22

 

Hogarts Aufstieg zu seinem Auto auf der Höhenstraße dauerte eine halbe Stunde. Er zog sich von Ast zu Ast und prustete bei jedem Baum mehrere Minuten lang keuchend vor sich hin. Aber Hauptsache, er hatte wieder mit dem Rauchen begonnen. Kurz bevor er die Leitplanke erreichte, schwor er sich, nie wieder einen Glimmstängel anzurühren, selbst wenn ihm erneut eine Frau vom Kaliber einer Madeleine Bohmann den Kopf verdrehen sollte.

Mit völlig verdreckten Schuhen, zerrissener Hose, verschwitztem Hemd und aufgeschürften Händen voller Harz warf er sich hinter das Lenkrad. Er kramte das Handy hervor. Seit dem Einbruch in seiner Wohnung hatte das Display einen Sprung. Der Sturz über den Abhang war für das Handy auch nicht gerade förderlich gewesen. So wie das Telefon jetzt aussah, würde er dafür auf dem Flohmarkt nicht einmal einen Cent bekommen.

Zunächst telefonierte er mit Garek. Das Gespräch dauerte nicht lange. Er gab Garek den Tipp, ein Spurensicherungsteam zum Unfallauto der Bohmanns zu schicken, da die Mordserie vermutlich länger zurückreichte, als sie bisher angenommen hatten. Von Garek erfuhr er, dass die Kripo bereits nach Madeleine suchte, sie aber weder ihr Telefon zu Hause abhob, noch sich in der Galerie Grimbaldi oder im Ausstellungsraum der Michaeiergruft aufhielt. Auch wenn sie im Moment die Unsichtbare spielte - die Beamten hatten endlich begriffen, dass die Künstlerin mit der Sache zu tun hatte.

Anschließend telefonierte Hogart mit der Blumenhandlung, die einige Querstraßen von seiner Wohnung entfernt lag, wo er einen Rosenstrauß bestellte. Mit einer Karte, auf die er die Worte Ich wünsche Ihnen baldige Besserung, damit Sie bei unserem gemeinsamen Abendessen im Steakhaus fit sind diktierte, ließ er den Strauß ins Wilhelminenspital zu Elisabeth Domenik bringen.

Dann fuhr er nach Hause, wo er ein heißes Bad nahm. Während eine Langspielplatte von Muddy Waters im Wohnzimmer lief, lag er mit geschlossenen Augen in der Wanne. Ein Schaumbad mit jeder Menge Kräuterextrakten war jetzt genau das Richtige. Nachdem er seine Schürfwunden versorgt hatte, begann er, die Unordnung in seiner Wohnung aufzuräumen. Bei dieser Gelegenheit warf er seine Zigarettenschachteln in den Mülleimer. Es war unglaublich, an welchen Orten er überall eine Notfallpackung Stuyvesant versteckt hatte. Gegen acht Uhr abends stieg er in den Wagen und fuhr in Richtung Donauturm. Es wurde Zeit, einige Sachen mit Linda Bohmann zu klären.

 

Die Siedlung, in der sich Lindas Bungalow befand, lag zwischen der alten Donau und dem sogenannten Entlastungsgerinne, einem Seitenarm des Flusses. Auf diesem zu beiden Seiten von Wasser umgebenen Fleckchen Erde lag ein Park mit dem Donauturm und den hohen Gebäuden der UNO-City. Die Siedlung bestand aus einstöckigen Häusern, zwischen denen sich genug Bäume und Wiesen befanden, damit man sich in einer Gartenanlage wähnte. Die alten Bohmanns hatten gewusst, wie man lebte.

Lindas Haus lag in einer Seitengasse der Strandbadstraße. Ihr blauer Van parkte direkt vor dem Gebäude. Mit dem Rollstuhl konnte sie vom Auto bequem die ebenerdige Eingangstür erreichen.

Während Hogart läutete und wartete, blickte er die Straße hinunter. Ein blauer Toyota stand in einer Lücke zwischen den Bäumen. Zwei Männer saßen reglos im Wagen und beobachteten die Straße. Endlich hörte Hogart, wie sich die Räder des Rollstuhls auf dem knarrenden Flurboden näherten. Linda öffnete die Tür. Sie trug einen blauen Rollkragenpullover mit einer großen Modeschmuckkette aus Steinen und Holzkugeln. Wie immer war ihr Haar zu einem Knoten gebunden.

Keine Beschimpfung. Die Frau nahm die schmale Lesebrille ab, wickelte das Lederband um die Bügel und lächelte ihn an. »Ich hatte nicht gedacht, dass Sie tatsächlich kommen.«

Hogart räusperte sich. »Ich sage zwar nicht immer die Wahrheit, aber wenn ich etwas verspreche, dann halte ich es auch.« Er holte eine Flasche Chateau la Montanage hinter seinem Rücken hervor. »Trinken Sie einen Cognac mit mir?«

Sie sah ihn mitleidig an. »Ich habe bereits meine Tabletten genommen, aber das konnten Sie ja nicht wissen.« Sie rollte zur Seite. »Kommen Sie erst einmal herein.«

Im Haus roch es nach Pfefferminze. Sämtliche Räume waren hell eingerichtet, mit weißen Teppichen, jeder Menge Pflanzen und Aquarellen an den Wänden. In einer Ecke gluckste ein Aquarium mit schillernden Regenbogenfischen. Deckenspots und zahlreiche Duftkerzen tauchten die Zimmer in eine behagliche Atmosphäre - ganz anders als die Räume der Engelsmühle. Doch als Hogart die sanften Klänge aus dem Radio hörte, stellten sich ihm unweigerlich die Nackenhaare auf. Love Deluxe von Sade. Diese Stimme würde er aus Tausenden wiedererkennen. Seit seinem Besuch in der Engelsmühle verband er böse Erinnerungen mit diesem Album. Offensichtlich waren sich die beiden Schwestern ähnlicher, als sie zugeben wollten - zumindest was den Musikgeschmack betraf.

Hogart sah sich um. Die meisten Spuren des Rollstuhls befanden sich auf dem Holzparkett zwischen der Küche und dem Wohnzimmer. An dieser Stelle war der Fußboden spiegelglatt radiert.

Nachdem sie ein wenig belangloses Zeug geplaudert hatten, setzten sie sich an den Küchentisch. Die Cognacflasche blieb verschlossen. Stattdessen holte Linda eine Karaffe mit Apfelsaft aus der Küche.

»Weshalb wollten Sie mich sprechen?«, fragte sie schließlich.

Hogart lehnte sich im Stuhl zurück. Endlich war der Smalltalk beendet. »Ich möchte mich für mein Verhalten in der Akademie entschuldigen.«

»Bei Ihrem ersten oder Ihrem zweiten Besuch?«, unterbrach sie ihn.

»Für beide. Mittlerweile wissen Sie bereits von Inspektor Eichinger, dass ich als Detektiv bestimmte Fälle für Versicherungen prüfe.«

»Inspektor Eichinger kann Sie nicht besonders gut leiden«, stellte sie fest. Nach einem kurzen Lächeln wurde sie wieder ernst. »Mich interessieren nur zwei Fragen: Woran arbeiten Sie zurzeit und was haben diese Ermittlungen mit mir zu tun?«

»Ich untersuche den Brand in der Wiener Gebietskrankenkasse, der vermutlich auf Brandstiftung zurückzuführen ist. Außerdem denke ich, dass dieser Sachschaden mit den Morden an Ostrovsky, Dornauer und Faltl zu tun hat - mit Personen, die Sie kannten.«

Linda blieb unbeeindruckt. »Es kannten doch sicherlich mehrere Leute diese drei Ärzte. Wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?«

Das war der Knackpunkt. Das Video. Damit hatte alles begonnen. Sollte er Linda tatsächlich davon erzählen? »Bestimmte Beweise brachten mich auf Ihre Spur, die allerdings aus meiner Wohnung gestohlen wurden«, sagte er schließlich.

»Wer hat sie gestohlen?«

»Vermutlich Ihre Schwester.«

Linda schwieg eine Weile. »Sie kennen Madeleine?«

»Sie selbst schlugen mir vor, ihre Ausstellung im Michaelerkeller zu besuchen.«

»Ach ja. Schreckliche Gemälde, nicht wahr?«

»Um ehrlich zu sein … ja! Dieses Veilchen stammt übrigens von ihr.«

»Sind Sie ihr zu nahe getreten?«

»Offensichtlich.«

Linda versuchte, sich ein Schmunzeln zu verkneifen. »Madeleine war schon immer die Kräftigere von uns beiden. Es tut mir leid, dass ich Sie in diese Situation gebracht habe.«

»Vermutlich wäre ich ohnehin auf Madeleine gestoßen.«

»Passen Sie bloß auf sich auf, sie ist eine Männerfalle.« Linda warf einen Blick auf seine rechte Hand. »Sie sind ledig, nicht wahr? Und das junge Mädchen, das Sie in die Akademie begleitet hat, ist nicht Ihre Tochter.«

»Meine Nichte.«

Plötzlich lachte sie auf, und schlagartig fiel die Anspannung von ihr. Als ihre Schultern herabsanken, lächelte sie zum ersten Mal befreit auf. »Oh Gott, ein Versicherungsdetektiv und seine Nichte.« Sie schüttelte den Kopf. »Mir kam ihre Geschichte, Sie seien Automechaniker, von Beginn an merkwürdig vor.«

Hogart sah sie fragend an.

»Als Sie mich in meinem Büro besuchten, erwähnten Sie, dass Sie Anne Hauser kennen, die Frau des Staatsanwalts, da sie ihren Wagen angeblich in Ihrer Werkstatt reparieren ließ.« Linda machte eine Pause. »Anne Hauser besitzt gar keinen Führerschein - sie wird immer von ihrem Mann zur Akademie gebracht.«

Hogart hob die Schultern. »Ein schwerer Fehler.«

»Möglicherweise haben Sie noch andere Fehler begangen?«, vermutete sie.

Möglich, doch sein Gefühl hatte ihn bisher nur selten betrogen. Bei dem Gedanken an die amazonenhafte Frau mit den schweren Silberringen und dem weit geschnittenen Dekollete, eingehüllt in die bodenlange schwarze Tunika, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Jetzt, da er ziemlich sicher sein konnte, dass Madeleine hinter dem Einbruch steckte, begann ihm zu dämmern, weshalb sie bei der Ausstellung mit ihm geflirtet und ihn anschließend zu sich in die Engelsmühle eingeladen hatte. Bestimmt hatte sie ebenfalls bemerkt, dass er nicht die Wahrheit erzählte, gar kein Automechaniker war und seine angebliche Tochter auch nicht wirklich Kunst studieren wollte. Als er sie dann auch noch nach ihrer Schwester befragte, sah sie nur noch eine Möglichkeit: Sie musste herausfinden, was er wusste, wer er tatsächlich war und weshalb er ihr und Linda nachspionierte. Schlussendlich brach sie in seine Wohnung ein, wo sie das Video fand. Hogart wunderte sich über sich selbst. Und er hatte für einen Moment gedacht, sie flirtete deshalb mit ihm, weil er ein so charmanter und gut aussehender Kerl war. In Wahrheit war er nur ein Idiot, der sich von einer eiskalten Frau um den Finger wickeln ließ. Im Gegensatz zu Madeleine war Linda völlig anders, auch wenn Rektor Priola das Gegenteil vermutete.

Linda musterte ihn neugierig. »Weshalb sehen Sie mich so an?«

»Sie sind viel sanfter, offenherziger und gefühlvoller als Ihre Schwester.«

»Ich denke nicht, dass Ihnen zusteht, so etwas zu behaupten.« Sie blickte verlegen zur Seite.

»Natürlich nicht, tut mir leid. Es tut mir auch leid, dass Sie stundenlang von der Kripo verhört wurden.«

»Halb so schlimm, die waren nur an Madeleine interessiert.«

»Wissen Sie, wo sie sich zurzeit aufhält?«

»Vermutlich auf ihrer Ausstellung …« Linda wurde stutzig. »Die Beamten glauben doch nicht etwa, dass Madeleine etwas mit den Morden zu tun hat?«

Hogart antwortete nicht.

»Ich bitte Sie, das ist doch lächerlich. Aus welchem Grund?«

»Sie wollte alle Unterlagen verschwinden lassen, die belegen, dass sie psychisch krank ist und dass sie die Schuld an Ihrem Unfall trug«, vermutete Hogart.

Linda errötete. »Das wissen Sie? Auch die Sache mit der …?«

»Schere?«

Sie seufzte tief. »Ich hatte gehofft, das würde nie herauskommen.«

»Verschwiegen Sie deshalb, dass Sie die Opfer kannten, um zu verhindern, dass die Vergangenheit Ihrer Schwester ans Licht kommt?«

»Sie verstehen das nicht. Falls jemand diese alte Geschichte aufwärmt, wird der Ruf der Familie befleckt - und schlimmer - falls herauskommt, dass Madeleine verrückt ist, könnte sie in eine Anstalt eingewiesen werden.«

Es war unglaublich. Begriff diese Frau nicht, worum es hier ging? »Aber es handelt sich nicht länger um eine Körperverletzung mit einer Schere. Mittlerweile geht es um Mord!«

»Das ist doch lächerlich!«, rief Linda. »Weshalb sollte Madeleine jemanden töten?«

»Sie ermordete jene drei Ärzte, die von der Attacke mit der Schere wussten, um ihre Geisteskrankheit geheim zu halten. Anschließend verwischte sie sämtliche Spuren und ließ alle Unterlagen verschwinden, die Sie mit den Mordopfern in Verbindung brachten.«

Linda lachte auf. »Ich bin keine Kriminalpsychologin, aber das sind ziemlich dünne Vermutungen. Und weshalb sollte das ausgerechnet jetzt geschehen?«

»Möglicherweise wollte Faltl sie nach zweieinhalb Jahren Pause wieder erpressen?«

Linda richtete sich in ihrem Rollstuhl auf. »Wie bitte?«

Hogart schwieg für einen Moment. Nur Sades sanfte Stimme war im Hintergrund zu hören. Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen. »Alfred Faltl hat Ihren Vater erpresst«, sagte er leise.

Lindas Gesicht wurde bleich. Sie hob die Hände vor den Mund, um einen Aufschrei zu verhindern. »Faltl, der Chirurg? Dieses Schwein …«, presste sie zwischen den Fingern hervor. Unwillkürlich strich sie mit einer Hand die Wolldecke glatt, die auf ihren Beinen lag, als wolle sie den Oberschenkel wärmen.

Sie sah Hogart an. »Wusste Madeleine davon?« Ohne seine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter. »Als Alleinerbin nach dem Tod unserer Eltern sind ihr bestimmt Vaters Kontoauszüge in die Hände gefallen. Sie hat nie ein Wort darüber verloren.«

Hogart schluckte, als er sah, dass sich Tränen in ihren Augen sammelten. Offensichtlich krempelte sich soeben ihr gesamtes Weltbild um. Er hätte von Anfang an die Finger von diesem Fall lassen sollen und Linda niemals an der Akademie besuchen dürfen. Immer musste er sich in fremde Angelegenheiten mischen.

»Wie lange ging diese Erpressung?«, fragte sie mit kalter, distanzierter Stimme. »Siebzehn Jahre.«

»Siebzehn Jahre«, wiederholte Linda. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. »Ich möchte Sie bitten, mich allein zu lassen … und nehmen Sie den Cognac bitte wieder mit.«

 

Als Hogart mit der Flasche in der Hand vor dem Haus stand, starrte er eine Weile zum Mond, der soeben hinter dem Donauturm hervorkam und die Straße in milchiges Licht tauchte. Die Laternen brannten nicht mehr. Trotzdem erkannte er die beiden Kerle, die immer noch in dem blauen Toyota saßen. Warum fuhren die Typen des Observierungsteams bloß immer so auffällige Wagen?

Er griff in Gedanken versunken in die Sakkotasche. Sie war leer. Natürlich. Was hätte er dafür gegeben, jetzt eine Zigarette zu rauchen.

Am nächsten Morgen läutete der Postbeamte um acht Uhr früh an Hogarts Tür, um einen Expressbrief zu überbringen. Als Hogart das Emblem des Landesgerichts neben dem österreichischen Adlerwappen sah, schrumpfte sein Magen auf die Größe einer Walnuss zusammen. Die auf blassgrünem Recyclingpapier gedruckten Fensterkuverts der Behörde verhießen nie etwas Gutes. Die Wiener Staatsanwaltschaft hatte Eichingers Anzeige dem Gericht vorgelegt, und dieses Schreiben enthielt Hogarts Vorladung zu Gericht - eine Anhörung, um den Tatbestand abzuklären, wie es hieß. Der Termin war noch heute, um 13.15 Uhr, die Richterin hieß Margaret Braunstorfer - und auch das bedeutete nichts Gutes. Sie trug den Spitznamen Die Eiserne Lady nicht umsonst - dagegen war Margaret Thatcher eine nette, einsichtige Dame.

Hogart zerknüllte die Vorladung. Normalerweise zogen sich derartige Amtshandlungen über Wochen hin, doch sobald es um persönliche Interessen ging, mahlten die Mühlen der Bürokratie ein wenig schneller als sonst. Sowohl Eichinger als auch Staatsanwalt Hauser wollten ihn so rasch wie möglich von der Bildfläche verschwinden lassen. Doch den Gefallen wollte er ihnen nicht tun. Allerdings konnte er sich auf eine saftige Ansprache der Richterin einstellen. Am besten wäre natürlich, wenn er gleich mit Dr. Fliesenschuh im Gerichtssaal aufkreuzte. Der Anwalt vertrat immer mehr Mitglieder der Familie Hogart. Vielleicht gewährte Fliesenschuh sogar Familienrabatt?

Doch im Moment war es besser, nichts zu überstürzen. Hogart versuchte zunächst, Garek zu erreichen, doch dessen Handy war ausgeschaltet. Auf der Dienststelle ging auch niemand ran. Nach dem dritten Läuten wurde der Anruf auf Gomez’ Handy umgeleitet, der ziemlich gehetzt klang, als stünde er gerade mit einer Hand im Sakkoärmel zwischen Tür und Angel. Nach einem knappen »Hallo Hog - diesmal musst du mehr als fünfzig Euro springen lassen«, erfuhr er, dass Gomez auf dem Weg zu Linda Bohmann war, um sie zum Zentralfriedhof zu begleiten, wo sie sich mit Garek und Eichinger treffen wollte.

Unwillkürlich starrte Hogart aus dem Fenster. »Was zum Teufel macht ihr auf dem Friedhof?« Ein bleierner Nebelschleier lag über der Stadt. Perfekt für einen morgendlichen Spaziergang zwischen den Grabreihen.

»Diese Bohmann ist schlimmer als meine Mutter. Die kommandiert uns ganz schön rum«, murrte Gomez. »Sie möchte bei der Exhumierung unbedingt dabei sein … du, ich muss los, bis später.«

Exhumierung? Hogart verzichtete auf ein Frühstück und kippte den Rest des schwarzen Kaffees in den Ausguss. Er schlüpfte in seine neuen Lackschuhe, einen dunklen Anzug und Mantel, und fuhr ebenfalls zum Friedhof.

 

Der Wiener Zentralfriedhof beherbergte mittlerweile doppelt so viele Tote, wie die Stadt Einwohner hatte. Auf dem Areal befanden sich neben der katholischen auch eine evangelische, israelitische, islamische und eine russisch-orthodoxe Abteilung - und falls man nicht genau wusste, wohin man wollte, konnte man sich hier tagelang verirren.

Hogart parkte vor dem Osttor. Irgendein Witzbold hatte einen handgeschriebenen Zettel »Heute Ruhetag« auf das Eingangstor gehängt, der im Wind hin und her flatterte. Am Donnerstagvormittag war die Tür des Wärterhäuschens jedoch tatsächlich abgesperrt. Er konnte also den ganzen Friedhof nach einer Graböffnung absuchen. Während er an den Mausoleen und Marmorsockeln vorbeiging und ihm die Morgenkälte unter den Mantel in den Anzug kroch, stiegen einige in Vergessenheit geratene Erinnerungen in ihm hoch.

Als Kinder hatten sein Bruder und er, kaum älter als fünf und acht Jahre, ihren Vater an den nebeligen Herbstnachmittagen oft zu diesem Friedhof begleitet. Wenn ihr alter Herr gerade wegsah, zeichneten sie Figuren mit der Schuhspitze in die Kieswege oder ließen Kastanien über die Marmorplatten springen. Drei aufeinanderfolgende Gräber und eine Engelskulptur waren Kurts Rekord gewesen. Manchmal liefen sie auch den Krähen hinterher oder stießen sich gegenseitig in die Laubberge, die die Gärtner am Wegesrand angehäuft hatten. Während ihrer langen Spaziergänge auf den endlosen Wegen, die von einem Waldstück zum nächsten führten, waren sie an den Grabstellen von Brahms, Nestroy, Schubert, Beethoven und den Komponisten der Straußfamilie vorbeigekommen, was einen Achtjährigen ungefähr genauso interessierte wie das Ergebnis der aktuellen Nationalratswahl. Hogarts Vater war wie ein wandelndes Kulturlexikon gewesen und hatte zu fast jedem Ehrengrab eine Geschichte erzählt. Mittlerweile war es nicht mehr so einfach, sich ein Grab auf dem Zentralfriedhof zu kaufen, und eine reine Prestigesache, in einer der vielen Familiengruften zu liegen.

Nachdem Hogart eine knappe Dreiviertelstunde zwischen den Abteilungen des Friedhofs herumgelaufen war und stets das Bild seines Vaters vor Augen gehabt hatte, sah er von Weitem endlich die gelben Absperrbänder der Polizei. Zwei Totengräber hoben ein Grab aus. Neben der Steinplatte türmten sich bereits an die zwei Kubikmeter Erde auf. Der Farbe nach zu urteilen bestimmt Lehm. Gut für den Pathologen. Falls es verräterische Spuren an der Leiche gab, waren sie im Lehmboden bestens konserviert worden.

Garek und Eichinger wandten Hogart den Rücken zu. Sie standen neben einer ausklappbaren Trage und jeder Menge Abdeckplanen. Auf der anderen Seite trat ein graumelierter Herr im dunklen Anzug von einem Bein aufs andere. Er reichte Hogart gerade mal bis zur Schulter. Vermutlich Bartoldi, der Gerichtsmediziner, der für Exhumierungen zuständig war und später die Obduktion vornehmen würde. Alle drei starrten in die Grube, als konnten sie kaum erwarten, endlich das Klirren zu hören, mit dem der Spaten auf den Sarg traf. Noch dazu zappelten Bartoldis Finger nervös hin und her. Man könnte meinen, er würde am liebsten selbst in die Grube springen, um den beiden Dilettanten den Spaten aus der Hand zu reißen.

Unter einer alten Weide, einige Meter vor der Absperrung, saß Linda Bohmann im Rollstuhl. Mit der schwarzen Stola um die Schultern, dem breitkrempigen Damenhut und der Wolldecke über ihren Beinen wirkte sie wie eine trauernde Hofratswitwe neben ihrem Butler. Gelassen drehte sie am Griff ihres aufgespannten Regenschirms. Noch nieselte es nicht, doch am Horizont braute sich eine Gewitterfront zusammen. Hin und wieder neigte sie den Kopf, um mit Gomez zu reden, der mit hinter dem Rücken verschränkten Armen neben ihr stand. Die Szene sah beklemmender aus als eine Beerdigung.

Als Hogarts Schuhe auf dem Kiesweg knirschten, warf sie einen knappen Blick über die Schulter. Sie erkannte ihn und lächelte sogleich. Doch das Lächeln war aufgesetzt. Im nächsten Moment erschlafften ihre Gesichtszüge. Sie sah schrecklich mitgenommen aus, als habe sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. Offensichtlich ging ihr immer noch Faltls jahrelange Erpressung durch den Kopf.

»So trifft man sich wieder«, sagte sie. »Ausgeschlafen?«

Hogart nickte Gomez kurz zu und trat an Lindas Seite. »Ich habe den Cognac gestern Abend nicht allein getrunken, falls Sie das meinen. Die Flasche wartet immer noch auf uns - wenn einmal bessere Zeiten kommen.«

Sie reichte Gomez den kleinen Damenschirm, der damit reichlich lächerlich wirkte.

»Mein neuer Begleiter«, erklärte sie und versuchte erneut zu lächeln.

Die Ausbuchtung unter der Achsel des Ermittlers war kaum zu übersehen. Einige Meter entfernt verbarg sich ein weiterer Beamter hinter einer Weide.

»Stehen Sie unter Polizeischutz?«

»Ja, ist das nicht lächerlich?«

Hogart antwortete nicht darauf. In Wahrheit war es die beste Idee, die Garek und Eichinger bisher gehabt hatten.

Hogart deutete zu den beiden Ermittlern, die neben dem Aushub standen und von ihrem Gespräch nichts mitbekamen. »Das Grab Ihrer Eltern?«

Linda strich die Decke auf ihren Beinen glatt. »Angeblich gibt es wegen des Autounfalls einige Ungereimtheiten. Das ist doch völliger …« Sie hielt inne und betrachtete Hogart. »Sie stecken doch wohl nicht hinter dieser Sache, oder?«

Offensichtlich zögerte Hogart zu lange mit seiner Antwort, denn Lindas Gesichtsausdruck änderte sich.

»Ich hätte es wissen müssen.« Sie schüttelte den Kopf. »Was soll das?«

»Können Sie mit absoluter Sicherheit behaupten, dass es nur ein Unfall war?«

»Natürlich. Meine Eltern waren zu Silvester …« Sie senkte die Stimme. «… sturzbetrunken - peinlich genug.«

Gomez trat hinter Linda, hob die Hand zum Mund und verdrehte dabei die Augen.

Linda, die davon nichts mitbekam, erzählte weiter. »Mitten in der Nacht kam es - wie üblich, wenn Vater seine sentimentalen Anfälle hatte - zum Streit mit Madeleine, worauf meine Eltern fluchtartig das Haus verließen. Madeleine hätte sie aufhalten müssen, doch die schwelgte wieder einmal in ihrer gekränkten Eitelkeit. Dann passierte es. Der Wagen geriet ins Schleudern und stürzte in die Felsschlucht…« Linda starrte ins Leere.

Sie brauchte ihm nichts zu erzählen. Von Schleudern konnte keine Rede sein. Er hatte den Mercedes mit den gekappten Bremsschläuchen gesehen. Wäre es damals sofort zu einer Untersuchung gekommen, hätte die Kripo feststellen müssen, dass es auf der Eisplatte keine Bremsspuren gab.

»Immerhin wurden diese Woche drei Menschen ermordet. Die Kripo macht nur ihre Arbeit«, verteidigte er die Ermittler.

»Und was versprechen die sich davon, wenn sie das Grab aufreißen?«

Zur gleichen Zeit tönte ein Knirschen zu ihnen herüber, als würde ein Spaten einige morsche Holzbretter öffnen. Bei dem Geräusch wich jede Farbe aus Lindas ohnehin schon bleichem Gesicht. Doktor Bartoldi kletterte in die Grube.

Linda schloss für einen Moment die Augen. Sie klammerte sich an die Rollstuhllehne, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Mir wird übel, wenn ich daran denke, was als Nächstes passiert.« Sie atmete tief durch. »Es heißt, dass die Haare und Nägel eines Menschen nach dem Tod weiterwachsen. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie der Sarginhalt jetzt aussieht.«

Gomez hielt immer noch den Schirm in der Hand. Er stand hinter Lindas Rollstuhl, ließ die Zunge raushängen und verdrehte die Augen. Der Idiot wusste einfach nicht, wann es genug war.

»Das ist nichts weiter als ein hartnäckiges Gerücht«, sagte Hogart. »Nach dem Tod fällt die Haut eines Menschen ein. Sie schrumpft. Dadurch treten Teile der Nägel und Haare weiter hervor. In Wahrheit ist es nur eine optische Täuschung.«

»Sie sollten sich mal reden hören! Sie klingen genauso morbide wie meine Schwester. Ob optische Täuschung oder nicht - es sieht trotzdem grauenhaft aus.«

Wieder drang ein Krachen und Knirschen zu ihnen herüber. Die Männer hoben zu dritt die morschen Teile des Sargdeckels aus der Grube, während Garek und Eichinger die Plane über der Trage ausbreiteten.

»Ich hätte nicht gedacht, dass die tatsächlich so weit gehen würden.« Sie wandte den Blick ab. »Begleiten Sie mich zu meinem Wagen? Allein ist es beschwerlich. Die Räder sinken im Kies ein.«

»Gern.«

Sie zeigte Hogart den Weg. Er packte die Griffe des Rollstuhls und fuhr mit ihr zum Ausgang. Gomez und der andere Beamte, der bis jetzt hinter der Weide gestanden hatte, folgten ihnen. Linda warf ihnen einen Blick über die Schulter zu.

»Das sei alles nur zu meinem Schutz«, sagte sie gereizt. »Was sollte mir schon passieren?«

»Madeleine hat möglicherweise etwas mit dem Autounfall Ihrer Eltern zu tun.« Vorsichtiger ließ sich seine Theorie wohl kaum formulieren. »Im Moment sterben ziemlich viele Menschen, die Sie kannten. Vielleicht möchte Madeleine auch Ihr Leben zerstören?«

»Madeleine ist verrückt, das haben Sie mittlerweile auch schon herausgefunden, aber sie würde keinen Mord begehen.«

»Madeleine hasst Sie! Können Sie ausschließen, dass sie Ihnen etwas antun würde?«

»Bisher bin ich auch ohne die Polizisten in meiner Nähe ganz gut zurechtgekommen.«

Wie wahr! Gomez ging einige Schritte hinter ihnen und drehte den Schirm über der Schulter. Auf so eine Leibwache konnte Linda tatsächlich verzichten. Falls Madeleine in diesem Moment hinter einem Baum hervorstürzte, um Gomez eine Schere in den Kehlkopf zu treiben, würde er nicht mehr rechtzeitig an seine Waffe rankommen.

Sie erreichten Lindas Van, der mit einem Behindertenausweis in der Windschutzscheibe unmittelbar vor dem Westtor parkte. Einige Meter dahinter sah Hogart den Transporter der Pathologie. Daneben, in zweiter Reihe, stand Eichingers metallic-schwarzer Audi, frisch aus der Waschstraße. Das Schiebedach war offen, lässig wie immer. Hogart blickte zur näher kommenden Wolkenfront.

Wer cool war, musste eben damit rechnen, dass es ihm in den Wagen regnete und die Reservekrawatte im Seitenfach nass wurde.

Linda reichte Hogart die Hand. »Vielen Dank, den Rest schaffe ich allein.« Sie klappte die Lehnen und Pedale ein und zog sich am Lenkrad des Wagens auf den Fahrersitz.

Hogart hatte diese Prozedur schon einmal in Priolas Büro beobachtet. Diese Frau war so erstaunlich kraftvoll. Immerhin machte sie diese Übung mehrmals täglich.

»Fahren Sie in die Akademie?«

Sie montierte die Räder vom Rollstuhl ab und hob sie auf den Beifahrersitz. »Als ich heute Morgen von der Exhumierung erfuhr, habe ich mir freigenommen. Ich fahre nach Hause, nehme eine Tablette gegen die Kopfschmerzen und ruhe mich aus. Wollen Sie heute Nachmittag auf Kaffee und Kuchen vorbeikommen?«

Hatte er richtig gehört? Gestern wollte sie ihn noch wegen seiner Lügen bei der Staatsanwaltschaft anzeigen - aber zu seinem Pech hatte das mittlerweile jemand anders für sie übernommen.

»Zur Versöhnung«, fügte sie hinzu.

»Vielen Dank, aber …«

»Ihnen passiert nichts, das verspreche ich. Mein Haus wird streng bewacht. Kevin Costner steht dort drüben, ganz unauffällig mit meinem Schirm in der Hand.« Sie nickte zu den Beamten, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite in ihr Fahrzeug stiegen.

»Danke, aber ich habe einen Gerichtstermin und noch einige Dinge zu erledigen.«

»Dann viel Glück, leben Sie wohl.« Sie zog die Tür zu und startete den Wagen.

Er sah dem Auto hinterher, bis er es im Straßenverkehr aus den Augen verlor. Dann starrte er auf Eichingers Audi. Die Sache war noch nicht ausgestanden. Er ging zurück zum Grab der Bohmanns.

Gruber, Andreas - Peter Hogart 2
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