25
Zu Hause angekommen wanderten die Schuhe, die Anzughose und das zerrissene Hemd sofort in den Mülleimer. Nach einer heißen Dusche überlegte Hogart, ob er etwas essen sollte. Bis auf den Frühstückskaffee, der ihm vorhin durch die Nase gelaufen war, hatte er nichts im Magen, und mittlerweile war es kurz vor vier Uhr. Die Zeit lief ihm davon. Also würgte er rasch ein Sandwich runter und verließ anschließend die Wohnung.
Er fuhr mit dem Wagen zu dem Labor in der Rosensteingasse und fand den Chemiker, mit dem er am Vormittag telefoniert hatte. Von wegen der Beste seines Jahrgangs! Albert trug eine Hornbrille und sah aus, als hätte er erst kürzlich sein Studium abgebrochen und jobbte nun als Teilzeitkraft, um sich ein paar Euros zu verdienen. Hogart schleppte den Benzinkanister durch Alberts Büro und wuchtete ihn auf den Tisch.
»He, was soll …?«
»Bitte!«, unterbrach Hogart ihn. »Tun Sie mir einen Gefallen. Untersuchen Sie den Kanister samt Inhalt und finden Sie heraus, ob es sich dabei um den gleichen Behälter handelt, dessen Reste Sie aus dem geschmolzenen Glas extrahiert haben.«
Albert lachte gekünstelt auf, dann blickte er zur Wanduhr. »Ich gehe jetzt nach Hause.«
»Ich brauche das Ergebnis noch heute Abend«, drängte Hogart.
»Wer sind Sie? Etwa mein Boss oder meine Mutter?«
Hogart atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Okay, die Zeit drängte, und er hatte es falsch angepackt. »Ich brauche das Ergebnis noch heute Abend«, wiederholte er leise. »Falls Sie mir die Daten rechtzeitig liefern, beteilige ich Sie an meinem Honorar.«
»Oh, Ihr Honorar, verstehe!« Albert lachte wieder gekünstelt. »Und um wie viel handelt es sich dabei, Rockefeller?«
Hogart ging zur Tür. »Genug, um Ihr Studium zu beenden.«
»Woher wissen Sie, dass ich mein Studium abgebrochen habe?«, rief Albert ihm nach.
Hogart wandte sich um und warf einen kurzen Blick ins Büro.
»Auf Ihrem Namensschild an der Tür steht kein Titel, und die Staubschicht auf Ihren Chemiebüchern im Schrank ist dicker als das Glas Ihrer Hornbrille.«
Alberts Kinnlade klappte herunter.
»Bis heute Abend, Kumpel.« Hogart verließ das Labor.
Während Hogart quer durch die Stadt und dann über die große Uferstraße zum Donaupark fuhr, setzte das Sommergewitter ein. Am Himmel entstand ein merkwürdiges Zwielicht, das den Horizont in orange und violette Farbtöne tauchte. Blitze zuckten jenseits der Wolkendecke, Nieselregen setzte ein und ein gigantischer Regenbogen überzog die Stadt.
Als Hogart die Bungalowsiedlung neben dem Donauturm erreichte, liefen die Menschen mit Zeitschriften über den Köpfen an seinem Wagen vorüber. Eilig verschwanden sie in ihre Häuser. Der blaue Toyota mit den beiden Männern parkte immer noch zwischen den Bäumen. Zusätzlich stand ein weiterer Beamter vor Lindas Tür.
»Peter Hogart«, stellte er sich dem Mann vom Observierungsteam vor und wollte ihm seinen Ausweis zeigen, doch der wehrte ab.
»Ich kenne Sie. Gehen Sie rein, Frau Bohmann hat ausdrücklich verlangt, Sie durchzulassen, falls Sie auftauchen.« Der Beamte öffnete ihm die Tür.
Im Haus roch es nach Kaffee und Kuchen. Hogart hörte das Scheppern eines Backblechs.
Zaghaft ging er in den Vorraum. »Hallo?«
Niemand war im Wohnzimmer, niemand in der Küche. Die Kaffeemaschine gluckste, die Backrohrbelüftung lief, Zucker und Milch standen in blau gepunkteten Schalen bereit, dazwischen eine Dose Staubzucker. Daneben lag ein Tablett mit einem dampfenden Rosinenkuchen. Es sah aus wie in Sabinas Küche, wenn sie für Kurt, Tatjana und ihn eine Jause vorbereitete, was leider nur zu selten vorkam. Bei dem Anblick begann Hogarts Magen zu krachen. Als er wieder das Wohnzimmer betrat, war Linda plötzlich hinter ihm. Ihre Hände lagen auf den Rädern des Rollstuhls.
»Sie sind ja doch noch gekommen.« Sie lächelte. Die Lesebrille hing am Lederband um ihren Hals. »Hat Sie meine Leibgarde nach Waffen durchsucht?«
»Ihnen fehlt der nötige Ernst.«
»Machen Sie nicht so ein Gesicht. Wie verlief Ihr Gerichtstermin?«
»Auf unbekannte Zeit verschoben.« Mehr sagte er nicht.
»Oh, ziemlich schweigsam jetzt. Heute Morgen auf dem Friedhof waren Sie gesprächiger.« Sie deutete zur Wohnzimmercouch. »Nehmen Sie doch Platz. Trinken Sie Kaffee?«
»Schwarz, ohne Zucker, danke.«
»Sie haben einen Schmierfilm an der Schläfe. Ist das Dreck?« Sie rümpfte die Nase. Hogart fuhr sich über die Stirn.
»Und Ihre Fingernägel. Sie haben doch nicht etwa in der Erde gewühlt?«
Natürlich, das bemerkte sie sofort. Aber wenn er in der Akademie mit einem frischen Veilchen aufkreuzte, fiel ihr nichts auf.
»Ich hatte eine Autopanne«, log er. »Musste den Reifen wechseln. Deswegen habe ich den Gerichtstermin verpasst.«
»Verstehe. Sie sind ja nicht wirklich Automechaniker, da kann so eine Panne schon recht lange dauern.«
Witzig. »Darf ich mich im Bad frisch machen?«
Sie zögerte einen Moment. »Aber bitte.« Sie zeigte ihm den Weg ins Badezimmer und verschwand anschließend in die Küche, wo sie mit dem Geschirr klapperte.
Hogart sah sich um. Handwaschbecken, Bidet und Toilette waren niedriger als gewöhnlich. Zu beiden Seiten der Badewanne befanden sich Haltegriffe. Der gesamte Raum war behindertengerecht eingerichtet.
Hogart betrachtete sein Gesicht im Wandspiegel. Er sah komplett erledigt aus. Zu viele Sorgen, zu wenig Schlaf. Auf der Stirn befand sich tatsächlich ein dunkler Streifen. Anscheinend färbte der Benzinkanister ab, und er hatte sich die Schmiere ins Gesicht gerieben.
Während der Wasserhahn lief und er sich die Hände einseifte, rief Linda aus dem Wohnzimmer. »Was gibt es Neues von der Obduktion?«
»Keine Ahnung.«
»Keine Ahnung? Sie kennen doch die Leute von der Kripo.«
»Ja … aber nicht den Pathologen, ich …« Hogart verstummte, als er den Kontaktlinsenbecher auf der Ablage sah.
»Was ist mit dem Pathologen?«, fragte sie nach einer Weile.
»Bartoldi ist ein seltsamer Kauz. Der braucht oft ein bis zwei Wochen, bis er zu einem Ergebnis kommt«, log Hogart. Während er redete und das Wasser laufen ließ, öffnete er den Kontaktlinsenbecher. Linda trug stets eine Lesebrille, aber in dem Behälter schwammen zwei dunkel gefärbte Haftschalen. Madeleines Augenfarbe war dunkelbraun, fast schon schwarz. Warum lagen ihre Kontaktlinsen in Lindas Badezimmer?
Hogarts Herzschlag begann zu rasen. Der Wasserhahn lief immer noch, der Spiegel beschlug bereits vom Dampf. Hogart öffnete den Hängeschrank neben dem Waschbecken. Darin befand sich nichts Auffälliges, bloß ein Stück Seife, Cremes, eine Zahnbürste, Zahnpasta, Wattestäbchen, Klopapierrollen, Tampons und Damenbinden. Bei den Medikamenten lagen ein Abführmittel und eine geöffnete Packung Schlafmittel: Rohypnol. Bei dem Gedanken, in Lindas Intimsphäre einzudringen, schoss ihm die Hitze zu Kopf. Er betrachtete die Tampons. Eigentlich hätte er es sich denken können. Wenn eine Frau von der Hüfte an abwärts querschnittgelähmt war, bedeutete das nicht, dass sie keine Periode bekam. Hogart öffnete den Wandschrank auf der anderen Seite des Spiegels. Bei dem Anblick gefror ihm das Blut in den Adern.
»Brauchen Sie noch lange?«, rief Linda vom Wohnzimmer.
»Ich komme gleich.« Hogart starrte auf die rote Packung Durex. Gefühlsecht, mit zehn Kondomen. Die Schachtel war offen und enthielt nur noch vier Präservative. Das Ablaufdatum war erst in einem Jahr. Bis vor zwei Jahren hatte Linda noch ein Verhältnis mit Rektor Priola gehabt - ein ziemlich platonisches, wie der Mann behauptet hatte. Unwillkürlich fielen ihm Madeleines Worte über Linda ein. Sie konnte keinen Sex haben, ihreFotze war so trocken und hohl wie ein alter Baumstamm. Was man von Madeleine nicht behaupten konnte. Sie schlief immerhin mit Staatsanwalt Hauser. Demnach könnte es sich bei den Kondomen möglicherweise um ihre handeln.
Im Fach darunter lagen ein roter Lippenstift, Eyeliner, Wimperntusche und Ohrringe. Bisher hatte er Linda stets ungeschminkt und immer ohne Ohrringe gesehen. Außerdem gehörten diese wuchtigen Gebilde mit der Form zweier in sich verschlungener Schlangen ohnedies Madeleine. Wie weit würde sie sich ohne ihre Kontaktlinsen wohl entfernen? Am liebsten hätte er sofort Garek angerufen, um ihm zu erzählen, dass dieser alte Hundesohn doch recht behalten hatte und Linda ihrer Schwester Unterschlupf gewährte. Was war er doch für ein Idiot gewesen. Die beiden Frauen hatten ihn seit ihrer ersten Begegnung an der Nase herumgeführt, ihre Spielchen mit ihm getrieben und ihm eine langjährige Hassgeschichte vorgespielt. Nun wurde ihm auch klar, warum Linda ihn zum Kaffee eingeladen hatte. Sie wollte ihn aushorchen, wie weit die Fahndung nach ihrer Schwester vorangeschritten war. Und während die Beamten jeden Winkel umkrempelten, verbarg Linda ihre Schwester vor den Augen der Beamten in ihrem Haus.
»Was machen Sie so lange im Bad? Der Kaffee wird kalt.«
»Fertig.« Hogart schloss den Schrank und drehte den Wasserhahn ab.
Bevor er ins Wohnzimmer zurückkehren wollte, sah er sich im Gang um. Eine Tür führte ins Esszimmer, eine in Lindas Büro und hinter einer geschlossenen befand sich wahrscheinlich ein Abstellraum. Die Tür zum Schlafzimmer stand eine Handbreit offen. Hogart spähte durch den Spalt. Der Vorhang des Fensters war zugezogen. Am Zipfel der Decke und des Leintuchs erkannte er das gemachte Doppelbett. So weit er den Raum im Spiegel des Kleiderschranks überblicken konnte, befand sich niemand darin. Allerdings sah er nicht, ob jemand auf der zweiten Betthälfte lag.
»Herr Hogart?«
Er fuhr herum. Das Quietschen der Räder hatte er gar nicht gehört. Linda stand mit dem Rollstuhl im Korridor.
»Schöne Wohnung«, sagte er. »Geschmackvoll eingerichtet.«
»Danke. Der Bungalow gehörte meinen Eltern. Er war sozusagen ihr Zweitwohnsitz neben der Engelsmühle.«
»Ich kenne die Mühle. Madeleine hat die untere Etage in ein Atelier umgewandelt«, sagte Hogart.
Linda zuckte mit den Achseln. »Kann sein, ich war schon lange nicht mehr dort. Seit meinem Unfall ist es ziemlich beschwerlich, mit dem Rollstuhl den Weg zur Mühle hochzufahren. Damals kauften meine Eltern dieses Haus. Der Vorbesitzer war ebenfalls Rollstuhlfahrer, wir mussten nicht viel umbauen.«
Sie setzten sich ins Wohnzimmer, wo Linda seine Tasse füllte. Sie tranken Kaffee und aßen Kuchen.
»Wie sahen Madeleines erste Gemälde aus?«
Linda sah ihn fragend an.
»Ihre Frühwerke. Wovon handelten sie?«
»In ihrem ersten Zyklus malte sie Bilder von der Engelsmühle, der Engelmacherin und dem Brunnen. Angeblich gibt es da eine Sage, die sie schon immer faszinierte.«
»Haben Sie nie den Drang verspürt, selbst wieder zu malen?«
»Aber das haben wir doch schon einmal besprochen.« Sie lächelte. »Ich fühle mich wie ein Fisch im Sand, und wenn …« Plötzlich verstummte sie. Sie blickte kurz zu Hogart, dann sah sie rasch weg.
Wie ein Fisch im Sand. Diesen Satz hatte Madeleine erst unlängst zu ihm gesagt, als er sich mit ihr im Michaelerkeller über Malerei unterhalten hatte.
Hogart schob die Kaffeetasse beiseite. Er faltete die Hände zusammen und wurde ernst. »Linda, ich schlage vor, wir lassen das Theater.«
Sie sah ihn irritiert an. »Welches Theater?«
»Kommen Sie. Draußen patrouilliert die Polizei, um Sie zu Ihrem eigenen Schutz zu observieren, dabei ist das völlig unnötig, nicht wahr?«
»Das behaupte ich doch die ganze Zeit: Es ist lächerlich.«
»Genau. Weil Ihnen Madeleine nie etwas antun würde. Habe ich recht?«
»Stimmt, sie ist meine Schwester.«
»Und Sie gewähren ihr Unterschlupf!« Hogart beobachtete Lindas Reaktion.
Der Frau stockte für einen Moment der Atem, dann begann sie zu lachen. »Sie sind verrückt!«
»Wo hält sich Madeleine versteckt?«
»Warum sollte sie sich verstecken?« Lindas Stimme zitterte. »Weil sie eine Mörderin ist.«
Linda ließ die Worte auf sich einwirken. »Verlassen Sie bitte mein Haus!«
Hogart erhob sich, doch nicht, um zu gehen. Er würde Linda nicht eher verlassen, bis sie ihm die Wahrheit erzählt hatte.
»Verstehen Sie denn nicht?«, brüllte er Linda an. »Sie wollen Ihre Schwester zum zweiten Mal vor der Polizei beschützen oder einer psychiatrischen Anstalt bewahren, doch diesmal handelt es sich um keine Körperverletzung mit einer Schere. Diesmal geht es um dreifachen Mord.«
»Wie können Sie so etwas behaupten?«
Hogart marschierte im Wohnzimmer auf und ab, während er ihr die Fakten präsentierte, die er innerhalb der letzten Tage zusammengetragen hatte.
»Freitagabend, kurz vor seiner Ermordung, telefonierte Ostrovsky mit Eddie Seidl, dem Archivar des Kaiserin-Elisabeth-Spitals, weil er sich Ihren chirurgischen Befund aus dem Jahr 1988 ansehen wollte. Plötzlich wird sein Terrassenfenster eingeschlagen. Madeleine steigt in sein Haus, überwältigt ihn und foltert ihn, bis er ihr verrät, wo sich die Unterlagen über Ihren Unfall befinden. Sie bricht im Archiv des Krankenhauses ein, wo sie die Dokumente stiehlt.«
Hogart wartete gar nicht erst Lindas Reaktion ab, sondern redete weiter. »In der Mappe entdeckt sie Ihr Überstellungsprotokoll in die Dornauer-Klinik. Der Physiotherapeut Dornauer könnte die Verbindung zwischen Ihnen und Ostrovsky aufdecken. Deshalb fährt sie in derselben Nacht zur Dornauer-Klinik, wo sie den Arzt in seinem Büro trifft. Sie überwältigt ihn, schleppt ihn in den Keller zu den alten Schwefelbecken und foltert ihn so lange, bis er ihr verrät, wo sich das Archiv mit Ihren Akten befindet. Madeleine lässt auch dort sämtliche Unterlagen zu Ihrem Fall verschwinden.«
Hogart dachte nach, ehe er fortfuhr. »Aber es sind noch nicht alle Spuren verwischt. Ein dritter Arzt hat das Überstellungsprotokoll unterzeichnet. Faltl. Er ist der Einzige, der die Verbindung zwischen Ihnen und den Ärzten aufdecken kann. In derselben Nacht fährt sie also noch zu Faltl, wo sie ihren Todesstreifzug fortsetzt. Der Mann überlebt Madeleines Folter ebenso wenig wie seine beiden Vorgänger und stirbt an inneren Blutungen.«
Hogart machte eine Pause. »Schließlich war nur noch eine einzige Sache zu erledigen. Madeleine musste Ihre Unterlagen auch noch in der Wiener Gebietskrankenkasse vernichten, wo sie das gesamte Archiv niederbrannte.«
Als er endete, sah Linda ihn entsetzt an.
»Sie sind verrückt!«
»Nicht ich bin verrückt«, widersprach er. »Ihre Schwester ist es! Sie wollte etwas vertuschen, machte dabei jedoch drei entscheidende Fehler: Sie vergaß, dass Priola Ihre Verbindung zu den drei Ärzten kannte - übersah, dass es in der Dornauer-Klinik eine Kopie Ihrer Krankenakte auf Mikrofiche gab - und dann starb ihr auch noch Faltl unter den Fingern weg, ehe er ihr verraten konnte, wo sich der Schlüssel zu seinem Schließfach befand.«
Lindas Arme zitterten. Sie hatte einen hochroten Kopf. »Aus welchem Grund sollte Madeleine das alles getan haben?«
»Ich weiß es nicht!«, brüllte Hogart. »Ich weiß nur, dass sie es getan hat. Und wenn Sie ihr dabei helfen unterzutauchen, machen Sie sich der Mittäterschaft schuldig. Sie decken eine Dreifachmörderin!« Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er konnte es nicht fassen, wie starrköpfig diese Frau war.
»Madeleine hat das nicht getan«, beharrte Linda.
Hogart ließ sich auf die Couch fallen. Seine Hände waren eiskalt, seine Knie zitterten. Er öffnete den Kragenknopf des Hemdes und rang nach Atem. »Sagen Sie mir, wo Sie Madeleine versteckt halten? Für Sie ist es noch nicht zu spät, heil aus der Sache rauszu…« Hogarts Zunge wurde schwer. »Scheiße, was …?«
Linda griff nach der Kaffeekanne. Sie fuhr damit in die Küche und leerte den Inhalt in den Ausguss.
Hogart wollte sich erheben, doch seine Beine wurden schwer wie Blei. »Verdammt … was haben Sie mit mir …?«
»Eine Spur Thiopental, gemischt mit Rohypnol«, antwortete Linda.
»Rohypnol … sind Tabletten …«, versuchte Hogart zu widersprechen, doch seine Zunge, die Lippen und der Gaumen fühlten sich wie gelähmt an.
»Aufgelöst und in den Kaffee gemixt.«
Er versuchte, sich zu erheben, rutschte jedoch von der Couch auf den Boden. Der Raum begann, sich um ihn zu drehen. Ihm fielen die Augen zu. Krampfhaft versuchte er, sein Handy aus der Hosentasche zu holen, doch er hatte keine Orientierung mehr und kein Gefühl in den Fingern.
Linda fuhr mit dem Rollstuhl näher heran. »Tut mir leid, ich fürchte, die Dosis war zu hoch. Eigentlich sollten sie jetzt nur schlafen.«
Mit aller Gewalt versuchte Hogart, die Augen zu öffnen. Er durfte nicht einschlafen. Er kroch auf allen vieren über den Boden, bis er merkte, dass er auf dem Bauch lag. Verzweifelt versuchte er, sich mit einem Arm zur Tür zu ziehen. Draußen stand das gesamte Personal der Wiener Kripo, und diese verdammte Schlange hatte ihn betäubt. Er sah sich verzweifelt um, da er befürchtete, Madeleine könnte jeden Moment aus dem Schlafzimmer auf ihn zustürzen und mit der Schere auf ihn einstechen.
»… warum …?« Hogart brachte die Augen nicht mehr auf. Sein Kopf füllte sich mit einer tiefen Schwere.
»Warum ich das getan habe?« Lindas Stimme klang so weit entfernt, als spreche sie durch eine Telefonleitung vom anderen Ende der Welt. Nach einer Weile beugte sie sich zu ihm runter. Ihr Kopf war ganz nahe bei ihm. Er spürte ihren Atem. Dann berührte sie sein Augenlid und zog es hoch. Grelles Licht blendete ihn.
»Ich brauche Sie hier …«
Die restlichen Worte versanken wie in einem Wattekissen.
Hogart erwachte auf dem Parkettboden in Lindas Wohnzimmer. Mit dröhnenden Kopfschmerzen öffnete er die Augen. Ein Teelicht flackerte auf dem Couchtisch. Sonst war der Raum dunkel. Draußen herrschte finstere Nacht. Im Lichtblitz sah er, wie sich die Bäume im Wind bogen. Regen trommelte gegen die Fensterscheiben. Ein Donner krachte.
Hogart versuchte, sich aufzurichten, doch seine Arme und Beine fühlten sich an, als seien sie eingeschlafen. Erst jetzt bemerkte er das Surren. Das Klingeln seines Handys musste ihn geweckt haben. Mit gefühllosen Fingern zog er es aus der Hosentasche. In diesem Moment verstummte es. Elf Anrufe in Abwesenheit zeigte das Display. Jedes Mal dieselbe Nummer: Kohlschmied. Mittlerweile war es kurz nach 22.00 Uhr. Die Generalversammlung von Medeen & Lloyd hatte an diesem Abend bestimmt die Zahlung der sieben Millionen an die Gebietskrankenkasse beschlossen, und der arme Kerl musste nun seinen Kopf hinhalten. Doch im Moment konnte Hogart sich nicht um Kohlschmied kümmern.
Ein weiterer Blitz hellte die Umgebung auf. Unmittelbar darauf folgte der Krach des Donners. Draußen tobte ein beängstigendes Gewitter. Hogart griff instinktiv zur Waffe, doch das Holster war weg. Er rappelte sich auf und versuchte, sich zu erinnern. Linda musste ihm die Waffe abgenommen haben … nein, falsch … die verdammten Kopfschmerzen machten ihn noch verrückt. Wo war die Glock? Jetzt fiel es ihm ein. Er hatte sie am Nachmittag neben dem Brunnen der Engelsmühle liegen lassen. Das Telefonat mit Kohlschmied und der Leichenfund hatten ihn abgelenkt. Über der Steinmauer hing auch sein Mantel, doch der war im Moment unwichtig. Falls jemand die Waffe in die Finger bekam, konnte Hogart sich gratulieren. Die Glock war auf ihn registriert, und auf dem Magazin, dem Lauf und dem Griff waren seine Fingerabdrücke. Im Moment ging sowieso alles den Bach runter. Warum hätte er auch ausgerechnet diesmal Glück haben sollen?
Er zog sich am Couchtisch hoch und taumelte zum nächsten Türstock, wo er verschnaufte. Sein Schädel fühlte sich an, als hätte ihn ein Bulldozer gerammt - und er war durstiger als ein Krokodil in der Wüste. Nachdem er in der Küche zwei Gläser Wasser hinuntergestürzt und sich ein nasses Geschirrtuch in den Nacken gelegt hatte, ging er zur Eingangstür. Sogleich peitschte ihm der Regen ins Gesicht und machte ihn munter. Der blaue Toyota war weg.
Er rief Garek an. Der Beamte meldete sich nach dem dritten Klingelton. »Wo ist Linda?«, fragte Hogart. »Das fragst ausgerechnet du?«
»Was? Ich habe keine Zeit für blöde Antworten. Wo ist sie?«
»Hör mir mal genau zu«, knurrte Garek. »Der leitende Kripochef hat die Observierung eingestellt, die Kollegen wurden abgezogen.«
»Du verarschst mich?«
»Schön wär’s. Linda hat sich bei der Polizeidirektion über die Einschränkung ihrer Privatsphäre beschwert. Sie sagte, du wärst ohnehin bei ihr und würdest dich um sie kümmern. Die Beamten haben mir bestätigt, dass du ihr Haus betreten hast. Ich habe mich zunächst dagegen gewehrt, aber einen Anschiss von oberster Stelle kassiert, da wir die persönliche Freiheit einer Bürgerin einschränken.« Garek machte eine Pause. »Erzähl mir jetzt bloß nicht, sie ist dir abhandengekommen.«
Abhandengekommen war untertrieben. »Sie betäubte mich, kurz nachdem ich ins Haus kam.« Hogart ging ins Badezimmer. »Keine Ahnung, wo sie ist. Jedenfalls nicht in ihrem Bungalow.«
»Klasse gemacht, Hog.«
»Und noch was.« Hogart öffnete den Hängeschrank neben dem Spiegel. Die Fächer waren leer. Keine Spur von den Kondomen, Madeleines Schminksachen, den Ohrringen oder ihren Kontaktlinsen. »Du hattest recht, die beiden stecken unter einer Decke. Madeleine hat ihre Spuren verwischt. Die möchte garantiert abhauen.«
»Welche Spuren?«
»Frag nicht lange. Schick eine Fahndung nach Linda raus.« Garek stöhnte auf. »Plassonick reißt mir den Kopf ab.«
»Tu es!«
»Ja, ja, weit kann sie ja nicht kommen. Was machst du?«
»Muss was erledigen.« Hogart beendete das Gespräch. Die Zeit lief ihm davon. Er musste sofort zur Engelsmühle, um seine Waffe zu holen.
Hogarts Autoscheinwerfer rissen Teile der Bergkuppe aus der Dunkelheit. Die Föhren bogen sich im Wind. Der Brunnen und die Holzscheune waren in der Gewittersuppe nur undeutlich zu erkennen. Dahinter thronte das Gemäuer der Mühle auf der höchsten Stelle des Hanges. Als ein Blitz die Umgebung in gleißendes Licht tauchte, warfen die Flügel der Mühle lange Schatten, wie überdimensionale Spinnenbeine, über den Hang.
Hogart lenkte den Wagen so weit wie möglich durch den Schlamm den Hügel hinauf. Als er den Motor abstellte, hörte er das Knallen der Vorratskellertür, die der Wind auf und zu schlug. Er sprang aus dem Auto und war sofort bis auf die Haut durchnässt. Es regnete, als hätten Himmel und Hölle ihre Tore gleichzeitig geöffnet. Das Wasser brauste wie eine Sturzflut über die Bergkuppe und riss Erde, Aste und Nadeln mit sich in den Wald.
Eichingers metallic-schwarzer Audi stand neben dem Brunnen. Diesmal war das Schiebedach geschlossen. Doch von dem Beamten fehlt jede Spur. Hogart wollte bereits nach Eichinger rufen, als er Lindas Wagen im Lichtblitz sah. Der Van parkte neben dem Kohlenkeller. Die Heckklappe stand offen. Eine Hacke, mehrere Spaten und Müllsäcke lagen im Kofferraum. Linda war sicher nicht alleine zur Mühle gefahren. Bestimmt befand sich Madeleine in ihrer Nähe. Hogart sah sich um, konnte jedoch niemanden erkennen.
Trotz des Gewitters riss die Wolkendecke für einen Moment am Horizont auf. Der Vollmond bestrahlte die Bäume auf der Bergkuppe, ehe sich wieder die schwarze Wolkenfront davorschob. Hogart kam die Legende des Brunnens in den Sinn, der sich bei jedem Vollmond mit Wasser füllen sollte. Bei dem Regen in dieser Nacht war das kein Problem. Hogart umrundete den Brunnen. Sein Schulterholster lag tatsächlich im Schlamm, die Glock steckte noch drin. Über der Mauer hing sein Mantel. Das vom Regen vollgesogene Ende schleifte über den Boden und klatschte immer wieder gegen den Brunnen. Als sich Hogart nach der Waffe bückte, sah er unter dem Mantel ein Mobiltelefon im Schlamm. Eichingers Nokia-Handy. Ausgerechnet hier? Bevor es im Regen kaputtging, steckte er es ein. Seinen Mantel ließ er hängen. Er nahm nur die Waffe an sich und rannte über den Platz zum Vorratskeller.
Die Spurensicherer hatten den gesamten Keller ausgeräumt. Gelbe Bänder flatterten im Sturm. Hogart stellte sich kurz unter den Türstock und sah zur Mühle. Der Wind peitschte die gigantischen Flügel hin und her. Die Seile, welche die Holzkonstruktion fixierten, knarrten so laut, dass man sie trotz des prasselnden Regens hörte. Da ging das Licht im ersten Stock an. Ein Schatten huschte am Fenster vorüber. Kurz daraufflackerte das Licht einer Petroleumlampe auch hinter dem Atelierfenster.
Hogart lief auf den Eingang der Mühle zu. Im Atelier wischte er sich das Regenwasser aus dem Gesicht. Blitz und Donner folgten unmittelbar aufeinander. Das Krachen war so laut, dass Hogart befürchtete, das Gemäuer könne einstürzen.
Mitten im Atelier, umgeben von Madeleines Gemälden, saß Linda im Rollstuhl. Sie stellte soeben eine Petroleumlampe auf den Boden. Schlamm klebte an den Rädern des Rollstuhls. Lindas Haare waren zerzaust und feucht. Demnach hielt sie sich noch nicht lange in der Mühle auf.
»Es hat eine Weile gedauert, bis Sie hier auftauchten.« Sie legte die Hände auf die Wolldecke in ihren Schoß.
Hogart trat einen Schritt näher, behielt jedoch den Treppenaufgang zum ersten Stock im Auge, falls Madeleine herunterkommen sollte. »Warum haben Sie mich betäubt?«
Linda lächelte. »Ich dachte, Sie wären Detektiv. Haben Sie wirklich keine Ahnung?«
Er war völlig durchnässt, hatte den Versicherungsfall nicht rechtzeitig gelöst und außerdem solche Kopfschmerzen, als wolle ihm der Schädel jede Sekunde zerspringen. Im Moment war ihm nicht nach blöden Antworten. Außerdem hatte er es satt, verarscht zu werden, und stand kurz davor, Linda mit einer Ohrfeige aus dem Rollstuhl zu schlagen.
Er ging weiter auf sie zu. »Warum haben Sie mich betäubt?«
Linda zupfte seelenruhig an den Fransen der Wolldecke. »Als meine Eltern heute Morgen exhumiert wurden, war es nur noch eine Frage von Stunden, bis die Kripo einen Hausdurchsuchungsbefehl für die Mühle erhalten würde. Die Zeit arbeitete gegen mich. Ich musste mich mit Madeleine treffen. Wir mussten etwas erledigen, aber ich konnte mein Haus nicht verlassen, da ich unter Polizeischutz stand. Zum Glück haben Sie meine Einladung zum Kaffee angenommen. Das war meine Chance, die Beamten loszuwerden.«
»Sie sind wohl zu spät gekommen?« Hogart dachte an die Spaten im Heck des Vans. »Die Leiche im Vorratskeller wurde bereits gefunden.«
»Weiß man schon, wer der Tote ist?«, fragte sie.
»Nein.« Ein Blitz erhellte das Atelier, unmittelbar gefolgt von einem Donnergrollen, das dumpf von den Wänden widerhallte.
»Wo ist Eichinger?«
Linda antwortete nicht.
Hogart behielt den Treppenaufgang im Auge. Soviel er wusste, gab es nur diese Möglichkeit, in das obere Stockwerk zu gelangen. »Wo ist Madeleine?«
»Ich fürchte, die beiden sind gerade miteinander beschäftigt. In der Zwischenzeit beantworten Sie mir eine Frage: Wie sind Sie an das Video gekommen?«
»Das Video, das Madeleine in ihrem Kamin verbrannt hat?«
»Exakt. Woher hatten Sie es?«
Hogart dachte fieberhaft nach. Von Beginn an drehte sich alles nur um dieses Video. Er hatte es mehrmals gesehen. Bloß ein langweiliger Dokumentarfilm. Welche brisante Szene war darauf zu sehen gewesen? »Madeleine wollte den Grund herausfinden, warum ich Sie in der Akademie besucht und Ihnen Fragen über Ostrovsky gestellt habe. Sie brach in meine Wohnung ein und fand das Video. Von Staatsanwalt Hauser wusste sie, dass mein Bruder in U-Haft saß. Sie brach auch in Kurts Wohnung ein, wo sie ihr Blasrohr mit einer Botoxdosis versteckte.«
»Brillant, Watson«, unterbrach Linda ihn. »Wie sind Sie an das Video gekommen? Wer weiß noch davon?«
»So läuft das Spiel nicht.« Hogart zog die Glock aus dem Hülster, entsicherte die Waffe, legte aber den Finger nicht auf den Abzug. »Zuerst sagen Sie mir, weshalb Ostrovsky, Dornauer und Faltl sterben mussten.«
»Sie drohen mir?«
»Bleibt mir eine andere Wahl?« Er richtete den Lauf auf Linda.
»Wenn ich Ihnen einen Ratschlag geben darf: Schießen Sie mir nicht in die Beine, dort spüre ich nichts.«
»Keine Sorge, ich ziehe Ihnen nur den Knauf über die Schläfe … nach der Nummer mit der Betäubung bin ich Ihnen das schuldig.« Er meinte es ernst und hatte keine Skrupel, tatsächlich zuzuschlagen. Je länger er mit Linda sprach, umso klarer wurde ihm, dass sie mindestens genauso verrückt war wie ihre Schwester. Anscheinend lag der Wahnsinn in der Familie. »Diese Ärzte haben Ihr Leben gerettet. Warum mussten sie zwanzig Jahre nach Ihrem Unfall sterben?«
»Weil sie mich einfach nicht in Ruhe lassen konnten.« Während sie sprach, näherte sie sich ihm im Rollstuhl. »Mein Kontrollbesuch in Dornauers Klinik war seit einigen Jahren überfällig. Er schrieb mir Briefe, rief mich an, redete auf mich ein, ich solle wieder zur Behandlung kommen. Aber ich wollte nichts von ihm wissen. Schließlich fand Dornauer heraus, dass Ostrovsky nicht nur mein damaliger behandelnder Arzt, sondern auch ein enger Freund der Familie war. Er telefonierte mit Ostrovsky und bat ihn, er solle mir ins Gewissen reden. Ostrovsky besuchte mich in meinem Haus. Ich hatte gerade ein Bad genommen, und als der Bademantel verrutschte, starrte er mir lüstern auf die Beine. Doch ich täuschte mich. Er war kein alter Spanner. In diesem Moment erkannte er die Wahrheit. Ostrovsky raste noch in derselben Nacht nach Hause. Er war verwirrt, kramte in seinen alten Bändern herum, auf der Suche nach einem bestimmten Video, und fand es tatsächlich. Sie haben es gesehen, nicht wahr? Den Rest kennen Sie.«
Welchen Rest? Hogart begriff die Zusammenhänge noch immer nicht. Wo lag das Motiv? Wozu all die Morde?
»Und jetzt sagen Sie mir, wie Sie an das Video herangekommen sind!«, herrschte Linda ihn an.
Da läutete Eichingers Handy in seiner Hosentasche. Lindas Rücken versteifte sich. Während Hogart sie mit der Waffe in Schach hielt, holte er das Telefon heraus und nahm das Gespräch an.
»Bist du das, Hog?« Gareks Stimme klang verwirrt. »Warum hebst du ab? Ist Eichinger in der Nähe?«
»Soll ich ihm etwas ausrichten?«, fragte Hogart.