer aus dem Archiv des Kaiserin-Elisabeth-Spitals gestohlen hatte. Diesem medizinischen Bericht und der Gedächtnisnotiz eines Arztes zufolge war Linda nicht einfach wegen einer Unachtsamkeit die Treppe ihres Elternhauses hinuntergestürzt, sondern während eines Streits mit ihrer Schwester. Linda wurde von Madeleine attackiert und mehrmals mit einer Stichwaffe am Oberschenkel verletzt. Erst als Linda zusammenbrach, stolperte sie rücklings die Stufen hinunter.
Was bisher wie ein gewöhnlicher Haushaltsunfall ausgesehen hatte, entpuppte sich nun als Mordversuch. Während Ostrovsky 1988 an der Wirbelsäule operierte, behandelte Faltl die Stichverletzungen. Eine Arterie war getroffen worden, doch Faltl konnte die Blutung stoppen und Lindas Bein retten. Zwei Fotos belegten, wie Lindas Oberschenkel nach der Operation aussah. Mit zahlreichen Stichen, die kreuz und quer hässliche Narben hinterlassen würden, waren Haut und Muskeln vernäht worden - das Resultat von mehr als einem Dutzend tiefer Einstiche.
Hogart wurde übel. Er sah kurz von den Fotos auf. Demnach hatte Linda also auch Doktor Faltl gekannt. Wie aus den Unterlagen hervorging, war Primär Ostrovsky ein enger Freund der Familie Bohmann gewesen. Vermutlich war das der Grund, weshalb es nie zu einer Anzeige oder einem Polizeiprotokoll gekommen war und die Familie den Streit als Haushaltsunfall vertuscht hatte. Doch weswegen hatte sich Faltl damals eine Kopie des Gedächtnisprotokolls, sämtlicher Fotos und Unterlagen gemacht?
Hogart wickelte den Negativstreifen auseinander und hielt ihn vor die Fensterscheibe. Total unterbelichtet - bis auf helle Flecken war nichts zu erkennen.
»Schau dir das mal an.« Tatjana zeigte Hogart das Foto einer blutverschmierten Schere. Die Tatwaffe! Sie steckte bis zum Griff in Lindas Oberschenkel, von wo Faltl sie rausoperiert hatte. Unwillkürlich musste Hogart an Ostrovsky und Domauer denken, deren Körper mit einer Schere verstümmelt worden waren.
»Die Frau ist verrückt.« Hogart rollte den Filmstreifen zusammen.
Wie zum Beweis zog Tatjana ein psychiatrisches Gutachten aus den Unterlagen hervor. Nach der Attacke auf ihre Schwester war Madeleine einige Monate im psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien, der Baumgartner Höhe, in Behandlung gewesen. Zahlreiche Protokolle beschrieben Madeleines Geisteszustand als abnorm, krankhaft eifersüchtig, aber überdurchschnittlich intelligent. Sie litt unter Verhaltensstörungen, war manisch-depressiv und wies suizidale Tendenzen auf. Bereits ihre Großmutter, die ebenfalls manisch-depressiv gewesen war, hatte im psychiatrischen Zentrum Steinhof, dem Vorgänger der Baumgartner Höhe, Selbstmord verübt. Wenn man es genau nahm, könnte eines dieser Atteste sogar Madeleines Entmündigung erwirken.
Hogart schloss den Bericht. Ihn schauderte bei dem Gedanken, dass er mit dieser amazonenhaften Frau, die er so begehrte, beinahe im Bett gelandet war. Bisher hatte er immer von sich gedacht, einen vernünftigen Hausverstand und eine gesunde Menschenkenntnis zu besitzen. Doch diese Dokumente zeigten eine andere, unheimliche Seite von Madeleine, die er nicht wahrhaben wollte.
»Wozu hat der Arzt all diese Unterlagen aufgehoben?«
Tatjanas Frage holte Hogart wieder in die Realität zurück. Natürlich musste es einen Grund geben, weshalb Faltl die Akten über Jahre hinweg in einem Schließfach weggesperrt und den Schlüssel nahezu unauffindbar in seiner Wohnung versteckt hatte. Dabei konnte es nur um Geld gehen. In dem Schnellhefter befand sich bloß noch ein vergilbtes Kuvert. Hogart riss den Umschlag auf und nahm ein Sparbuch heraus. »Da ist deine Antwort.«
Tatjana stieß einen Pfiff aus. »Fünfzehntausend Euro«, flüsterte sie. Gleichzeitig blickte sie sich in dem Kaffeehaus um, doch niemand nahm Notiz von ihnen. »Es lautet auf einen gewissen Kevin Bailock.«
Der Name Kevin war vor etwas über zehn Jahren modern geworden. Hogart dachte an das Foto, welches in Faltls Vorraum auf der Kommode gestanden hatte … das Baby im Arm der bildhübschen jungen Frau. Möglicherweise war Kevin der Enkelsohn des pensionierten Arztes.
»Können wir das Sparbuch behalten?«, flüsterte Tatjana.
»Bist du verrückt?« Hogart nahm ihr das Buch aus der Hand und schob alle Unterlagen in den Schnellhefter zurück. Es wurde Zeit, Garek anzurufen. Zwar waren ihm die Zusammenhänge noch nicht völlig klar, doch offensichtlich ging es um Erpressung - und Menschen waren nicht erst einmal wegen Geld, Betrug oder Drohungen ermordet worden.
Er wählte Gareks Nummer und bat den Beamten, in das Kaffeehaus Zum Basilisken zu kommen.
»Scheiße«, fluchte er, nachdem er aufgelegt hatte.
Tatjana sah ihn fragend an. »Probleme?«
Hogart klimperte mit dem Löffel in der leeren Tasse.
»Hör auf, das macht mich nervös.« Tatjana legte ihm die Hand auf den Arm. »Erzähl mir lieber, was passiert ist.«
»Eichinger verhört Linda Bohmann auf der Akademie, Gomez durchwühlt die Praxis deines Vaters, und Garek hat keine Zeit herzukommen, weil er mit den Jungs von der Spurensicherung im Labor die Botoxreste im Blasrohr untersucht - einer von den dreien kommt so bald wie möglich her. Falls Eichinger kommt, muss ich mir eine Erklärung einfallen lassen, wie ich an die Unterlagen gekommen bin.«
»Eichinger ist der Fesche, nicht wahr?«
»Hast du vor, ihn zu bezirzen?«
Tatjana grinste. »Glaubst du, ich hätte Chancen?«
»Falls er auf kleine Punkrock-Mädchen steht.«
Sie richtete sich auf. »So klein bin ich nicht. Ich werde nächste Woche siebzehn, außerdem spiele ich besser Bass als Sid Vicious.«
»Na das ändert natürlich alles, Spider.«
Sie zog eine Schnute. »Warum sagst du ihm nicht die Wahrheit?«
»Schlechte Idee.«
»Aha!« Tatjana hob die Augenbrauen. »Vater hat erwähnt, dass zwischen dir und diesem Eichinger etwas vorgefallen ist. Erzähl schon!«
Hogart sah sie scharf an. Er kannte seine Nichte nur zu gut. Die Kleine würde keine Ruhe geben, ehe er ihr nicht alles erklärt hatte. Möglicherweise hielt sie die Geschichte jedoch endgültig davon ab, Detektivin zu werden. Also bestellte er noch einen Mokka für sich und eine Pepsi Light für Tatjana, dann lehnte er sich im Sessel zurück. »Vor fünf Jahren wirbelte die sogenannte Meidlinger Rotlicht-Affäre ziemlich viel Staub in den Medien auf.«
Tatjana stützte das Kinn auf die Hände und hörte ihm zu. Er erklärte ihr, dass die Basis jedes Detektivjobs, egal ob es sich um einen Journalisten, Sachverständigen, Privat- oder Versicherungsdetektiv handelte, darin bestand, Informationen zu beschaffen. Da die meisten Informationen nun einmal die Polizei besaß, lautete die Frage, wie man an die Daten des Polizeicomputers herankam.
Normalerweise lief die Prozedur so ab, dass ein Kollege per Telefon zu einer Besprechung gerufen wurde, während die Beamten auf seinem PC mit fremdem Passwort, fremder Dienstnummer und der entsprechenden Behördenkennzahl ins System einstiegen und Daten auf Diskette kopierten. Manchmal ging es sogar so weit, dass sie über Finanzamt, Strafregister oder die Fremdeninformation Abfragen laufen ließen. Die begannen bei einfachen Personaldaten, ob jemand Schulden hatte oder Alimente bezahlen musste, geheime Telefonnummern besaß, bis zu Fahrzeug- oder Wohnsitzabfragen, Vorstrafen, Vormerkungen über Aufenthaltsverbote, Arbeitsbewilligungen, Waffen- oder Rauschgiftbesitz oder ob jemand als Zeuge oder Auskunftsperson gesucht wurde.
Da österreichweit täglich über Tausende Abfragen auf allen Dienststellen liefen, war eine Überprüfung unmöglich und eine Entdeckung nahezu unwahrscheinlich.
Tatjana bekam große Augen. »So arbeitest du?«
»Wie dachtest du, kommt ein Detektiv an Informationen ran?«
Unwillkürlich senkte sie die Stimme. »Ich war der Meinung, du recherchierst wie Philip Marlowe oder Nero Wolfe, stattdessen bezahlst du einen korrupten Bullen als Informanten.«
»Korrupt ist ein wenig übertrieben. Mein Kontaktmann hat monatlich etwa fünfhundert Euro mehr Fixkosten, als er verdient - er braucht das Geld einfach.« Hogart klimperte wieder mit dem Löffel in der Tasse.
»Welche Informationen hast du bei dieser Rotlicht-Affäre gekauft?«
»Wann und in welchem Bordell eine Razzia geplant war.«
Tatjana bekam große Augen. »Ist nicht dein Ernst?«
Hogart schwieg.
»Und du hast diese Daten an die Bordellbesitzer verkauft?«
»Bist du verrückt?« Hogart senkte die Stimme. »Es funktioniert so. In den meisten Wiener Bordellen arbeiten Ukrainerinnen als Bardamen. Allerdings haben die wenigsten Mädchen ein ärztliches Zeugnis, eine Beschäftigungsbewilligung oder eine Aufenthaltsgenehmigung. Falls es zu einer Razzia kommt, geht der ganze Laden hoch.« Hogart rückte näher. »Unabhängig davon gibt es in der Versicherungsbranche immer wieder bestechliche Gutachter, die raffiniert genug sind, Beweise verschwinden zu lassen, Fakten zu fälschen und getürkte Expertisen auszustellen, mit denen sie die Versicherung übers Ohr hauen. Dabei geht es nicht um lächerliche Einbrüche, sondern um Millionenbeträge, wenn beispielsweise ein Hochhaus abbrennt, eine Boeing in den Tower kracht oder ein Öltanker auf ein Riff läuft. Die Fachleute dieser privaten Gutachterinstitute machen ihren Job seit Jahrzehnten und sind so clever, dass ich ihnen das Handwerk nicht legen kann, obwohl ich weiß, dass sie Dreck am Stecken haben.«
»Was hat das mit der Razzia in einem Bordell zu tun?«
»Wenn ich mich mit einem dieser aalglatten Gutachter treffe, um einen Fall zu besprechen, wähle ich ein Etablissement, in dem am selben Abend eine Razzia geplant ist. Ich stecke der Bordellbesitzerin die Information zu, dass eine Aushebung bevorsteht, die lässt ihre Mädchen verschwinden und kümmert sich im Gegenzug darum, dass mein Gutachter in bester Gesellschaft ist, sobald die Kripo auftaucht.«
»In bester Gesellschaft?«
»Falls er verheiratet ist, kleben zwei Bardamen an seiner Backe, falls er Single ist, genügt ein junger Mann. Ich sorge dafür, dass die Presse rechtzeitig von der Razzia erfährt, verschwinde aber, sobald ich den Anruf von meinem Kontaktmann erhalte, dass die Ermittler vor der Tür stehen.«
»Danach sorgen Kripo und Presse dafür, dass der Ruf des Gutachters ruiniert ist und seine Familie davon erfährt«, schlussfolgerte Tatjana.
»Oder ich bügle das für ihn aus und er zieht sein Gutachten zurück.«
»Du trickst herum, wie es dir gefällt, und kassierst anschließend eine fette Provision!« Tatjana kniff die Augenbrauen zusammen. »Du bist genauso ein Ekel wie diese korrupten Gutachter.«
»Ich weiß.«
Sie boxte ihm in die Schulter. »Du bist ein Riesen-Ekel!«
»Ja, und? In dieser Branche muss man mit den Wölfen heulen.«
»Aber wenn nun einer der Gutachter eine echte Expertise ausgestellt hat?«
»Das finde ich bei meinem Gespräch mit ihm raus - glaube mir, ich habe ein Bauchgefühl dafür.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Du bist trotzdem ein Ekel.«
»So läuft das Geschäft nun mal. Aber vor fünf Jahren sprach sich herum, dass bei manchen Razzien kein Erfolg erzielt wurde. Jemand kam dahinter, verpetzte uns, die Geschichte flog auf und die Zeitungen waren voll davon. Ich verlor fast meine Detektivlizenz. Dr. Fliesenschuh, der Anwalt, der deinen Vater vertritt, boxte mich damals aus dieser Sache raus. Seitdem klappt das nicht mehr so einfach, an Informationen ranzukommen.«
»Mein Vater hat mir nie etwas darüber erzählt.«
»Weil er es nicht weiß - und du hältst die Klappe!«
Tatjana fuhr sich mit dem Zeigefinger symbolisch über die Lippen und hob anschließend die Hand zum großen Indianerehrenwort. »Wer war dein Informant?«
Hogart dachte einen Moment an Rolf Garek, der seit seiner Scheidung verzweifelt Alexander Solschenizyns Achipel Gulag las. Damals hatte Garek Dolores kennengelernt. Die Polin jobbte in einer der Bars - natürlich ohne die Dutzenden Bewilligungen und Genehmigungen. Die hätte sie sich niemals leisten können. Hogarts Tipps an die Bordellbesitzerin hatten Dolores mehrmals das Leben gerettet.
»Wer war dein Informant?«, wiederholte Tatjana.
Er wusste, er konnte ihr vertrauen. »Garek.«
Sie dachte eine Weile nach, dann sah sie ihn an. Mein Gott, dieses Mädchen konnte ein enttäuschtes Gesicht machen. »Ich habe dir immer gesagt, der Job eines Detektivs ist nicht so aufregend und ehrenwert, wie du dir das ausmalst.«
»Warum bist du dann Versicherungsdetektiv geworden?«, fragte sie.
Für einen Moment dachte er an die Filmhochschule, die er nie von innen gesehen hatte. »Weil ich Geld verdienen musste - gern Rätsel löse und Betrüger zur Strecke bringe.«
»Solche Leute, die deinen Vater in den Ruin getrieben haben?« Als er keine Antwort gab, legte Tatjana den Kopf in die Hände. »Und wie kommst du jetzt an Informationen ran?«
»Es gibt immer jemanden, der Geld braucht, nur darf man es nicht übertreiben, so wie früher.«
»Wer hat euch damals verpfiffen?«
»Dreimal darfst du raten.«
»Nein!« Sie fuhr hoch. »Eichinger?«
»Er führte zu jener Zeit die Ermittlungen im Rotlicht-Milieu.«
»Ausgerechnet er und Garek sind ein Team?«
»Seit damals wird Garek streng überwacht, aber auch Eichinger ist vielen Kollegen wegen seiner Auffassung von Gerechtigkeit ein Dorn im Auge. Damit ihre Vorgesetzten beide unter Kontrolle haben, wurden die zwei in ein Team gespannt - um beide zu neutralisieren.«
Hogart sah hoch. Ein Wagen parkte direkt vor der Tür, zwei Räder auf dem Bürgersteig. Gareks Fahrstil. Der Beamte stieg aus und knallte die Fahrertür mit voller Wucht zu. Als ihre Blicke sich durch die Fensterscheibe des Kaffeehauses trafen, erhellte sich Gareks Miene kein bisschen. Das konnte was werden. Während Garek ins Lokal marschierte, blickte er auf die Armbanduhr. Gewiss überschlugen sich im Moment die Ereignisse. Bei drei ungeklärten Morden geriet die Dienststelle ziemlich unter Druck. Wen wunderte es, wenn sie die falschen Personen in U-Haft festhielten?
Garek verscheuchte den Kellner, der soeben heranschlurfte, und baute sich vor ihrem Tisch auf. Seine Augen waren rot gerändert und der Dreitagebart zeigte Ansätze von grauen Stoppeln. Der Beamte würdigte Tatjana mit keinem Blick. Er starrte abwechselnd auf Hogart und die Mappe in Hogarts Händen.
»Zuerst möchte ich wissen, woher du diese Informationen hast.«
»Spielt das eine Rolle?«, antwortete Hogart. »Diese Unterlagen bringen etwas Licht in den Fall.«
»Nicht, wenn sie gefälscht sind.« Garek blickte wieder auf die Uhr. »Ich sagte dir doch, du sollst die Finger von den Ermittlungen lassen. Aber nein, du bist hartnäckiger als ein Marder. Wenn du dich mal in eine Sache verbissen hast, muss man dich erst davon losprügeln. Das war schon immer so, Hog. Das wird dir mal das Genick brechen.«
»Willst du nun wissen, was hier drinsteht?«
Garek nickte zu Tatjana. »Schick die Kleine weg.«
Schlagartig versteifte sich Tatjanas Rücken. Ihre Kiefer mahlten vor Zorn, während sie Garek mit funkelnden Augen betrachtete. Sie wandte sich an Hogart. »Willst du noch einen Kaffee?«, presste sie hervor.
»Schwarz, ohne Zucker, danke.«
»Sie auch?«
»Nein«, knurrte Garek.
»Hätte Ihnen sowieso keinen mitgebracht.« Tatjana verschwand zum Tresen und Garek setzte sich an den Tisch. »Das Biest könnte deine Tochter sein«, sagte Garek. »Charmant, danke.«
Während Hogart erklärte, was er herausgefunden hatte, blätterte Garek durch die Unterlagen.
»… und zuletzt gibt es noch dieses Sparbuch«, beendete Hogart seinen Bericht. Er sah zum Tresen, wo sich Tatjana mit einem jungen Kellner unterhielt.
Als Garek das Sparbuch aufklappte und den Kontostand sah, ahnte Hogart, was in diesem Moment in dessen Kopf vorging.
»Es ist mit einem Kennwort versehen und für einen gewissen Kevin Ballock legitimiert«, sagte er deshalb.
»So blöd bin ich auch wieder nicht.« Garek kratzte sich die Bartstoppeln am Kinn. »Wir wissen bereits einiges über Faltl. Er war mit seiner Tochter zerstritten. Kevin ist sein Enkel, elf Jahre alt, wohnt bei seiner Mutter in Salzburg. Faltl hat den Kleinen aber nie zu Gesicht bekommen.«
»Ein nettes Startkapital für so einen Knirps«, sagte Hogart. »Faltl war ein Trinker und hatte Spielschulden auf der Trabrennbahn. Wie kam er an so viel Geld?«
Garek trommelte mit den Fingern auf dem Schnellhefter. »Liegt das nicht auf der Hand?«
»Von Bohmann?«
Garek senkte die Stimme. »Aus Faltls Kontoauszügen geht hervor, dass er von 1988 bis zu Ernest Bohmanns Tod im Jahre 2004 jeden Monat umgerechnet dreihundert Euro von Bohmann überwiesen bekommen hat. Er hat die Bohmanns erpresst, siebzehn Jahre lang.«
Hogart verzog das Gesicht. »Und du glaubst, diese Mappe ist…« Er rechnete nach. »… sechzigtausend Euro wert?«
Garek zuckte die Achseln. »Bohmann war Jurist, ein einflussreicher Verleger und Zeitungsmensch. Er konnte sich nicht leisten, dass die Wahrheit über seine Töchter ans Licht kam. Immerhin arbeitete Madeleine eine Zeit lang im Verlag.« Garek lehnte sich zurück. »Für mich sieht die Sache so aus: Der Killer hat Faltl gefoltert, weil er hinter dieser Mappe her war. Aber der alte Knabe starb an seinen inneren Verletzungen, Freitagnacht gegen 23.00 Uhr.«
»Aber das ergibt keinen Sinn«, überlegte Hogart. »Bohmann ist seit über zwei Jahren tot, der Verlag wurde verkauft, und die Bohmann-Schwestern sind nicht gerade das, was man finanziell unter einer guten Partie versteht.«
»Weshalb sollten die Morde sonst begangen worden sein?«
Hogart starrte in die leere Kaffeetasse. »Wer sagt, dass es immer noch um Erpressung geht? Alfred Faltl war der Einzige, der außer Ostrovsky und Dornauer von der Attacke mit der Schere und Madeleines Geisteskrankheit wusste. Außerdem kannte er die Verbindung von Linda zu den beiden Ermordeten, die der Killer so verzweifelt zu vertuschen versucht. Möglicherweise steckt etwas völlig anderes dahinter?«
»Sehr überzeugend.« Garek blähte die Wangen, als hätte er einen besseren Geistesblitz erwartet. »Linda hat übrigens gestanden, dass sie Ostrovsky, Faltl und Dornauer kannte.«
»Ihr verdächtigt doch nicht eine querschnittgelähmte Frau?«
Garek nahm das Foto von der Schere zur Hand. »Nein, aber möglicherweise ihre Schwester. Bartoldi, unser Gerichtsmediziner, kann anhand dieses Bildes herausfinden, ob es sich um die Mordwaffe handelt.«
»Kommt Kurt nun raus?«
Garek schüttelte den Kopf. »Das Botox aus seiner Wohnung ist mit den Spuren an den drei Tatorten identisch.«
»Das wurde ihm untergejubelt.«
»Natürlich.« Garek lachte laut auf. Tatjana sah für einen Moment vom Tresen zu ihnen herüber. »Übrigens steht es um dich nicht besser. Linda Bohmann hat sich erkundigt, ob du ein Kripobeamter bist. Sie will eine Beschwerde gegen dich einreichen. Eichinger hat sie nicht davon abgehalten. Ich rate dir, dass du das rasch mit ihr klärst.«
»Ich bin Probleme gewöhnt.« Hogart versuchte zu lächeln, doch Garek blieb ernst.
»Hog, das ist leider nicht alles.« Er beugte sich über den Tisch. »Eichinger hat beim Staatsanwalt Anzeige gegen dich erstattet, weil du das Video vom Ostrovsky-Tatort entwendet, dich im Krankenhaus als Beamter und in der Dornauer-Klinik bei Frau Scholl als Versicherungssachbearbeiter ausgegeben hast.«
»Scheiße.«
»Und jetzt hast du auch noch diese Beweismittel vom Faltl-Tatort entfernt.«
Hogart schwieg. Was machte es für einen Unterschied, wenn er Garek erklärte, dass er die Mappe nicht am Tatort, sondern in einem Schließfach gefunden hatte?
»Du solltest endlich die Finger von dem Fall lassen.«
»Das haben mir schon mehrere Leute gesagt.«
»Ich weiß, aber diesmal könnte es dir nicht nur eine Geld-, sondern auch eine Haftstrafe einbringen und dich endgültig die Detektivlizenz und deinen Waffenpass kosten.« Garek schob die Mappe unter seine Jacke, erhob sich und verließ ohne weiteren Kommentar das Lokal.
Hogart sah ihm nach, wie er ohne den Blinker zu setzen mit dem Wagen vom Bürgersteig rumpelte und sich zwischen den hupenden Autos in den Straßenverkehr einfädelte.
Im nächsten Moment stand Tatjana mit einer Kaffeetasse vor Hogarts Tisch. »Du siehst ziemlich fertig aus.«
»Die sind sauer, weil ich mit den Schwestern recht hatte und sie trotz der Empfehlung des Staatsanwalts ermitteln müssen.« Hogart nippte an der Tasse, verzog aber sogleich das Gesicht. »Der ist eiskalt.«
Tatjana hob die Arme. »Nicht meine Schuld. Außerdem macht kalter Kaffee bekanntlich schön, und bei deinem Veilchen und der Lippe hast du das dringend nötig.«
Er runzelte die Stirn. Was hatte das Mädchen da gesagt? Plötzlich kam ihm der erlösende Gedanke. Bisher hatte ihn jeder danach gefragt, woher das Veilchen und die aufgeplatzte Lippe stammten: Gomez, Tatjana, seine Mutter, Eichinger, Garek und sogar Rektor Priola - alle, denen er in den letzten Tagen begegnet war … bis auf eine Person. Nun wusste er auch, was an dem Gespräch mit Linda Bohnmann merkwürdig gewesen war. Sie hatte ihn als Einzige nicht auf die blauen Flecken in seinem Gesicht angesprochen - ja, ihn nicht einmal entsetzt betrachtet. Vielleicht war er einfach nur paranoid, möglicherweise war aber etwas faul an der Sache. Ein Grund mehr, sie zu besuchen. Er musste ohnehin die Beschwerde aus der Welt schaffen.
Hogart erhob sich. »Ich muss weg.«
»Und dein Kaffee?«
»Ist sowieso schon kalt.«
Tatjana sah ihn verwirrt an. »Verrätst du mir, wohin du gehst?«
»Besser ich bringe dich heim, wo du deine Mutter und Großmutter beruhigst. Bei meinem nächsten Gang nach Canossa kannst du mir nicht helfen.«