11
Um sieben Uhr morgens lag feiner Nebel über dem Rasen des Schönbrunner Schlossparks. Der Asphalt und die Schotterwege glänzten vom nächtlichen Gewitterregen.
Hogart beendete seine Joggingrunde, die am Schloss vorbeiführte, dem Tiergarten, dem alten Bad und der Maria-Theresien-Kaserne. Die frische Luft vertrieb seine Kopfschmerzen. Eigentlich sollte er wegen seines Beckenschiefstands orthopädische Schuheinlagen mit einem fünfzehn Millimeter hohen Keil tragen, doch davon bekam er nur noch größere Hüftschmerzen. Außerdem hasste er Ärzte genauso wie Krankenhausbesuche. Durch regelmäßiges Joggen und die anschließenden Dehnungsübungen hatte er seine Wirbelsäulenprobleme auch ohne Einlagen im Griff - vorausgesetzt er lief regelmäßig.
Als Hogart in die Tivoligasse einbog, entfernte sich gerade ein Polizeiwagen von dem Eingang seines Wohnhauses. Sein Timing hätte nicht besser sein können. Die Beamten waren bestimmt nicht wegen den im Treppenhaus pennenden Diskothekenbesuchern hier gewesen. Seit gestern versuchte Garek, ihn zu erreichen, doch Hogart wusste noch zu wenig über das Videoband, um es der Kripo auszuhändigen.
Nachdem er geduscht hatte und in bequeme Jeans und ein Poloshirt geschlüpft war, nahm er den Vertrag von Medeen & Lloyd aus dem Faxgerät. Er überflog das Honorar und die Punkte mit den Nebenkosten, die er mit Kohlschmied ausgehandelt hatte, unterzeichnete den Vertrag und faxte ihn zurück. Höchste Eisenbahn, mit den Recherchen wegen des Brands in der Gebietskrankenkasse zu beginnen. Doch zuvor kochte er sich eine Tasse starken, schwarzen Kaffee, die er auf dem Balkon trank. Die Titelseite der Morgenausgabe berichtete immer noch über den Mord an Doktor Abel Ostrovsky, doch es stand nichts Neues darin. Hogart rauchte eine Zigarette, während er versuchte, den Artikel zu lesen, doch seine Gedanken kehrten immer wieder zu Madeleine Bohmann zurück. Dieses Teufelsweib verstand es genauso, ein Bild zu malen wie einem Mann den Kopf zu verdrehen oder ihn in den Wahnsinn zu treiben.
Als Hogart den Kulturteil überblätterte, läutete es an der Tür. Es war Kurt, der wieder mal seine Morgentermine abgesagt hatte. Er trug die gleiche saloppe Kleidung wie am Vortag. Hogart ahnte bereits, was er hier wollte. Tatjana hatte ihrem Vater von dem Besuch in der Michaeiergruft erzählt, und nun wollte er wissen, wie es im Haus der Künstlerin gelaufen war. Sie gingen auf den Balkon, während Hogart die wichtigsten Details berichtete.
Als er endete, schien Kurt regelrecht enttäuscht. Er lehnte an der Balustrade und blickte auf die Straße. »Du warst tatsächlich in ihrer Mühle und hattest keinen Sex mit ihr?«
»Nicht jeder ist so scharf auf eine Nummer wie du.«
»Ja, aber du warst bei ihr zu Hause. Großer, ich mach mir ernsthafte Sorgen um dich.«
Hogart wusste, die heitere Laune seines Bruders war bloß aufgesetzt. Er deutete auf das Titelbild der zusammengeklappten Zeitung. »Mach dir lieber Sorgen um Ostrovskys Mörder.«
Schlagartig wurde Kurt ernst. »Ich lag die halbe Nacht wach«, gab er zu. »Deine ganzen Recherchen und so … mir wird die Sache zu heiß. Meinst du nicht, wir sollten zur Polizei gehen?«
»Früher hättest du anders gehandelt«, antwortete Hogart.
»Damals hatte ich weder Familie noch einen Ruf als Chiropraktiker zu verlieren.«
»Ich kann sowieso nicht ewig an der Sache dranbleiben. Ich muss heute noch andere Dinge erledigen, aber gib uns noch eine Stunde Zeit.« Hogart steckte sich eine Zigarette an.
»Du Schlaumeier rauchst also auf dem Balkon!«, stellte Kurt erstaunt fest.
»Seit gestern Abend.«
»Details?«
»Später. Fahren wir in das physiotherapeutische Zentrum, in dem das Video gedreht wurde«, schlug Hogart vor. »Reden wir mit diesem Doktor Dornauer und versuchen herauszufinden, was es mit diesem Film auf sich hat.« Er hatte sich das Video letzte Nacht noch einmal angesehen, aber er kam nicht dahinter, was darauf zu sehen war, das es wert war, versteckt zu werden.
»Und wenn der Film nichts zu sagen hat?«
»Dann wird sich Garek darum kümmern.«
Kurt runzelte die Stirn, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte. Bestimmt ging ihm genauso wie Hogart die Aussage des Primars durch den Kopf, wonach er sich gescheut hatte, das Video der Kripo auszuhändigen. »Eine Stunde! Dann muss ich wieder in die Praxis.«
»Versprochen.«
Die Dornauer Klinik lag am östlichen Stadtrand von Wien, wo die Donau das Stadtgebiet verlässt und das Augebiet begann.
Das Fenster von Hogarts Auto stand offen, aber er kurbelte es rasch nach oben. Die hohe Luftfeuchtigkeit trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Kurioserweise war die Donau in der brütenden Hitze dieses Frühjahrs nahezu ausgetrocknet. Um die kleinen Inseln mit den Weiden bildeten sich großflächige Sandbänke. Dazwischen tauchten immer wieder Strudel und Stromschnellen auf, die dem Fluss eine erdbraune Farbe verliehen. Der meterhohe Hochwasserschutzdamm schien im Moment völlig unnötig zu sein.
Nahe am Ufer sah Hogart bereits die Türme der Reha-Klinik durch die Bäume. Er stellte den Wagen in der Besucherzone zwischen einem Audi und einem Mercedes ab. Von dort gingen sie durch einen Park, der um das Gebäude herumführte. Die Klinik war im altertümlichen Krankenhausstil errichtet worden. Graues Mauerwerk und hohe vergitterte Fenster blickten durch das Blätterdach der Bäume. So hatte sich Hogart immer das perfekte Geriatriezentrum vorgestellt: So weit das Auge reichte nur Rundbögen, Säulen und wuchtige Balustraden, die auf die Psyche drückten. Hogart malte sich die hohen, nach Kalk stinkenden Räume und die endlos langen Gänge bildhaft aus. In diesem Loch mussten sogar halbwegs gesunde Patienten krank werden.
»Du sagtest, das wäre eine Privatklinik?«
Kurt nickte. »Ich sagte aber auch, dass ich nie einen meiner Patienten dorthin schicken würde.«
»Wie ist Dornauer überhaupt zu diesem Gebäude gekommen?«
Kurt erzählte, dass es früher eine Kuranstalt gewesen war, die der Architekt Moreau 1805 errichtet hatte. Einer Sage zufolge habe ein Basilisk den Brunnen vergiftet. Später fand man heraus, dass es sich um Schwefelquellen handelte, dennoch trug das Thermalwasser auch heute noch den Namen Basiliskenquelle. Die Gemäuer beherbergten immer noch die alten Dampfbäder, mit denen man jahrzehntelang arthritische und rheumatische Beschwerden, Leber-, Gallen- und Nierenleiden, Gelenks- oder Wirbelsäulenprobleme behandelt hatte. Als die Anstalt 1971 geschlossen wurde, übernahm Doktor Dornauer das Areal von der Stadtgemeinde zu einem Spottpreis, um seine private Reha-Klinik zu eröffnen. Seitdem hatte er nichts investiert.
Je näher sie durch den Park an das Gebäude herankamen, desto intensiver stank es nach Schwefel, als treibe sich tatsächlich ein Basilisk in der Gegend herum. Das Freischwimmbecken mitten im Wald war leer. Auf den abgeschlagenen Fliesen lagen Äste und verrottete Blätter vom letzten Herbst. Das in Marmor gemeißelte Logo - eine stilisierte Therme mit der Äskulapschlange - war zur Hälfte von wildem Efeu umwuchert.
Endlich kamen sie zum Eingangsbereich. Unmittelbar vor dem Treppenaufgang stand eine Handvoll Autos.
»Hierhin kann man auch fahren?«, fragte Hogart.
»Ja, ist aber ein Umweg über die andere Seite, weil …«
»Still!« Hogart deutete auf einen metallic-schwarzen Audi. »Eichingers Wagen«, flüsterte er. Das Schiebedach stand offen. Hogart legte den Kopf schief. Er hörte das Knacken von Funkgeräten.
An der Balustrade lehnte ein Polizeibeamter, der soeben einen Zigarettenstummel über die Brüstung schnippte.
»Hier stimmt etwas nicht«, sagte Hogart. »Eichinger ist hier, aber das ist nicht sein Revier. Für diese Gegend ist das KK-Ost zuständig.«
»Gehen wir hin und fragen, was los ist«, schlug Kurt vor.
»So wie gestern?« Hogart dachte daran, dass er sich im Kaiserin-Elisabeth-Spital als Ermittler ausgegeben hatte. »Keine gute Idee.«
Sie standen hinter dem letzten Baum am Wegende und beobachteten, wie einige Beamte das Gebäude verließen und zu ihren Wagen gingen.
»Was ist damals zwischen dir und Eichinger vorgefallen?«
Hogart schwieg.
»Du sagtest, die meisten im Dezernat könnten ihn nicht leiden …«
»Was soll ich dir erzählen?«, fragte Hogart. »Eichingers Kollegen kassieren Geld von Bordellbesitzern, weil sie Planquadrate verraten, oder brechen den Polizeisafe der eigenen Wachstube auf, um die beschlagnahmten Drogen zu verkaufen.«
»Du verarschst mich?« Kurt sah ihn mit großen Augen an.
»Was dachtest du denn, wie das läuft? Die Drogenfahnder haben einen besseren Kontakt zur Szene als die Süchtigen. Solange der Preis stimmt, verkaufen sogar die Beamten des Bundeskriminalamts Daten an diejenigen, die es sich leisten können. Schau mich nicht so an, solche Dinge passieren eben.«
»Und warum erfährt niemand davon?«
Hogart bedeutete seinem Bruder, leiser zu sprechen. »Noch nie vom Schulterschluss gehört? Über Missstände in den eigenen Reihen wird hinweggesehen, Fehler werden toleriert, Kollegen gedeckt. So funktioniert das, und wer sich nicht an den Gruppendruck hält, ist ein Kameradenschwein.«
»Aber die Disziplinarkommission?«
»Ach was! Vor der wird kein Wort zugegeben, sonst decken die noch mehr auf, und wer weiß, wie viele darüber hinaus drinhängen.«
Kurt sah zur Klinik. »Und was glaubst du, passiert hier gerade?«
»Keine Ahnung. Aber ich bezweifle, dass Eichinger in eine schräge Sache verwickelt ist. Er hat seine eigene Auffassung von Gerechtigkeit. Vor Jahren brachte er einige Kollegen vor Gericht, die eine Lokalbesitzerin gedeckt hatten, in deren Nachtclub mit Drogen gedealt wurde. Die Kollegen wurden aber nicht suspendiert, sondern bloß in eine andere Abteilung versetzt.«
»Unglaublich«, flüsterte Kurt.
Hogart wusste, dass auch Eichinger damals strafversetzt worden war und er seither mit Garek zusammenarbeiten musste. Sicherheitshalber hatten sie auch die Zange bei seiner Frau angesetzt, die im Bundesrechenzentrum arbeitete. Seit drei Jahren schrieb sie nur noch Strafverfügungen. Angeblich hatte unter anderem auch Staatsanwalt Hauser seine Finger bei dieser Entscheidung mit drin gehabt. Gewöhnlich genügten solche Maßnahmen für eine junge Familie mit zwei Kindern. Eichingers Vorgesetzter dachte, er hätte ihn damit gebrochen. Aber so ein Typ wie Eichinger ließ sich nicht biegen. Er gab niemals auf. Hogart wusste, dass Eichinger im Moment zwar die Klappe hielt, doch wie lange noch?
»Wir sollten gehen«, schlug Hogart vor. Als er sich umwandte, knackte ein Ast hinter ihnen.
Ein junger Beamter in einer dunkelblauen Uniform stand zwei Meter von ihnen entfernt im Wald. Der Sicherungsriemen seines Holsters war offen. Seine Hand lag auf dem Griff der Dienstwaffe. In der anderen Hand hielt er eine Rolle mit gelbem Absperrband.
»Was zum Teufel machen Sie da?«
Hogart warf seinem Bruder einen Blick zu. Dieser brachte den Mund nicht auf.
»Wir wollen zu Doktor Dornauer«, sagte Hogart schließlich.
»Zeigen Sie mir Ihre Ausweise!« Ohne Hogart aus den Augen zu verlieren, stellte der Beamte die Rolle zu Boden und griff zum Funkgerät. »Zwei verdächtige Personen an der Nordseite der Klinik aufgefasst. Brauche Verstärkung.«
Als sie dem Beamten ihre Führerscheine reichten, warf er einen kurzen Blick in die Papiere. »Arbeiten Sie in der Klinik, Doktor Hogart?«
Kurt schüttelte den Kopf.
Das Funkgerät knackte. Der Beamte gab die Namen durch. Kurz darauf glaubte Hogart, Eichingers verzerrte Stimme aus dem Walkie-Talkie zu hören - aber es klang nicht nach der großen Wiedersehensfreude.
Hinter Hogart knackten die Äste auf dem Waldboden. Die Verstärkung war da.
»Gehen Sie voraus!«, befahl der Beamte.
Sie marschierten an dem Baum vorbei auf den Eingang der Klinik zu.
Es dauerte nicht lange, bis sie Eichinger gegenüberstanden. Jeder, der einmal mit dem Ermittler zu tun gehabt hatte, wusste, dass er stets eine Reservekrawatte und eine Flasche Rasierwasser im Seitenfach seines Wagens mit sich führte - für alle Fälle. Doch diesmal wirkte der Ermittler nicht wie aus dem Ei gepellt. Sein Krawattenknoten saß schief, das Hemd hing teilweise aus der Hose und er war unrasiert. Lernte Eichinger etwa von Garek?
Bevor der Kripoermittler etwas sagen konnte, deutete Hogart auf die Dienstwagen. »Was machen die Beamten des KK-West hier?« Bestimmt waren sie schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen.
»Was machst du hier?« Eichinger schlüpfte aus den Latexhandschuhen und ließ sie in der Hosentasche verschwinden.
»Wir gehen spazieren.«
»Hältst du mich für blöd?« Eichingers Stimme krächzte. »Entweder hast du etwas mit dieser Sache hier zu tun …« - er nickte zum Aufgang des Gebäudes - »… oder du schleichst wegen des Brandes in der Krankenkasse hier herum.«
Wenn es doch nur so wäre, dachte Hogart. »Welche Sache?«, fragte er.
Eichinger antwortete nicht. Er schnippte mit den Fingern, worauf zwei Beamte herbeiliefen. »Das ist Doktor Kurt Hogart.«
Einer der Uniformierten legte Kurt die Hand auf die Schulter. »Kommen Sie bitte mit.« Sie führten Kurt zu einigen Autos, die außer Hörweite standen.
Hogarts Herz schlug schneller. »Was soll das?«, protestierte er. »Ihr habt doch schon seine Aussage.«
Eichinger trat einen Schritt näher und presste Hogart den Zeigefinger auf die Brust. Hogarts Blutdruck ging hoch. Er hasste es, wenn man ihn auf diese Art und Weise anfasste, doch an Eichingers Blick sah er, dass es im Moment besser war zu schweigen.
»Ihr beide steckt ziemlich tief in der Scheiße«, flüsterte Eichinger. »Die Leute im Dezernat versuchen, dich seit gestern zu erreichen. Du hast dich bei der Telekom über Ostrovskys Telefonate aus der Mordnacht informiert.« Während Eichinger noch näher kam, wurde seine Stimme leiser. »Du hast Eddie Seidl, diesen verrückten Archivar, im Krankenhaus besucht und dich als Beamten ausgegeben - so richtig professionell mit Latexhandschuhen. Ist dir klar, dass du eine laufende Ermittlung behinderst? Allein dafür könntest du für ein Jahr in den Bau wandern.«
»Komm schon, ich …«
»Hier geht es um keinen lächerlichen Brand in der Krankenkasse, sondern um Mord«, unterbrach Eichinger ihn. »Das ist eine Kripoermittlung und du bist Zivilist.«
Hogart sah zu seinem Bruder. Dessen hochroter Kopf wirkte, als hätte ihm der Beamte soeben seine Rechte vorgelesen. Im nächsten Moment wurde er unsanft auf den Rücksitz eines Polizeiwagens verfrachtet. Er merkte, wie Kurt ihn Hilfe suchend ansah, dann wurde die Tür zugeworfen. »Wohin bringt ihr ihn?«
»Zum Picknick. Was glaubst du denn?« Eichinger wandte sich nicht um, als der Wagen gestartet wurde und losfuhr.
»Kurt hat nichts mit dem Mord an Ostrovsky zu tun.«
»Und Jack the Ripper nichts mit den Morden an den Nutten.« Eichinger ließ den Kopfkreisen, sodass das Genick knirschte. Das Knacken hörte sich nicht gesund an.
»Wir haben ihn überprüft. Seine Telefonnummer war tatsächlich siebenmal auf Ostrovskys Handy und dreimal auf dem Display der Anrufanzeige seines Festnetzes gespeichert.«
»Na und? Er kannte Ostrovsky.«
»Scheißdreck! Vielleicht hat er Ostrovsky und Dornauer ermordet.«
Hogarts Mund trocknete aus. »Dornauer wurde ermordet?«
»Rede ich Spanisch? Weswegen glaubst du, sind wir hier?«
»Kurt hat nichts mit der Sache zu tun. Das ist lächerlich!«
»Blödsinn!«, fuhr Eichinger ihn an. »Seine Fingerabdrücke sind auf Ostrovskys Türklinke und auf den Fensterscheiben an der Rückseite der Villa. Seine Schuhabdrücke sind in Ostrovskys Blumenbeeten. Die Schuh- und Absatzlänge, die Sohlenbreite und das Profil passen zu den Schuhen, die er gestern getragen hat. Die Nachbarn haben sogar gesehen, wie er am Samstag ums Haus geschlichen ist.«
»Der Mord passierte aber am Freitagabend.«
»Und wo ist sein Alibi für die Mordnacht?«
»Er …« Hogart überlegte. »Derselbe Täter, der Ostrovsky ermordete, hat auch hier zugeschlagen - andernfalls wärst nicht du, sondern das KK-Ost für diesen Tatort zuständig.«
Eichinger gähnte in die Faust. »Schlau kombiniert, Sherlock.«
»Aber Kurt kann Dornauer nicht ermordet haben. Ihr habt ihn gestern verhört, dann war er bei mir, anschließend in seiner Praxis und zu Hause.«
»Und Freitagabend?«
Hogart schwieg, als ihm klar wurde, dass Dornauer in derselben Nacht wie Ostrovsky ermordet worden war. »Aber er ist mein Bruder! Ich …«
»Kain und Abel waren auch Brüder«, unterbrach Eichinger ihn. Er überlegte eine Weile, dann schob er sich einen Kaugummi in den Mund. »Hog, du weißt, ich mag dich nicht besonders, aber ich gebe dir trotzdem einen guten Rat. Dein Bruder steckt in dieser Sache drin, und falls du ihn deckst, zieht er dich mit rein. Überleg doch mal: Er klebt dir wie eine Klette an den Fersen. Hast du schon mal daran gedacht, dass er dich benutzt? Wenn du etwas weißt, spuck es aus!«
Hogart atmete tief durch. »Ostrovsky hat Kurt kurz vor seinem Tod angerufen.«
»Wissen wir.«
»Etwas wisst ihr noch nicht …« Hogart erzählte von der Nachricht auf dem Anrufbeantworter, von dem Videoband, das Kurt unbedingt finden müsse, wo es versteckt war, wie er es gefunden hatte und was sich darauf befand.
Eichingers Augen weiteten sich für einen Moment. »Bist du komplett verrückt? Du warst am Tatort und hast Beweismittel unterschlagen! Damit stehst du ebenfalls unter Mordverdacht.«
»Verdammt, hör auf damit! Du kennst mich.«
»Ebendeshalb! Was ist auf dem Band zu sehen?«
»Eine gewisse Professorin Linda Bohmann«, antwortete Hogart. »Sie kannte Dornauer. Das Video wurde in dieser Klinik gedreht. Seit ihrem Unfall von 1988 ist sie querschnittgelähmt. Aus dem Archiv des Kaiserin-Elisabeth-Spitals wurden Unterlagen aus dem gleichen Jahr gestohlen.«
»Das hast du mit Seidls Hilfe ja fein rausbekommen«, kommentierte Eichinger. »Was hat sie mit Ostrovsky zu tun?«
»Nichts, sie kennt ihn nicht, zumindest behauptet sie das.«
»Sag bloß, du warst bei ihr?«
Hogart antwortete nicht.
»Scheiße, Mann!« Eichinger wandte sich ab.
»Hör zu«, sagte Hogart. »Die Frage lautet doch: Was hat der ehemalige Primär des Elisabethspitals mit dem Therapeuten eines physiotherapeutischen Zentrums gemeinsam? Die Antwort lautet: Ostrovsky besaß ein Video, auf dem Dornauer mit Linda Bohmann zu sehen ist. Die Verbindung liegt im Jahr 1988.« Hogart nickte zu dem Gebäude. »Vermutlich wurden auch hier Unterlagen aus diesem Jahr gestohlen.«
»Schlaues Bürschchen. Unsere Leute durchforsten gerade das Archiv.« Eichinger funkelte Hogart an. »Ab sofort lässt du die Finger von dem Fall. Wenn ich dich jetzt laufen lasse, und die Interne kommt dahinter, was du bisher getan hast, haben die mich an den Eiern.«
Hogart sagte nichts, obwohl er wusste, dass an-den-Eiern-haben noch untertrieben war. Mit diesem Fehltritt hatte die Interne etwas in der Hand, um Eichinger endgültig fertigzumachen - und viele im Innenministerium würden sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen wollen.
»Ich möchte dieses Video sehen. Und solange das nicht der Fall ist, bleibt dein Bruder auf dem Revier!«
»Deine Leute sollten sich lieber Linda Bohmann vornehmen und ihre Verbindung zu Ostrovsky und Dornauer prüfen.«
»Machen wir, aber vorher verhören wir deinen Bruder. Besorg mir das Video!«
»Okay.« Hogart wandte sich ab, um den gleichen Weg wieder zurückzugehen, doch die Beamten von der Spurensicherung hatten mittlerweile den Park mit gelben Bändern abgesperrt.
»Du musst diese Straße entlanglaufen, um zum Besucherparkplatz zu kommen.« Eichinger deutete in die andere Richtung.
Hogart setzte sich in Bewegung, blieb aber abrupt stehen. »Wie heißt eigentlich Staatsanwalt Hausers Frau?«
Eichinger starrte Hogart an, als zweifle er an dessen Verstand. »Ich glaub Anne oder so, warum?«
»Ich habe vor Kurzem ein Foto von ihr gesehen.« Ohne einen weiteren Kommentar verließ Hogart das Areal auf dem Schotterweg.
»Hauser ist ein Arsch!«, rief Eichinger ihm nach. »Der kann dir nicht helfen, der lässt sich von ganz anderen Typen wie dir schmieren!«
Die Beamten an der Balustrade hielten in ihren Gesprächen inne und drehten sich zu Eichinger um. Garek hätte das nicht so laut rausposaunt, doch Eichinger hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen, wenn es darum ging, bei anderen anzuecken.
»Darum geht es nicht«, rief Hogart zurück. Während er sich von dem Gebäude entfernte, bekam er Magenschmerzen. Aus irgendeinem Grund wollte Ostrovsky das Video nicht der Kripo zukommen lassen. Hogart hatte keine Ahnung, was mit dem Band passierte, falls er es aufs Revier brachte. Möglicherweise ließ es jemand verschwinden, der genau wusste, was darauf zu sehen war und wem es schaden könnte. Und falls die Anweisung von oben kam, konnte Eichinger nicht einmal etwas dagegen unternehmen. Bevor Hogart das Video aus der Hand gab, musste er zumindest eine Kopie davon anfertigen.
Beim Gedanken daran, was mit Kurt geschehen war, wurde ihm noch übler. Die Indizien sprachen gegen ihn, und während der achtundvierzigstündigen Untersuchungshaft würden sie ihn so in die Mangel nehmen, dass er nicht mehr wusste, welcher Tag heute war. Hogart konnte nur hoffen, dass Kurt endlich mit dem Namen seiner Patientin herausrückte, die ihm ein Alibi geben konnte. In der Zwischenzeit musste er irgendwie herausfinden, was Freitagabend passiert war.
Hogart wählte mit seinem Handy Lisas Nummer. Er brauchte eine Liste aller Telefonate, die Doktor Dornauer am Freitag von seinem Büro aus geführt hatte.
»Hallo Lisa«, sagte er, nachdem sie abgehoben hatte. »Ich weiß, ich bin dir und deinem Mann noch ein Essen im Marriot schuldig, aber …«
»Vergiss das Essen!«, schnappte sie ins Telefon. »Die Kripo war hier und hat mich nach dir befragt. Die Typen haben irgendwie rausgefunden, dass ich die Datenbank nach Ostrovskys Telefonverbindungen gefiltert habe. Ich kann dir nichts mehr sagen.« Ohne ein weiteres Wort legte sie auf.
Wie vor den Kopf gestoßen starrte Hogart auf das Handydisplay. Dann blickte er durch die Bäume zur Klinik. Auf dem Areal schwirrten zu viele Beamte herum. Keine Chance, sich dort näher umzusehen. Da sah er den verwitterten Wegweiser einige Meter vor sich auf dem Schotterweg. Die beschrifteten Holzpfeile zeigten in alle möglichen Richtungen: Waldbad, Kurpark, Fitnessparcours, Therme, Bäder, Büros, Archiv, Besucherparkplatz.
Einer der schmalen Waldpfade führte zum Archiv. Er wäre verrückt, würde er nicht zumindest versuchen, dort etwas herauszufinden. Hogart sah sich um, dann stieg er über das gelbe Absperrband.