12
Das Archiv entpuppte sich als Anbau an der Rückseite der Klinik. Das zweistöckige Gebäude mit einem Flachdach und einer Außentreppe ragte in das Waldstück. Zwischen den Bäumen schimmerte die Donau durch. Ein Kahn tuckerte soeben den Fluss hinauf. Wie Hogart jetzt sah, lag das Areal der Klinik auf einer Landzunge, deren spitz zulaufendes Ende zu beiden Seiten von der Donau umspült wurde. So nah am Ufer gab es bestimmt oft Überschwemmungen. Eine verschmierte Dreckmarke an der Hausmauer zeigte, dass das Wasser hier sogar einmal kniehoch gestanden hatte.
An der Rückseite des Archivs entdeckte Hogart einige große, randvolle Papiercontainer aus Blech, deren Deckel sich nicht mehr schließen ließen. Durch die gekippten Kellerfenster drang das Offnen und Schließen von Aktenschränken und das Rascheln von Papier. Er verharrte mehrere Minuten am Fuße der Außentreppe, mit dem Rücken an die Wand gepresst, und hörte, wie die Beamten der Spurensicherung im Archiv arbeiteten. Endlich betrat jemand den Kellerraum, worauf Hogart Gareks ungeduldige Stimme hörte.
»Sobald ihr damit fertig seid, durchforstet das nächste Archiv. Wenn ein einziges Blatt Papier fehlt, möchte ich das wissen!«
Hogart sah Garek förmlich vor sich, mit seinen Bartstoppeln und den nach hinten gekämmten nassen Haaren. Wenn Eichinger schon das Hemd salopp aus der Hose hing, dann konnte er darauf wetten, dass Garek noch schlimmer aussah. Die Exfrau des Ermittlers war eines Tages aufs Revier gekommen und hatte laut verkündet, dass Garek ein stupider Prolet sei, der nicht einmal den Unterschied zwischen einem Asylanten und einem Querulanten kenne. Anschließend war sie mit einem Politologen durchgebrannt - das war Jahre her - und seitdem las Garek Der Achipel Gulagvon Alexander Solschenizyn. Mittlerweile war Garek mit einer Polin verheiratet, die früher als Nutte gearbeitet hatte. An dieser Beziehung gab es nichts auszusetzen. Dolores war zehn Jahre jünger als er und jobbte seit der Hochzeit in einer Reinigung.
Jetzt war Garek glücklicher als vorher, auch wenn er nie über Solschenizyns ersten Band hinausgekommen war. Hogart bezweifelte ohnehin, dass man von der Lektüre eines Literaturnobelpreisträgers ebenso intellektuell wurde. Doch jeder hatte seine eigene Masche, um eine alte Beziehung zu verarbeiten - er selbst trank beispielsweise nur noch Pepsi statt Cola.
Während sich Hogart an die Wand drückte, hörte er Garek einige Befehle erteilen. Danach schlug die Tür zu. Die Beamten murmelten nur einige unverständliche Worte. Eine weitere Minute lang passierte nichts, bis sich plötzlich die Tür am oberen Ende der Außentreppe öffnete. Hogarts Herz schlug schneller. Ihm blieb nicht genug Zeit, um zu verschwinden, also entschied er sich für die Flucht nach vorne. Er umklammerte das Treppengeländer, ging die Stufen nach oben und tat so, als wolle er soeben das Gebäude betreten.
Doch überraschenderweise stand nicht Garek auf dem Plateau der Treppe, sondern eine Frau um die fünfzig, mit einer dicken Hornbrille, einer schwarzen Pagenfrisur und einem grauen Hosenanzug. Sie ging einige Stufen nach unten, als sie Hogart bemerkte und stehen blieb.
An ihrem Gang sah er, dass sie eine Beinprothese trug. Bei jedem Schritt gab das rechte Bein mit einer Schnappbewegung nach und die Hüfte schob sich nach vorne. Da es keine Kripoermittler mit Prothesen im Außendienst gab, konnte sie nur eine Angestellte der Klinik sein, denn Patienten hatten im Archiv bestimmt nichts verloren. Er stieg rasch die Stufen zu ihr hinauf und stellte sich als Peter Hogart vor.
»Ich arbeite als Versicherungsdetektiv und Sachverständiger für …«
»Sie sind von der Versicherung?«
Von der Versicherung? Hogart sah sie für einen Moment verwirrt an. Dann fügte er rasch hinzu: »Wir haben heute morgen von Doktor Dornauers Tod erfahren. Wir arbeiten rasch. Es geht um seine Lebensversicherung.«
Anscheinend hatte er einen Moment zu lange gezögert, denn die Frau musterte ihn skeptisch. »Könnte ich Ihren Ausweis sehen?«
»Natürlich.« Er klappte die Brieftasche auf und zeigte ihr seine Detektivlizenz vom ODV.
Sie schien ihm die Geschichte nicht abzunehmen, obwohl die Lizenz neben Führerschein und Reisepass der einzige echte Ausweis war, den er besaß.
Sie sah ihn skeptisch an. »Der Inspektor hat mich vor Journalisten gewarnt, die sich eventuell Zutritt zur Klinik verschaffen könnten.«
»Ich kenne den zuständigen Abteilungsinspektor. Garek hat recht, man kann nicht genug aufpassen.«
Sie deutete auf das Lederetui. »Ich habe so einen Ausweis noch nie gesehen.«
»Österreichischer Detektiv-Verband.« Lächelnd fischte er eine zusätzliche Visitenkarte aus einem Fach der Brieftasche, die ihn als Mitarbeiter der Interunfall-Versicherung auswies.
Sie warf nur einen kurzen Blick auf das Emblem. »Soviel ich weiß, laufen Doktor Dornauers Versicherungen bei der Grazer-Wechselseitigen.«
Scheiße! Hogart nickte. »Seine Haftpflicht-, Unfall- und Invaliditätsversicherung«, korrigierte er sie. »Aber die Lebensversicherung hat er bei der Interunfall abgeschlossen.« Er lächelte. »Die haben einfach die besseren Konditionen, da kann die Grazer nicht mithalten.« Er zog eine zweite Visitenkarte hervor, die ihn als Mitarbeiter der Grazer-Wechselseitigen auswies. »Ich arbeite für beide Häuser. Ich soll mir einen Überblick über den Todesfall verschaffen. In der Rezeption sagte man mir, dass ich Sie hier finden würde. Haben Sie einige Minuten Zeit?«
Sie musterte ihn immer noch skeptisch, doch schließlich öffnete sie die Tür. »Gehen wir in mein Büro.«
Wie sich herausstellte, hieß die Dame Carmen Scholl und war Doktor Dornauers persönliche Sekretärin. Das Büro, in welches sie Hogart führte, lag direkt über dem Archiv. Während sie die Kaffeemaschine einschaltete und zwei Tassen Espresso machte, setzte sich Hogart auf die Besuchercouch und blickte durch das Fenster auf die Donau. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich in den Wellen, die zwischen den Bäumen hindurchblitzten.
Carmen Scholl blieb hinter ihrem Schreibtisch sitzen. Während Hogart in seinem Kaffee rührte, schwarz, ohne Zucker, erzählte er etwas von Prämien, dem kommenden Quartalsende, der Versicherungssumme und dem Begünstigten der Lebensversicherung. Allerdings hätte er sich das Geplänkel, mit dem er das Eis brechen wollte, sparen können, da Carmen Scholl nur mit einem Ohr zuhörte.
Erst als er erwähnte, dass die Unfall- und Invaliditätspolicen mit dem Mord an Doktor Dornauer hinfällig wurden, röteten sich ihre Wangen. Er spürte, dass mehr hinter ihrer Reaktion steckte als bloß das Verhältnis einer Sekretärin zu ihrem Vorgesetzten. Als er sie über Doktor Dornauer befragte, begann sie zunächst zögerlich, aber dann immer flüssiger zu erzählen. Sie wusste, dass der Arzt am Freitagnachmittag noch im Büro gearbeitet hatte, da er sich im Archiv ein bestimmtes Überstellungsprotokoll aus dem Jahr 1988 ansehen wollte. Nachdem Carmen Scholl das Wochenjournal beendet hatte, verließ sie ihr Büro gegen vier Uhr nachmittags und fuhr nach Hause.
Als sie am Montagmorgen die Klinik betrat, stand Doktor Dornauers Wagen bereits auf dem Parkplatz. In seinem Büro lief der PC, sein Handy lag auf dem Schreibtisch und die Aktentasche stand neben dem Stuhl, doch von ihm fehlte jede Spur. Weder der Portier noch die Therapeuten, die in der Früh kamen, um die Bäder für die ersten Patienten vorzubereiten, hatten ihn die Klinik betreten sehen. Erst als die Kripo anrief, um sich nach Doktor Dornauer zu erkundigen, wurde Carmen Scholl stutzig. Sie erfuhr, dass seine Frau am Sonntag eine Vermisstenanzeige erstattet hatte, da er das Wochenende nicht zu Hause verbracht hatte. Doch als die Kripo hörte, dass Dornauers Wagen auf dem Reha-Gelände parkte und seine Privatgegenstände im Büro lagen, war der Fall für die Ermittler erledigt. Carmen Scholl rief aber nicht - wie Hogart angenommen hatte - Dornauers Ehefrau an, um der Sache nachzugehen, sondern telefonierte erneut mit der Kripo. Allerdings wollte keiner der Beamten etwas unternehmen. Das änderte sich, als der Portier heute Morgen in einem abgelegenen Kellertrakt, wo sich die alten Bäder befanden, die Leiche des Physiotherapeuten entdeckte.
»Bis auf den Portier ging nur selten jemand in den Keller«, erzählte sie. »Dort unten sind nur die ehemaligen Umkleidekabinen und die großen Zinkwannen aus dem Jahre 1850 für die Warm- und Schwefelbäder. Auch heute noch stinkt es entsetzlich nach Schwefel und Moor. In einer dieser Wannen trieb Doktor Dornauer mit dem Kopf nach unten, sein Körper entsetzlich zugerichtet… mehr weiß ich nicht.« Ihre Unterlippe bebte.
Obwohl sich Hogart jedes Detail merkte, das sie erwähnte, machte er sich in einem Block Notizen. Er wusste, dass es seine Gesprächspartner verwirrte, wenn er nicht mitschrieb. Anschließend erzählte sie ihm über Doktor Dornauers Freundeskreis, seine Vorlieben für Tennis und Golf, erwähnte seine ausgesprochene Pünktlichkeit und dass er sich während seiner Karriere als Arzt nie einen Menschen zum Feind gemacht hatte.
»Wurden hier öfters Videofilme gedreht?«, fragte Hogart.
»Manchmal - um den Fortschritt einzelner Patienten zu dokumentieren, aber so genau weiß ich das nicht.« Sie sah verlegen zu Boden. »Ich arbeitete erst seit zwei Jahren für den Doktor.«
Die Art und Weise, wie sie Dornauers Titel betonte, irritierte ihn. Anscheinend existierte noch ein Geheimnis, das darauf wartete, gelüftet zu werden. Hogart ließ ihr etwas Zeit, dann fragte er sie, woher sie den Arzt kannte.
»Ich habe den Doktor auf einem Arztekongress kennengelernt. Damals arbeitete ich als Event-Managerin.«
»Hatten Sie ein Verhältnis mit Doktor Dornauer?«, fragte er unverblümt.
Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. Wortlos starrte sie auf die Kaffeetasse, die sie bisher nicht angerührt hatte. Schließlich schob sie das Geschirr beiseite, um die Arme auf dem Schreibtisch auszubreiten. »Es hat keinen Sinn, es zu verheimlichen. Sie würden es ohnehin herausfinden, nicht wahr?« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Wir wurden ein Paar und er stellte mich als seine Sekretärin ein. Anfangs hatten wir nur während der Bürostunden Kontakt, nie am Wochenende, da seine Frau …«
»… nichts von dem Verhältnis wissen durfte«, vollendete Hogart den Satz. Er kannte diese Geschichten zur Genüge und trotzdem versetzten sie ihm immer wieder einen Stich.
»So war es.« Ihre angespannten Schultern sackten nach unten. Er konnte ihr die Erleichterung ansehen, als es draußen war.
Ihre Blicke trafen sich.
»Sie sind ebenfalls in der Liebe leidgeprüft, nicht wahr?«, fragte sie.
Wer war das nicht? Möglicherweise sah sie in ihm einen Seelenverwandten. Nun wurde ihm auch ein weiterer Grund für ihre plötzliche Gesprächsbereitschaft klar. Sie fürchtete, dass Dornauer sie als Begünstigte für seine Lebensversicherung eingesetzt hatte und dass durch die Auszahlung ihre Beziehung auffliegen würde. Bevor er etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür. Der Besucher blieb allerdings im Türrahmen stehen, sodass Hogart ihn nicht erkennen konnte, da er hinter der offenen Tür saß.
»Wir sind mit dem Archiv im Untergeschoss fertig.« Gareks Stimme! »Sie können die Räume wieder verschließen.«
Hogarts Puls beschleunigte. Unwillkürlich blickte er zum Fenster, doch in der Spiegelung der Scheibe ließ sich nichts erkennen. Sofern Carmen Scholl nichts sagte, würde Garek nicht bemerken, dass sich jemand hinter der Tür auf der Couch befand.
»Danke, ich schließe später ab«, antwortete Scholl. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee, wir …«
»Danke, meine Leute sehen sich noch das Archiv im ersten Stock an. Haben Sie den Schlüssel?«
»Oh, die Räume sind offen.«
»Danke.« Die Tür schloss sich wieder.
Hogart stieß den angehaltenen Atem leise aus. Hoffentlich hatte Scholl seine Anspannung nicht bemerkt. »Sie sagten vorhin, dass sich Doktor Dornauer in der Mordnacht ein bestimmtes Protokoll ansehen wollte.«
Sie nickte. »Ein Überstellungsprotokoll. Aber ich weiß nicht, von wem.«
»Was ist darauf zu sehen?«
Sie verzog das Gesicht. »Bloß die Unterschrift eines Arztes, der einen Patienten für eine Therapie in unsere Klinik überweist.«
Hogart hörte Schritte im Gang. Offensichtlich marschierte das Spurensicherungsteam vom Keller in den ersten Stock, wo es sich das nächste Archiv vornahm. »Wie sieht so ein Protokoll aus?«
»Die liegen zu Hunderten hinter dem Haus in den Papiercontainern.«
»Im Müll?«, fragte Hogart.
»Seit einem halben Jahr arbeiten zwei Praktikantinnen daran, sämtliche Protokolle der Klinik auf Mikrofiches umzustellen. Die wühlen sich seit Bestehen der Klinik chronologisch nach vorne. Im Moment sind sie beim Jahr 1988 angelangt. In den Containern liegen die Protokolle von 1987, die bereits eingescannt wurden. Die werden nächste Woche abgeholt und zur Papierpresse transportiert.«
Hogart dachte an Linda Bohmanns Unfall aus dem Jahr 1988. »Hat die Kripo bereits herausgefunden, ob etwas gestohlen wurde?«
Sie zuckte die Achseln. »Das lässt sich nicht so einfach beantworten. Im Archiv wurde zwar nicht eingebrochen, aber Doktor Dornauers Schlüssel steckte im Schloss. Entsprechend der fortlaufenden Aktenzahl fehlt ein Überstellungsprotokoll aus dem Jahr 1988. Doch wissen wir noch nicht, um welches Dokument es sich handelt. Um das herauszufinden, müssen die Kripobeamten die verbliebenen Originale mit den Mikrofiches vergleichen. Die sind leider völlig durcheinandergeraten … die Studentinnen haben Mist gebaut. Die Suche kann ein paar Tage dauern.«
Hogart ahnte bereits, um wessen Protokoll es sich dabei handelte. »Und wenn das fehlende Dokument noch nicht eingescannt wurde?«
»Dann war die Suche vergeblich.«
Hogart beneidete die Beamten nicht um ihre Arbeit. »Darf ich Sie etwas Privates fragen?«
»Nur zu.«
»Kennen Sie eine Patientin namens Linda Bohmann? Querschnittgelähmt, um die vierzig, brünettes langes Haar.« Sie dachte nach. »Nein.«
»Lässt sich herausfinden, ob und wann sie hier war?«
»Ja, im Archiv, fragen Sie die Beamten.«
»Sie sitzt seit etwa zwanzig Jahren im Rollstuhl. Bei wem könnte Sie in Behandlung gewesen sein?«
»Du meine Güte.« Sie sah ihn fragend an. »In der Klinik sind zurzeit drei Physiotherapeuten beschäftigt, aber keiner davon ist länger als ein Jahr hier. Die meisten sind jung, lernen hier und suchen sich dann einen anderen Job. Die Therapeuten sind ein Wandervolk … und sehen Sie sich um, hier wurde nie etwas investiert. Da bleibt sowieso niemand lange.«
Hogart erhob sich. »Danke.«
»Eine Sache noch.« Sie rang die Hände. Offensichtlich überlegte sie, wie sie es formulieren sollte. »Ich habe Sie durchschaut. Sie arbeiten für keine Versicherung.«
Hogart wollte etwas sagen, doch sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Bemühen Sie sich nicht. Sie hätten ihren Gesichtsausdruck sehen sollen, als der Inspektor in der Tür stand. Ich weiß, was Sie von mir wollen.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, mir geht es nicht ums Geld der Lebensversicherung, das brauche ich nicht. Mir geht es nur darum, dass seine Familie nichts von dieser Beziehung erfährt.«
Sie erhob sich und ging um den Tisch herum. Bei jedem Schritt knickten die Hüfte und das künstliche Bein mit einer Schnappbewegung ein. »Ich bin in meinem Leben schon so oft gedemütigt worden. Harald Dornauer war der erste Mann, der mir das Gefühl gab, eine vollwertige Frau zu sein. Es wäre mir peinlich für ihn, würde seine Frau erfahren, dass er eine Beziehung mit einer …« Sie verstummte für einen Augenblick. »Falls Sie ihr von dieser Beziehung erzählen, käme es zu einer hässlichen Schlammschlacht.«
»Sie denken, Doktor Dornauers Ehefrau hat mich als Privatdetektiv engagiert?«
»Ist es nicht so?« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Ich bin aus einem anderen Grund hier, der nichts mit Ihnen zu tun hat. Aber ich kann Sie beruhigen. Falls Doktor Dornauer Sie tatsächlich als Begünstigte für seine Lebensversicherung einsetzen ließ, erfahren das nur die Versicherung, die Kriminalpolizei und im Zuge der Nachlassregelung der Notar und das Finanzamt.«
Ihre Unterlippe bebte wieder.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Seine Ehefrau wird nichts davon erfahren.«
Als Hogart das Gebäude verließ, begegnete er keinem der Ermittler oder Spurensicherer. Er hörte bloß das Aufziehen der Schubladen und das Klappern der Aktenschränke aus den Räumen. Rasch stieg er die Außentreppe runter. Draußen angelangt, ging er zu den Papiercontainern und schob einen davon auf.
Dutzende Blätter segelten ihm entgegen. Terminpläne, Therapieprotokolle, Arztegutachten. Er kniete sich nieder und blätterte so lange durch die Papiere, bis er ein Überstellungsprotokoll fand. Wie Carmen Scholl gesagt hatte, war darauf nichts Spektakuläres zu sehen - bloß der Name des Patienten, des behandelnden Arztes und des Mediziners, der die Überweisung ausgestellt hatte.
Als er Schritte hinter der Häuserecke hörte, faltete er das Blatt rasch zusammen und ließ es in der Hosentasche verschwinden. Sobald er sich erhoben hatte und umwandte, lief er Garek in die Arme.
»Du hast Nerven, hier aufzutauchen!« Garek sah tatsächlich aus, als habe er seit Tagen in der Mülltonne übernachtet.
»Spar dir deine Moralpredigt«, antwortete Hogart. »Eichinger ließ soeben meinen Bruder festnehmen, und ich bin unterwegs zu meinem Wagen.« Er wollte an Garek vorbei.
»Hier kannst du nicht durch, der Teil ist abgesperrt. Du musst auf die Schotterstraße und außen herum … Scheiße, Mann, du verarschst mich doch.« Plötzlich veränderte sich Gareks Ton. »Was suchst du hier?«
»Wurde Dornauer auch gefoltert?«, fragte Hogart frei heraus.
»Warum auch?«
»Ich brauche die Unterlagen zu diesem Fall«, sagte Hogart.
»Bist du verrückt? Nicht hier!«, zischte Garek. Er packte Hogart am Arm und führte ihn den Feldweg entlang, der zur Schotterstraße führte.
»Mein Bruder sitzt in der Klemme, aber er hat nichts mit den Morden zu tun«, sagte Hogart, als sie sich von dem Archiv entfernt hatten. »Ich brauche die Tatortfotos, die Zeugenaussagen und das Gutachten des Gerichtsmediziners.«
»Das kann ich nicht mehr. Eichinger passt auf wie ein Schießhund.«
»Er ist nicht dein Vorgesetzter.«
»Aber er hat Leute auffliegen lassen, die höher standen als ich. Da bin ich nur ein kleiner Fisch. Glaubst du, die gehen zimperlich mit mir um?«
»Hör zu, ich brauche eine Kopie der Akte Dornauer.«
»Nein.«
Garek brauchte seit Jahren nicht nur Geld für die Alimente seines Sohnes, sondern auch für den Unterhalt seiner Exfrau. Alle, die sie kannten, wussten, dass sie ihn ausnahm wie eine Weihnachtsgans. »Zweihundert Euro«, sagte Hogart.
»Scheiße«, zischte Garek. »Hast du so viel dabei?«
Sie gingen weiter den Weg entlang, bis sie den Wegweiser mit den Holzpfeilen erreichten.
Hogart nahm hundertfünfzig Euro aus der Brieftasche. »Den Rest erhältst du, sobald ich die Unterlagen habe. Wann kann ich damit rechnen?«
»Dornauers Leiche ist bereits in der Pathologie - oder zumindest das, was von ihr übrig geblieben ist. Bartoldi nimmt sie sich gerade vor. Die Akte liegt in etwa fünf Stunden auf meinem Schreibtisch.« Garek ließ das Geld in der Hosentasche verschwinden.
Es würde funktionieren wie immer. Die Akte würde für einige Minuten offen auf Gareks Schreibtisch liegen, während er sich einen Kaffee aus dem Automaten holte. Die Papiere würden für kurze Zeit verschwinden. Bis Garek wieder auftauchte, hätte bereits ein eingeweihter Kollege, der nichts mit dem Fall zu tun hatte, eine Kopie davon gemacht - entweder Gomez oder Koslik, je nachdem, wer gerade im Dienst war. Wie üblich würde heute Abend jemand einen braunen Umschlag in Hogarts Wohnung vorbeibringen - und dann bekam er die ersten Fotos von Dornauers Leiche zu sehen.