18

 

Nach seiner üblichen Joggingrunde und einem kargen Frühstück versuchte Hogart am nächsten Morgen, mehr über die Bohmann-Schwestern herauszufinden. Dass sie durch die Bekanntschaft mit Staatsanwalt Hauser und Madeleines angeblicher Herzschwäche zurzeit tabu für die Kripo waren, erleichterte die Sache nicht gerade. Falls Hauser herausbekam, dass Hogart weiterhin in dem Fall herumschnüffelte, ging es ihm an den Kragen. Im Moment sah er nur eine Möglichkeit, mehr über Linda zu erfahren. Er fuhr zur Luttenberger Kunstakademie.

Hogart wartete eine halbe Stunde in der Aula und lauschte dem Schlagen einiger Türen und den wenigen Schritten, die durch die Gänge klapperten. Offensichtlich begann der Betrieb in der Akademie erst nach neun Uhr. Endlich tauchte Rektor Priola auf. Mit Mantel, Hut und Aktentasche wirkte er wie ein Beamter, der soeben seinen Dienst beim Finanzamt antrat. Der Schlaf klebte ihm noch in den Augen, und die Krawatte saß schief, als habe er sich in aller Eile angekleidet. Hogarts Besuch vor zwei Tagen, mit Tatjana an seiner Seite, war Priola vermutlich noch in Erinnerung, da er mit erhobenen Augenbrauen auf Hogart zusteuerte.

»Guten Morgen - melden Sie Ihre Tochter bei uns an?« Priola wollte ihm bereits die Hand geben, als er zurückzuckte. »Was ist Ihnen zugestoßen?« Er starrte unverhohlen auf Hogarts Veilchen und die aufgeplatzte Lippe.

»Können wir uns über Professor Linda Bohmann unterhalten?«, fragte Hogart knapp.

Priola stutzte. »Ihre Tochter möchte nicht wirklich an dieser Akademie studieren, nicht wahr?«

Hogart nickte.

»Sind Sie von der Polizei?«

Es hatte keinen Sinn, weiterhin zu lügen. Hogart reichte ihm seine Visitenkarte, die ihn als Versicherungsdetektiv auswies. Er erklärte Priola, dass er für Medeen & Lloyd den Brand in der Wiener Gebietskrankenkasse untersuchte, der vermutlich mit den Morden an Primär Ostrovsky, Doktor Faltl und dem Physiotherapeuten Dornauer zu tun hatte. Möglicherweise sei Linda Bohmann in die Sache verstrickt.

Priolas Unterlippe bebte. »Die Polizei war deswegen bereits hier, aber die Beamten haben nicht lange mit Professor Bohmann gesprochen.«

»Ich weiß. Durch das enge Verhältnis zu Staatsanwalt Hauser ist sie im Moment geschützt. Allerdings vermute ich, dass sie der Kripo Informationen verschweigt.«

»Welcher Art?«

»Dass sie Primär Ostrovsky und Doktor Dornauer kannte.«

Für einen Moment zuckten Priolas Augenlider. »Was wollen Sie von mir wissen?«

»Alles, was Ihnen über Linda oder Madeleine einfällt. In welchem Verhältnis stehen die beiden zueinander? Wie passierte der Autounfall ihrer Eltern und der Unfall, der Linda an den Rollstuhl fesselte?«

Der Rektor schüttelte unschlüssig den Kopf. »Das sind Lindas Privatangelegenheiten.«

»Sie ist so verschlossen und wird nicht mit der Kripo kooperieren«, gab Hogart zu bedenken. »Dadurch schlittert sie tiefer in die Sache hinein. Falls Ihnen etwas an ihr liegt, sollten Sie ihr helfen.«

Priola betrachtete die Visitenkarte mit einem Blick, als könne er sich nicht entscheiden, ob er zornig sein sollte, da ihm Hogart vor zwei Tagen ein Märchen aufgetischt hatte, oder ob es für Linda besser war, mit Hogart zu reden. Schließlich gab er Hogart die Karte zurück. »Professor Bohmann kommt frühestens in einer Stunde zu ihrer ersten Vorlesung. Bis dahin können wir uns in meinem Büro unterhalten.«

Hogart folgte ihm.

 

Priolas Büro lag ebenso wie Linda Bohmanns Büro im ersten Stock, mit Blick auf den Parkplatz und den Springbrunnen. Beide Räume waren etwa gleich groß, nur dass Priolas Arbeitszimmer über und über mit Papieren und Aktenordnern übersät war. Als Hogart eintrat und sich im Raum umblickte, schien es Priola nicht einmal peinlich zu sein, als sei es völlig normal, unter solchen Umständen zu arbeiten.

Während Hogart auf der Couch einige Briefe und Anmeldeformulare beiseiteschob, um Platz zu nehmen, hing Priola Hut und Mantel an den Kleiderständer und legte die Aktentasche auf den Schreibtisch. Er kippte das Fenster, da es im Büro nach abgestandenem Zigarrenrauch stank, dann schaltete er die Espressomaschine in der Nische ein. Anschließend tranken sie Kaffee auf der Couch.

»Ist das Mädchen, mit dem Sie hier waren, tatsächlich Ihre Tochter?«, wollte Priola wissen.

»Meine Nichte - sie ist übrigens wirklich an Kunst interessiert, spielt aber in einer Rockband.«

Priola schmunzelte. »Und wie sind Sie Versicherungsdetektiv geworden?«

Hogart hasste es, ausgefragt zu werden, zumal eigentlich er etwas von Priola wissen wollte. Doch im Moment war es besser, die Karten offen auf den Tisch zu legen - was ihm diesmal nicht schwerfiel, da ihm Priolas sanfte Stimme einmal mehr an die seines Vaters erinnerte.

Hogart erzählte, dass er an alten Filmen interessiert sei und eigentlich mit einundzwanzig Jahren an der Filmhochschule studieren wollte. Da seine Eltern wenig Geld besaßen, sein Bruder aber Medizin studieren wollte, musste er einen Beruf ergreifen. Durch die Beziehung seines Vaters zu Kommerzialrat Rast von Medeen & Lloyd verdiente er sein erstes Geld als Sachbearbeiter mit einfachen Policen. Später arbeitete er als Vertreter, danach als Versicherungsdetektiv im Einsatz gegen getürkte Schadensmeldungen und schließlich als selbstständiger Ermittler, der sich auf Einbruch und Diebstahl spezialisiert hatte.

Während Hogart erzählte, rauchte Priola eine Zigarre und nippte nur ab und zu an seiner Tasse. Ihr Gespräch wurde durch nichts unterbrochen. Bloß die rote Lampe des Anrufbeantworters blinkte im Hintergrund auf Priolas Schreibtisch.

»Danke, dass Sie so ehrlich waren«, sagte Priola schließlich, nachdem Hogart geendet hatte. »Weshalb glauben Sie nun, dass Professor Bohmann etwas über die Morde weiß, aber verheimlicht?«

»Ich …« Das Läuten des Telefons unterbrach Hogart.

Bevor sich das Band des Anrufbeantworters einschaltete, erhob sich Priola und nahm das Gespräch entgegen. Er lauschte eine Weile, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich blickte er auf die Armbanduhr. »Ich schätze, gegen zehn Uhr.« Dann legte er auf.

Er sah Hogart mit einem blassen Gesichtsausdruck an. »Die Kripobeamten haben sich nach Linda Bohmann erkundigt. Sie kommen in einer halben Stunde her.«

Hogart versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Aus welchem Grund zeigten Garek und Eichinger plötzlich wieder Interesse an Linda Bohmann?

Gedankenverloren starrte Priola in die Zigarrenglut, während er sich wieder auf die Couch setzte. Offensichtlich hatte er seine Frage von vorhin vergessen.

»Es wird Zeit, dass Sie mir mehr über Linda erzählen«, bat Hogart.

Priola sah kurz auf. »Ich sagte Ihnen bereits bei Ihrem letzten Besuch, dass sie sich seit dem Unfall ihrer Eltern sehr verändert hat. Der Tod ihres Vaters hat sie gebrochen. Sie ist nicht mehr so lebenslustig wie früher. Obwohl sich die beiden nicht ausstehen können, wird sie ihrer Schwester von Jahr zu Jahr ähnlicher. Ihre Mutter, Agathe Bohmann, die Grand Dame der Verlagsszene, war genauso hart und verbittert. Seinen Genen kann man wohl nicht entfliehen.«

Priola erzählte, dass sich der Autounfall von Ernest und Agathe Bohmann in der Silvesternacht von 2004 auf 2005 zugetragen hatte. Soviel er von Linda erfahren hatte, feierte die Familie in der Engelsmühle, dem Elternhaus, den vierzigsten Geburtstag ihrer Töchter. An jenem 31. Dezember herrschte eine eiskalte Nacht. Die Waldwege waren zugefroren, und eine dichte Schneedecke hing auf den Föhren, die die Mühle umgaben. Im offenen Kamin der Mühle knackte das Brennholz und es floss jede Menge Alkohol. Lange nach Mitternacht kam es zum Streit zwischen Madeleine und ihrem Vater. Wie üblich ging es um die Ungerechtigkeit, mit der Ernest Bohmann seine Töchter behandelte. Obwohl Linda versuchte, den Streit zu schlichten, verließen Ernest Bohmann und seine Frau das Haus. Sie gingen durch den Waldweg zur asphaltierten Höhenstraße, wo ihr Wagen parkte. Von dort wollten sie zu ihrem Zweitwohnsitz fahren, einem Bungalow in der Nähe des Donauturms. Doch auf der Höhenstraße geriet ihr Wagen auf einer Eisplatte ins Schleudern und kam in einer Kurve von der Straße ab. Das Auto durchschlug die Leitplanke und segelte an der Ostseite des Kahlenbergs über die Baumwipfel in die Schlucht, bis es schließlich an den Felsen zerschmetterte. Sie waren beide sofort tot.

Hogart erinnerte sich dunkel daran, dass die Meldung vom Tod des Verlegers seinerzeit durch die Presse gegeistert war. »Wurde der Unfall damals untersucht?«

Priola sah ihn an, als wisse er, worauf Hogart hinauswollte. »Es war dubios. Offiziell waren Lindas Eltern nicht betrunken, was ich aber bezweifle. Ich vermute, die beiden waren bis oben hin mit Alkohol abgefüllt. Eine peinlichere Schlagzeile als diese war kaum möglich, wenn man bedenkt, welches Programm der Verlag Bohmann herausbrachte: juristische Fachzeitschriften, Lose-Blatt-Sammlungen, Magazine für Notare und Rechtsanwälte und dergleichen … da die Familie Bohmann, auch wegen der Verlagstätigkeit des Vaters, gute Kontakte zum Ministerium und vor allem zu Staatsanwalt Hauser hatte, wurde die Untersuchung rasch abgeschlossen. Die Medien schlachteten den Fall nicht wie üblich aus. Beide Leichen wurden zwar geborgen, aber da der Wagen an einer exponierten Stelle hing, konnte er nicht heraufgeholt werden.«

»Das ist unüblich.«

»Die Schlucht liegt nicht auf öffentlichem Gut, sondern gehört zum Grundstück der Bohmanns. Die Haftpflichtversicherung deckte keine Bergekosten. Madeleine und Linda hätten die Sicherstellung des Wracks aus ihrer eigenen Tasche bezahlen müssen.«

»Wo liegt das Problem?« Hogart konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die beiden Erbinnen des Bohmann-Verlags unter Geldmangel leiden mussten. »Die Druckerei, das Verlagshaus, eine eventuelle Lebensversicherung?«

Priola winkte ab. »Der Verlag war verschuldet und wurde für einen Pappenstiel verkauft. Zudem weigerte sich Shonebakers, die gesamte Versicherungssumme auszubezahlen. Wegen Bohmanns Schulden waren die letzten beiden Prämien nicht überwiesen worden, außerdem wurde nie restlos geklärt, ob die Bohmanns in ihrem alkoholisierten Zustand nicht Selbstmord begangen hatten.

Was vom Erbe übrig blieb, sollten die Töchter jeweils zur Hälfte erhalten. Doch sie zerstritten sich, da Linda ihrer Schwester die Schuld am Tod der Eltern gab. Aus welchen Gründen auch immer besuchte Linda einige Tage vor der Testamentseröffnung den Notar. Sie wollte von dem Geld nichts haben, das übrig bleiben würde. Bis auf den Bungalow beim Donauturm verzichtete sie auf alle Erbansprüche. Madeleine behielt die Engelsmühle und Linda übersiedelte in die Stadt. Nachdem Linda ihren Teil des bürokratischen Papierkrams geklärt hatte, machte sie mit ihrem Lebensgefährten Schluss.«

»Linda hatte einen Freund?«, platzte es aus Hogart hervor. Für einen Augenblick war er sprachlos. »Wen?«

Priola blickte auf die Armbanduhr, dann schaute er zum Fenster raus. »Darüber möchte ich nicht reden.«

»Sie sagten, Linda habe sich nach dem Tod der Eltern verändert.«

Priola nickte. »Sie war psychisch am Ende. Ich übernahm die Hälfte ihrer Kurse, sonst hätte sie das Wintersemester zu keinem Abschluss bringen können.« Er sah wieder durchs Fenster zum Parkplatz. Mittlerweile war die Zigarre im Aschenbecher erkaltet. »Seitdem malt sie nicht mehr. Sie führte nur die notwendigsten Vorträge an der Kunstakademie weiter. Sogar der Stil, in dem sie unterrichtet, hat sich geändert. Er ist, wie ihr gesamtes Leben, düsterer geworden.«

Bei seinem Besuch in ihrem Büro hatte Hogart nichts von alledem mitbekommen. Wie positiv und fröhlich gelaunt musste Linda noch vor ein paar Jahren gewesen sein?

»Woher wissen Sie das alles?« Diese Frage brannte Hogart schon seit geraumer Zeit auf der Zunge.

Der Rektor blickte ihn an, als wolle er abwägen, wie viel er ihm anvertrauen könne. Er strich sich mit den Fingern durch den Kinnbart. »Sie fragten mich zuvor nach Lindas Lebensgefährten. Bis vor zweieinhalb Jahren waren wir ein Paar.«

»Sie beide?« Unwillkürlich dachte Hogart an Madeleines abfällige Bemerkung über ihre Schwester, die sie nachts in der Engelsmühle ausgespien hatte.

»Nicht in sexueller Hinsicht.« Priola starrte zu Boden. »Sie wissen ja, eine Frau, die ab der Hüfte gelähmt ist… aber platonisch, und ein wenig mehr. Ich brauchte nicht viel. Linda gab mir alles, um mich glücklich zu machen - und ich gab ihr nie einen Grund, sich unwohl zu fühlen. Trotzdem beendete sie die Beziehung. Den wahren Grund kenne ich bis heute nicht.«

Hogart fixierte das irritierend rot blinkende Licht des Anrufbeantworters. Schließlich rutschte er an die Kante des Sofas. »Wenn Sie ein Paar waren, müssten Sie doch wissen, ob Linda Primär Ostrovsky oder Doktor Dornauer kannte.«

Priola sah ihn mit traurigen Augen an. »Natürlich kannte sie die beiden. Die Rollstuhlfahrer- und Physiotherapeuten-Szene ist nicht besonders groß, da kennt jeder jeden. Ostrovsky behandelte ihre Wirbelsäulenverletzung nach dem Sturz und Doktor Dornauer machte mit ihr die Physiotherapie.«

Ein dumpfes Gefühl breitete sich in Hogarts Magen aus. »Das hat sie der Polizei verheimlicht.«

»Möglicherweise ist das der Grund, weshalb die Beamten sie noch einmal sprechen wollen …« Priolas Augen klebten förmlich an der Fensterscheibe. »… Wenn man vom Teufel spricht.«

Soeben fuhr ein Wagen über den Kiesweg und hielt auf dem Besucherparkplatz. Allerdings war es weder Gareks noch Eichingers Auto. Als sich die Tür des blauen Vans öffnete, sah Hogart Lindas brünetten Haarschopf. Sie hob den Rollstuhl vom Beifahrersitz über sich hinweg und klappte ihn neben sich auf dem Kiesweg auseinander. Anschließend hob sie die einzelnen Räder aus dem Wagen und steckte sie an die Naben des Rollstuhls.

Wortlos beobachteten Hogart und Priola die Prozedur. Linda hob ein Bein aus dem Fahrersitz, stützte sich auf dem Lenkrad ab und hievte ihren Körper in den Rollstuhl. Anschließend hob sie das zweite Bein herüber. Danach klappte sie die Seitenlehnen und Fußstützen des Rollstuhls aus.

»Es muss die Hölle sein, nicht gehen zu können«, murmelte Hogart.

»Reden Sie mit einem Menschen, der seit Kurzem querschnittgelähmt ist«, antwortete Priola. »Er wünscht sich nichts sehnlicher, als wieder laufen, springen oder tanzen zu können. Aber daran gewöhnt er sich im Lauf der Jahre. Die Automatik des Wagens wird für Rollstuhlfahrer umgebaut, Gas- und Bremshebel befinden sich auf dem Lenkrad. Nicht gehen zu können, wird zum geringsten Problem.« Er sah Hogart von der Seite an. »Und nun fragen Sie denselben Menschen, nachdem er zehn Jahre lang im Rollstuhl gesessen hat, nach seinem sehnlichsten Wunsch. Er möchte seinen Körper spüren! Aufgrund der Lähmung haben die meisten Blasen- und Nierenbeschwerden oder Probleme mit dem Wundliegen. Manche verstümmeln ihre Oberschenkel oder legen aus Verzweiflung den Fuß auf die brennende Herdplatte oder in einen Topf mit kochendem Wasser, um endlich wieder einmal die Zehen zu spüren. Vergeblich. In einem leblosen Körper zu stecken - das ist die Hölle!«

Als sich Linda mit dem Rollstuhl über den Kiesweg mühte, um den Asphaltweg zu erreichen, der zum Haupteingang der Akademie führte, wandte sich Priola vom Fenster ab. »Bevor die Beamten kommen, werde ich sie fragen, weshalb sie die Polizei anlügt. Wollen Sie mich begleiten?«

»Ich …« Hogarts Blick fiel wieder auf das Blinken des Anrufbeantworters, das ihn schon die ganze Zeit irritierte. Dieses rote Leuchten! Plötzlich fuhr ihm die Idee wie ein Blitz durch den Kopf. Er war so ein Idiot gewesen. Weshalb hatte er nicht früher daran gedacht? Er konnte den Mordermittlungen eine entscheidende Wendung geben. »Ich muss weg.«

Priola sah ihn überrascht an.

Hogart reichte dem Rektor die Hand. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben.«

Priola sah kurz zum Fenster raus. Linda Bohmann war nicht mehr zu sehen. »Nehmen Sie den Seitenausgang - den Korridor runter und dann rechts.«

»Danke.« Hogart verschwand durch die Tür.

 

Nachdem er den Gang entlanggelaufen war, bog er nicht zur Aula ab, sondern lief rechts zum Nebentrakt der Akademie. Ein Hinweisschild markierte den Seitenausgang. Als er die Tür öffnete und ins Freie treten wollte, versperrte ihm Linda Bohmann den Weg. Beinahe wäre er über sie gestolpert.

Sie saß im Rollstuhl, die Beine in eine Decke geschlungen, einige Mappen im Schoß, und hatte die Hand erhoben, um nach der Türklinke zu greifen.

»Frau Bohmann …« Hogart spürte, wie ihm die Hitze zu Kopf stieg und die Röte ins Gesicht schoss. Binnen Sekunden musste er umdenken: Vom Versicherungsdetektiv zum alleinerziehenden Vater einer Tochter, der in seiner Autowerkstatt Oldtimer restaurierte.

Linda ließ den Arm sinken. »Herr Hogart, richtig? Ich habe Ihren Wagen auf dem Parkplatz erkannt. Ich dachte mir, dass Sie sich durch den Seitenausgang aus der Akademie schleichen würden.«

Ihre Stimme hatte jede Freundlichkeit verloren. Sie unternahm auch keinerlei Anstalten, ins Gebäude zu fahren oder ihm aus dem Weg zu rollen. Sie ließ ihn einfach da stehen, halb im Türrahmen, die Hand auf der Klinke. Wie es schien, hatten die Lügen und Versteckspiele ein abruptes Ende gefunden.

»Wer sind Sie wirklich?«, fuhr sie ihn an.

Trotz des zornigen Blicks sah sie bezaubernd aus. Sie trug einen hellbraunen Rollkragenpullover und die gleiche holzfarbene Modeschmuckkette wie bereits vor zwei Tagen. Die Lesebrille steckte wie eine Sonnenbrille in ihrer Mähne. Aus dem Haarknoten fielen an der Seite einige Strähnen bis zum Hals.

»Gehen wir hinein, um in Ruhe darüber zu reden«, schlug er vor.

»Meine Zeit ist knapp. Wer sind Sie wirklich?«, wiederholte sie. »Ich vermute, das Mädchen an Ihrer Seite war gar nicht Ihre Tochter. Sind Sie von der Polizei?«

Hogart schüttelte den Kopf.

»Was für ein Zufall aber, dass die Kripo einen Tag nach Ihrem Besuch hier war, um mich ebenfalls nach einem gewissen Primär Ostrovsky zu befragen - schlau eingefädelt, meine Aufmerksamkeit auf den Zeitungsartikel zu lenken.«

»Einen gewissen Primär Ostrovsky?«, wiederholte Hogart. »Weshalb verheimlichen Sie der Kripo, dass sie sowohl Ostrovsky als auch Dornauer kannten?«

Sie funkelte ihn an. »Warum spionieren Sie mir hinterher? Und wer zum Kuckuck hat Ihnen erzählt, was ich der Kripo gesagt habe?«

»Falls Sie weiterhin verschweigen, was Sie über die Mordfälle wissen, stecken Sie bald in ernsten Schwierigkeiten.« Sie atmete tief durch. »Sie wollen mir drohen?«

»Im Gegenteil, ich möchte Ihnen helfen …«, gab Hogart zu.

Sie hielt für einen Moment in der Bewegung inne und sah ihn erstaunt an. »Das können Sie nicht. Möglicherweise finden Sie oder Ihre Schnüfflerkollegen eines Tages meine Beweggründe heraus.«

»Ich bin kein Kripobeamter, ich …«

Neben ihnen knirschten Autoreifen im Kies. Hogart und Linda sahen sich gleichzeitig um. Eichingers Wagen kam neben Hogarts Skoda zum Stehen. Der Ermittler stieg in Begleitung eines Beamten aus. Sie sahen sich kurz auf dem Gelände um und kamen anschließend direkt auf sie zu.

Lindas Stimme bekam einen genervten Ton. »Was wollen die schon wieder hier?«

»Das kann ich Ihnen sagen.« Hogart senkte die Stimme. »Ich vermute, die Beamten haben herausgefunden, welche Unterlagen aus dem Archiv der Dornauer-Klinik gestohlen wurden.«

Linda sah ihn fragend an.

»Die Beamten haben die verbleibenden Akten mit den Mikrofiches verglichen«, erklärte er. »Offenbar wurde Ihre Akte mit dem von Oberarzt Alfred Faltl unterzeichneten Überstellungsprotokoll vom Elisabethspital in die Reha-Klinik, den zugehörigen Arztbriefen und Abschlussberichten entwendet.« Er beobachtete Lindas Reaktion aus dem Augenwinkel. Sie machte einen verwirrten Eindruck, als wisse sie nicht, was hier gespielt wurde.

»Sagen Sie die Wahrheit«, riet Hogart ihr. Es war nur so ein Gefühl, doch etwas an dem Gespräch mit Linda kam ihm merkwürdig vor, ohne zu wissen, was es war. Schließlich zwängte er sich an ihr vorbei und ließ sie allein zurück.

Mit schnellen Schritten ging er Eichinger entgegen. Dieser machte schon von Weitem ein griesgrämiges Gesicht, als er Hogart erblickte. Als sie sich trafen, versperrte ihm der Beamte den Weg. Indessen ging Eichingers Kollege weiter auf Linda zu, die immer noch vor dem Seiteneingang wartete.

»Frau Professor Bohmann«, rief der Beamte. Mehr hörte Hogart nicht.

Eichinger musterte Hogart von oben bis unten. »Wer hat dir denn ins Gesicht geschlagen? Deine Exfreundin?« Er schmunzelte, dann stemmte er die Hände in die Hüften und wurde ernst. »Was zum Teufel tust du hier?«

»Ist mein Bruder noch in U-Haft?«, fragte Hogart anstelle einer Antwort. Eichinger erwiderte nichts.

»Ihr habt in Dornauers Klinik endlich Bohmanns Akten gefunden, nicht wahr?«

Hogart kannte diesen Blick. Er war auf dem richtigen Weg. Eichinger kochte innerlich vor Wut. Seine Backenmuskeln arbeiteten. »Ihr habt euch den Falschen vorgeknöpft. Lasst Kurt endlich frei!«

»Er ist immer noch verdächtig, und wenn du länger in diesem Fall herumschnüffelst, zählst du auch zu den Verdächtigen«, drohte Eichinger.

»Ihr habt nichts gegen Kurt in der Hand.«

»Noch nicht. Hauser hat schon den Durchsuchungsbefehl beantragt. Der Richter genehmigt ihn innerhalb der nächsten Stunde. Ich gebe dir einen guten Rat.« Er legte Hogart den Finger auf die Brust. »Halte dich raus und verschwinde von hier.«

Hogart hatte es satt, sich angreifen zu lassen und gute Ratschläge zu erhalten. Er wandte sich kommentarlos ab und ging auf seinen Wagen zu. Als er im Auto saß, beobachtete er, wie die Beamten Linda ins Gebäude begleiteten. Wieder dachte er an den blinkenden Anrufbeantworter aus Priolas Büro. Das war der Schlüssel. Er hätte viel früher draufkommen müssen. Doch es war nicht zu spät. Er musste sich lediglich beeilen, bevor die Kripoermittler in Kurts Wohnung sämtliche Spuren verwischten.

Gruber, Andreas - Peter Hogart 2
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