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Am nördlichen Stadtrand, wo der Wienerwald begann, schlängelte sich die Donau zwischen dem Kahlenberg, dem Leopoldsberg und dem Bisamberg hindurch. Diese sogenannte Wiener Pforte stellte die erste Erhebung der Alpen dar. In jener ländlichen Gegend aus Äckern, Weingärten und immer dichter werdenden Föhren- und Schwarzkieferwäldern, die immer noch zur Stadt gehörten, erinnerten zahlreiche Gedenktafeln an die Türkenbelagerung vor über dreihundert Jahren. Mittlerweile kam Hogart diese Anhöhe ziemlich vertraut vor. Heute Morgen war er bereits am Ende der Waldorfgasse gewesen, wo Primär Ostrovskys Villa lag. Doch jetzt fuhr er daran vorbei.
Über holperiges Kopfsteinpflaster lenkte er den Wagen die zahlreichen Serpentinen zum Kahlenberg hinauf. In den engen Kurven sah er über die Leitplanken zur Donau hinunter, die an jener Stelle noch ungebändigt dahinfloss und sich erst weiter unten zähmen ließ, um als ruhiger Strom die Stadt zu durchqueren. Die Höhenstraße verband den Kahlenberg mit dem Leopoldsberg. Als Kind hatte Hogart mit seinen Eltern öfter Ausflüge in den Wienerwald unternommen, richtiggehende Wanderungen zu den Berghütten oder Heurigen an der Donau gemacht. Aus dieser Zeit war ihm die Höhenstraße noch ein Begriff, als Weg mit engen Kurven und gefährlichen Schluchten. Auf dieser Straße gab es eine Stelle, die ihm Madeleine ausführlich beschrieben hatte. Ein Plateau, das von Busfahrern als Umkehrplatz benutzt wurde. Der alte Strommast in der Mitte war schwarz vom Teer und brummte wie eine Hummel.
Kurz vor elf Uhr nachts wartete Hogart an jener Stelle und starrte in die Schlucht hinunter. Die Straßenbeleuchtung war teilweise ausgefallen, nur eine einzige Lampe flimmerte ab und zu. Das Licht spiegelte sich in einem neuen Stück Leitplanke, das inmitten der rostigen, verbeulten Straßenabsperrung eingesetzt worden war. Bestimmt hatte diese Stelle vor Jahren ein Wagen durchbrochen. Als die Beleuchtung endgültig ausfiel, sah Hogart, wie sich das Mondlicht im Fluss spiegelte. Die Donau schmiegte sich wie ein funkelndes schwarzes Band um die Felsen am Fuß des Berges, von wo aus sie träge durch die Landschaft floss. In diesem Moment hatte der Anblick des nächtlichen Wasserlaufs nichts mehr mit der viel besungenen schönen blauen Donau gemein. Viel eher wirkte der Strom wie ein Ausfluss, der die Pest ins Land trug.
Ein kühler Wind wehte von der Schlucht empor und rauschte durch die Bäume jenseits des Straßenbanketts. Es roch nach Nadeln und feuchter Erde. Als ein Käuzchen im Wald schrie, machte Hogart einen Schritt näher an den Abgrund heran und starrte mit zusammengekniffenen Augen die Böschung hinunter. Zwanzig Meter unter ihm spiegelte sich das Mondlicht zwischen den Bäumen in einer Glasscheibe oder einem Metallstück. Vermutlich lag das Autowrack, welches die Planke durchschlagen hatte, immer noch dort unten.
Hogart sah sich um. Das Lichtermeer der Stadt, welches sich bis zum Horizont erstreckte, war durch feinen Nieselregen getrübt. Blitze zuckten hinter der Wolkenbank, die über der Stadt hing. Sekunden später grollte das Echo des Donners dumpf durch das Tal. Das Sommergewitter hatte lange auf sich warten lassen. Nun war es da und würde innerhalb der nächsten halben Stunde die ersten Ausläufer des Wienerwaldes erreichen.
Hogart fröstelte. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, die Finger trommelten auf dem Feuerzeug und der Zigarettenpackung für Notfälle. Sollte er eine Stuyvesant rauchen? Endlich sah er das Aufblitzen von Autoscheinwerfern, die sich wie Leuchtkäfer die Serpentinen zum Plateau hochwanden. Er blickte auf die Uhr. Falls es bereits Madeleine war, kam sie fünf Minuten zu früh. Sie hatten sich für 23.00 Uhr an dieser Stelle verabredet. Weiter konnte sie Hogart den Anfahrtsweg zu ihrem Haus nicht erklären, da er so verwinkelt war, dass Hogart ihn selbst mit der besten Wegbeschreibung nicht gefunden hätte.
Von Weitem hörte er, dass der herannahende Wagen nicht mehr als fünfzig PS haben konnte, und schließlich erreichte ein alter schwarzer Golf das Plateau. Es war Madeleine. Sie blinkte ihn mehrmals mit der Lichthupe an. Er stieg in seinen Wagen und folgte ihr.
Madeleine fuhr die Höhenstraße weiter hinauf, zweigte aber an einer unscheinbaren Stelle zwischen zwei Föhren in einen Waldweg ab, den Hogart tatsächlich nie gefunden hätte. Von da an fuhr sie in engen Zickzack-Kurven über den von Wurzeln bedeckten Weg, da sie den Schlaglöchern auswich, die noch immer vom Regenwasser des letzten Gewitters voll waren.
Was für eine Gegend. Selbst Leute, die ein Leben in einem einsamen Landhaus bevorzugten, würden in dieser Umgebung versauern. Für Hogart, der den Trubel der Menschen um sich brauchte, wirkte dieser Ort so einladend wie ein Friedhof.
Nach wenigen Minuten kamen sie mitten im Wald an einen Zaun mit einem schmiedeeisernen, zwei Meter hohen Tor. Das Scheinwerferlicht spiegelte sich in einem Blechschild. Nur . undeutlich waren die abgeblätterten Buchstaben zu lesen.
Privatbesitz der Familie Bohmann
Zufahrt verboten
Ein Tor von diesem Ausmaß ließ mindestens eine Burg jenseits des Zauns vermuten, doch Hogart bezweifelte, dass dieser Wald mehr als eine einsame Hütte zu bieten hatte.
Madeleine verließ ihren Wagen, um das Eisengitter zu öffnen. Danach lenkte sie ihr Auto die Zufahrt hinauf, um unter einigen verkrüppelten Föhren zu parken. Hogart stellte seinen Wagen neben den Golf. Für einen Moment wurde das Plateau vom Mond beschienen, der kurz darauf wieder hinter den Regenwolken verschwand.
Inmitten des von Bäumen umgebenen Platzes stand ein aus groben Steinen gemauerter Brunnen. Ein Fußweg führte daran vorbei zu einem Holzschuppen und einem Kohlenkeller, der in den Berghang hineingebaut worden war. Der Weg endete auf der Bergkuppe, wo im Schatten der Bäume tatsächlich eine Windmühle thronte. Hogart sah nur die Umrisse. Auf einem massiven Steinsockel, der wohl den Keller darstellen sollte, folgte ein Stockwerk aus Holz mit einigen Fenstern, aber verschlossenen Läden. Darüber saß die Kuppel mit dem Windrad. Ohne Bespannung wirkte die Holzkonstruktion aus den fünf Flügeln wie ein Gerippe, das monströs in den Nachthimmel ragte.
Wer so verrückt genug gewesen war, auf dem Plateau mitten im Wald eine Windmühle zu errichten, war zweifelsohne auch so verrückt gewesen, den Brunnen zu graben. Womöglich hatte dieser jemand sogar mit der Wünschelrute eine Quelle entdeckt. Hogart schätzte das Bauwerk auf mindestens zweihundertfünfzig, wenn nicht sogar dreihundert Jahre.
Als Hogart um den Wagen herumging, zerplatzten die ersten Regentropfen auf der Autoscheibe.
»Beeilen wir uns!« Madeleine lief voraus.
Hogart folgte ihr über den mit Natursteinen gelegten Fußweg, am Brunnen und dem Vorratskeller vorbei. Als sie die Holzhütte erreichten, tauchte ein Blitz die Umgebung für Sekunden in gleißendes Licht. Unmittelbar darauf grollte der Donner jenseits der Wipfel. Im gleichen Moment setzte der Regenguss ein. Augenblicklich verwandelte sich der Boden links und rechts des Weges in schlammige Pfützen, aus denen der Matsch bis zu Hogarts Hosensaum hochspritzte.
Madeleine öffnete den Schuppen und zog Hogart zu sich ins Dunkel. Unter dem Vordach blieben sie halbwegs trocken. Blitz und Donner tauchten die Umgebung in eine Weltuntergangsstimmung. Von der Mühle floss ein Sturzbach den Hang hinunter, um im Wald zu verschwinden. Der Weg von dem schmiedeeisernen Tor zur Höhenstraße wurde binnen Sekunden so ausgespült, dass die Heimfahrt durch den Wald nicht ungefährlich werden würde.
Offensichtlich bemerkte Madeleine, wie er zu den Autos blickte, da sie sich plötzlich an ihn schmiegte.
»Wahrscheinlich ist es noch zu früh, so etwas zu sagen, aber wenn Sie möchten, können Sie im Gästezimmer der Mühle übernachten.« Sie griff über seinen Kopf zu einem Holzbrett, von wo sie einen Schlüsselbund herunternahm.
Er spürte ihren Atem und roch ihr Parfüm, gepaart mit dem Geruch des Regens und der feuchten Erde.
»Allerdings bin ich eine Frühaufsteherin. Speck und Eier gibt es um halb sechs.«
»Klingt verlockend.«
Im Dunkeln sah er nur die Silhouette ihres Gesichts. Der matte Mondschein zeichnete einen silbernen Schimmer auf ihre Stirn und die Wange. Für einen Moment glaubte er, sie lächeln zu sehen.
»Kann ich das als ein Ja deuten?«
Ihre Stimme erinnerte ihn an Linda. Die Nähe der Frau erregte ihn, obwohl die Situation alles andere als erotisch war. Sie standen im Türrahmen der Holzhütte und starrten in die Auswüchse des Sommergewitters.
»Warten wir ab, wie sich das Wetter entwickelt«, antwortete er. »Es ist ziemlich einsam, so weit weg von der Stadt.« Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
»Ist einsam gleichbedeutend mit schlecht?«, fragte sie. »Noch vor einem guten Jahrhundert florierte diese Gegend. Pferdekarren fuhren die Straße rauf und runter. Die Mühlräder liefen auf Hochtouren. Jede Nacht mussten die Knechte in der Mühle arbeiten, schwere Säcke schleppen, Getreide in den Mahlkasten schütten, das Mehl herausnehmen und forttragen.«
»Hatte der Brunnen Wasser?«
»Früher schon, der Mühlbrunnen reicht auch elendstief hinunter. Einer Sage zufolge warf der alte Müller seine Frau in den Brunnen, wo sie angeblich noch heute liegt. Weil sie nie richtig begraben wurde, versiegten sowohl die Quelle als auch der Bach hinter dem Haus.«
»Eine nette Geschichte.«
»Wenn sich hier oben etwas hält, dann ist es der Aberglaube. Seitdem ist die Mühle nicht mehr in Betrieb; die Mühlräder stehen still. Nie wieder hat jemand Wasser aus dem Brunnen geschöpft. Doch jede Vollmondnacht füllt sich der Brunnen randvoll mit Wasser. Wer davon trinkt, wird krank und stirbt.«
»Und dieses Märchen glauben Sie?«
Madeleine schmunzelte. »Natürlich nicht. Würde ich sonst hier wohnen?«
Hogart blickte zum Himmel. In drei Nächten würde der nächste Vollmond sein. Im Moment war er allerdings zwischen den Wolken verschwunden.
»Wie sind Sie zu der Mühle gekommen?«
»Nachdem der Betrieb eingestellt wurde, stand die Mühle jahrelang leer.« Sie ließ den Schlüsselbund um ihren Finger kreisen. »Mit der Zeit stürzte das Dach ein, es regnete in die Zimmer, die Fußböden verfaulten und es wuchsen Efeu und Disteln in die Räume hinein. Man erzählte sich, dass unter all dem Unkraut keine einzige Blume zu sehen war und kein Vogel je sein Nest in der Nähe der Mühle gebaut hatte. Man sagte, es spuke in der Engelsmühle.« Sie sah ihn warnend an. »Und fragen Sie mich bloß nicht, ob ich auch daran glaube.«
»Warum erzählen Sie es dann?«
»Es passt zur Stimmung.«
Hogart fröstelte, allerdings mehr wegen der Kälte. »Warum heißt die Mühle so? Nach Ihrer Beschreibung wirkt der Ort nicht gerade, als hätte er viel mit Engeln zu tun.«
»Bevor mein Vater die Mühle und das umliegende bewaldete Grundstück in den Sechzigerjahren gekauft hatte, lebte eine Greisin, eine ehemalige Hebamme, in dem Haus. Man erzählte sich, sie wurde aus dem Ei einer schwarzen Henne ausgebrütet. Die Alte hieß Anna … die Engelmacherin vom Kahlenberg.«
Sie betonte den letzten Satz so, als müsse Hogart der Begriff etwas sagen, doch er hatte den Namen noch nie gehört.
»Eine Engelmacherin?« Er zögerte. »Eine Frau, die Kinder abtrieb?«
Madeleine nickte. »Wer sich ein Baby wegmachen lassen wollte, musste den Berg hinauffahren … und in der Nachkriegszeit wurden viele Kinder abgetrieben. Mit dem Geld, das sie dafür bekam, ließ die alte Anna die Mühle renovieren. Eine traurige Geschichte, nicht wahr?« Sie blickte kurz zur Mühle empor. »Sie lebte über zwanzig Jahre im Keller des Gemäuers. Man fand ihr Tagebuch in einem hohlen Stein. Würde man für jedes ermordete Kind eine Kerze aufstellen, wäre dieser Hügel jede Nacht hell erleuchtet.« Ihre Stimme wurde leiser. »Im Winter sieht man oft die Spuren kleiner nackter Füßchen im Schnee. Sie führen zum ausgetrockneten Flussbett.«
Hogart schwieg. Er wusste nicht, ob sie das soeben Gesagte ernst meinte oder ob sie es bloß erfand, weil es zur Stimmung passte. »Wie lange leben Sie schon hier?«
»Ich bin hier aufgewachsen, es ist mein Elternhaus. Vater besaß einen Zweitwohnsitz in der Stadt, in der Nähe des Donauturms. Aber seit dem Tod unserer Eltern lebe ich allein hier, und Linda ist in die Stadt übergesiedelt.« Sie nickte zu dem Steinsockel. »Unter der Mühle gab es früher ein Gasthaus. Heute ist es mein Atelier. Nachts male ich beim Schein der Petroleumlampen.
Oben liegen die Wohnräume. Alles wirkt ziemlich alt - ist es ja auch -, aber Vater ließ Strom und fließend Wasser von der Höhenstraße heraufleiten. Es lebt sich also recht komfortabel.«
Sie standen eine Weile schweigend unter dem Türstock der Holzhütte und blickten in die Nacht. Die Blitze wurden immer weniger, der Donner entfernte sich, und schließlich hörte es auf zu regnen. Bloß der Wind brachte die Föhren zum Rauschen.
»Gehen wir?« Hogart machte einen Schritt nach draußen.
»Vorsicht!« Madeleine packte ihn am Sakkoärmel und zog ihn zur Seite. Er stolperte zurück und landete mit dem Rücken am Türstock. Madeleine war ganz nah bei ihm, sodass er wieder ihren Atem im Gesicht spürte.
»Marderfallen«, flüsterte sie.
Hogart spähte zu Boden. Er wäre beinahe in eine Falle getreten.
»Die kleinen Teufel sind überall, nagen die Leitungen an und fressen sich durch die Kabel im Motor.«
Madeleine machte keine Anstalten, ihn gehen zu lassen. Sie näherte sich seinem Gesicht. Unwillkürlich legte er seinen Arm auf ihre Hüfte. Er spürte die volle, weibliche Rundung und sein Glied wurde wieder hart.
Sie berührte seine Brust und trippelte mit spitzen Fingern wie eine Maus über seinen Hals zum Kinn. »Flink sind sie. Mit kleinen, spitzen Zähnen nagen sich die Biester überall durch.«
Sie presste sich näher an ihn heran. Er spürte ihren Busen auf seiner Brust. »Ich kenne nicht einmal deinen Namen.«
»Peter«, antwortete er, da sie plötzlich begonnen hatte, ihn zu duzen.
»Peter, der Automechaniker, rrrarrr …« Sie schnurrte wie eine Raubkatze. Plötzlich löste sie sich von ihm. »Ich wollte dir doch etwas zeigen. Komm mit.«
Während Hogart noch am Türrahmen lehnte und ihr nachsah, lief sie mit den Stöckelschuhen den nassen Weg zur Mühle hinauf.