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Hogart spazierte durch die Kantine des Kaiserin-Elisabeth-Spitals, in dem Abel Ostrovsky früher als Primär die Abteilung für Neurologie und das Institut für Physikalische Medizin geleitet hatte. Mittlerweile war es vier Uhr nachmittags und sein Magen begann zu knurren. Er kaufte sich ein Schinkensandwich und eine Dose Pepsi und sah sich im Speiseraum um.

Lindas Auskunft hatte ergeben, dass Ostrovsky in der Mordnacht nur zwei Telefonate geführt hatte: um 17.30 Uhr von seinem Festnetz mit der Familie Seidl und fünf Minuten später von seinem Handy mit Kurts Anrufbeantworter.

Mittlerweile hatte Hogart ebenfalls mit der Familie Seidl telefoniert, die Mutter an den Apparat bekommen und herausgefunden, dass ihr Sohn Eduard als Archivar im Kaiserin-Elisabeth-Spital arbeitete. Eddie, wie sie ihn nannte, habe gerade Dienst, und nachdem sie aufgelegt hatte, war Hogart bereits losgefahren.

Nun stand er in der Cafeteria des Krankenhauses und suchte nach einem etwa dreißigjährigen Mann mit einer hohen Stirn und pechschwarzen Haaren, der dem Portier zufolge soeben Kaffeepause machte. In der Kantine saßen jede Menge Patienten mit Krücken, in Rollstühlen oder mit dem Gestänge für die Infusionsflasche an der Seite. Es roch nach Kaffee und Kuchen, und die leise Radiomusik wurde vom Gerede der Patienten und ihren Besuchern übertönt. Als Hogart einen Mann in blauer Spitalskleidung und weißen Turnschuhen bemerkte, auf den Seidls Beschreibung passte, ging er auf dessen Nische zu. Der junge Mann trug ein Slipknot-T-Shirt unter der Spitalsjacke.

»Mein Name ist Peter Hogart. Haben Sie kurz Zeit?« Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er sich an den Tisch.

Eddie Seidl starrte auf Hogarts Pepsidose. »Das Zeug frisst sich durch Ihren Darm wie Termiten durch einen Holzpfosten.«

»Meine Exfreundin hat den Geschäftsführer von Coca Cola geheiratet«, erklärte Hogart.

Eddie sah ihn einen Moment lang skeptisch an. »Verstehe. Lassen Sie es sich schmecken.«

»Ich bin wegen Primär Ostrovsky hier.«

Eddie hob die Augenbrauen. »Das dauerte ganz schön lange, bis Sie endlich hier aufkreuzen.«

Ganz schön lange? Hogart drehte die Dose zwischen den Fingern und versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.

»Ich habe gleich in der Früh, als ich in der Zeitung von dem Mord las, auf dem Revier angerufen.« Eddie schob die leere Kaffeetasse beiseite und beugte sich nach vorne. »Stimmt es, was in der Zeitung steht? Ich meine das mit den brutalen Schnitten und der Abschlachtung?«

»Dazu kann ich nichts sagen«, antwortete Hogart. Der Archivar war sich wohl ziemlich sicher, dass Hogart von der Kripo-Dienststelle kam, um dem Hinweis nachzugehen, da er nicht einmal den Ausweis sehen wollte.

Eddie fuhr sich mit den Fingern durch den Dreitagebart, der am Kinn dichter wuchs. Irgendwie sah der Mann nicht so aus, als würde er noch bei seiner Mutter wohnen. Doch irgendjemand musste ihm ja sein Slipknot-T-Shirt bügeln.

»Meine Pause ist zu Ende, ich muss wieder in den Keller ins Archiv. Am besten, Sie kommen mit runter, dann erzähle ich Ihnen, was Ostrovsky von mir wollte.«

»Und wie wäre es mit jetzt gleich?«, drängte Hogart. Er dachte an den Brand in der Krankenkasse, den er noch für Medeen & Lloyd aufklären musste.

»He Mann, Polizei hin oder her, ich riskiere doch keinen Anschiss vom Oberarzt. Meine Pause ist um.«

»Fünf Minuten«, bat Hogart.

»Nein!«

Seufzend drehte sich Hogart um. Als er durch die Cafeteria zur Eingangshalle des Krankenhauses sah, bemerkte er Eichingers schlanke Gestalt im schicken Anzug. Der Beamte blickte sich um und steuerte auf die Glasfront zu, hinter der sich der Portier befand. Es war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, um dem Ermittler in die Hände zu laufen.

Hogart sprang auf. »Einverstanden, gehen wir!«

»Na also.« Eddie erhob sich langsam.

Während Eichinger die Dienstmarke vorzeigte und den Portier befragte, marschierten sie hinter dessen Rücken zu den Fahrstühlen. Eddie erzählte, dass er letzte Woche Urlaub gehabt hatte - vier Tage mit Freunden campen, auf einem Open-Air-Festival. Das Wetter war herrlich gewesen, die Bands saugeil, aber das Bier wie immer warm wie Suppe. Und mittlerweile stapelten sich die Akten im Archiv sicher schon bis zur Decke. Hogart hörte nur mit halbem Ohr zu, da er ständig zu Eichinger blickte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Portier den Beamten mit einer Handbewegung in den Speiseraum schickte.

Als Eichinger seinen Kopf wieder aus der Portiersloge zog, öffnete sich die Fahrstuhltür und Eddie und Hogart verschwanden in der Kabine. Bevor sich die Tür mit einem Klingeln schloss, spähte Hogart durch den Spalt. Zum Glück hatte Eichinger von alldem nichts mitbekommen. Hogart wusste, der Ermittler war nicht gerade die Geduld in Person. Bestimmt hielt er sich nicht länger als ein paar Minuten in der Kantine auf, bevor er Eddie über die Sprechanlage zum Informationsschalter bestellen würde.

Während die Leuchtziffern in das dritte Untergeschoss hinunterzählten, berichtete Eddie immer noch von dem Rammstein-Konzert. Sekunden später öffnete sich die Tür in der untersten Kelleretage mit einem Klingeln. Der typische Geruch eines Krankenhauses, nach Salben, Alkohol und Desinfektionsmittel, drang in die Kabine. Zudem roch es nach den Kunststoffpaneelen des Korridors. Die Szene erinnerte Hogart an die Besuche am Sterbebett seines Vaters vor sieben Jahren. Seitdem hasste er diesen Geruch, den er mitsamt den Erinnerungen nicht mehr aus dem Kopf bekam, sobald er eine Klinik betrat.

Hogart folgte Eddie durch den Gang zu den Räumen des Archivs. »Was hat Ostrovsky am Freitagabend mit Ihnen besprochen?«

»Tja, er rief mich an. Er war fürchterlich aufgeregt. Es lief gerade eine Doku über Wacken im Fernsehen. Zuerst wusste ich gar nicht, wer er war, doch dann erinnerte ich mich wieder an ihn. Den Primär mit den goldenen Fingern hatten sie ihn damals genannt. Wenn jemand eine schwierige Operation schaffen konnte, dann er.«

»Was wollte er?«, unterbrach Hogart ihn.

»Es war vollkommen verrückt. Er wollte einen sofortigen Zugang zum Archiv. Am liebsten wäre ihm gewesen, wenn wir uns noch am selben Abend im Krankenhaus getroffen hätten, aber ich konnte ihn zum Glück auf Montagmorgen vertrösten. Am Wochenende hatte sowieso niemand Dienst im Archiv. Er stimmte zu, dann legte er abrupt auf. Ich hätte das Gespräch sowieso wieder vergessen, hätte in der heutigen Zeitung nichts über den brutalen Mord gestanden. Ich habe sofort auf dem Revier angerufen.«

»Für welche Unterlagen interessierte sich Ostrovsky?«

»Er wollte etwas aus dem Jahr 1988.« Eddie sperrte die Tür zum Archiv auf, stutzte jedoch, als die Tür von alleine aufsprang, ehe er den Schlüssel ein zweites Mal umdrehen konnte.

»Das war alles?«

»Mehr hat er nicht gesagt.«

»Vielen Dank.« Hogart wollte sich bereits abwenden, als er sah, wie Eddies Hand in dem dunklen Raum ins Leere griff.

»Verstellt die Putzfrau in Ihrem Büro auch immer alles?«, drang Eddies Stimme aus dem Raum.

Hogart warf einen Blick in das Zimmer. Eddies Hand tastete über den Tisch, bis er eine Schreibtischlampe fand, die er anknipste. Augenblicklich wurde das Zimmer erhellt. Der fensterlose Raum bestand lediglich aus einem Stuhl, einem Schreibtisch mit PC-Terminal und mehreren Schränken. An der Rückseite reihten sich drei geschlossene Türen nebeneinander, die vermutlich zu den einzelnen Archiven führten. Jedenfalls stapelten sich hier keine Akten bis zur Decke.

Hogart betrat das Zimmer und fuhr mit dem Finger über den Tisch. Eine dicke Staubschicht blieb auf der Fingerkuppe haften. »Die Putzfrau in meinem Büro wischt zumindest Staub.« Er blickte Eddie fragend an. »Wo werden die Daten aus dem Jahr 1988 aufbewahrt?«

Eddie ging zu einer der Türen und wollte bereits den Schlüssel ins Schloss stecken, als Hogart ihm die Hand auf den Arm legte. Er zog einen Kugelschreiber aus dem Sakko und berührte mit der Spitze das Schloss. Der Zylinder kippte in die Öffnung. Im Lampenschein waren deutliche Kratzer auf dem Metall zu sehen. Jemand hatte das Zylinderschloss mit einer Zange abgebrochen, die Tür geöffnet und den Zylinder anschließend wieder reingeschoben.

Hogart griff in das Sakko und fischte die Latexhandschuhe heraus, die er heute Morgen bereits in Ostrovskys Villa benutzt hatte. Er öffnete die Tür und betätigte den Lichtschalter an der Wand. Eine Batterie von Neonröhren flackerte auf und offenbarte einen schmalen Tunnel, der bis zur Decke mit Aktenschränken gefüllt war. Die Luft in dem Raum war schlecht.

»Wie kann man rausfinden, was im Jahr 1988 passiert ist?«

Eddie deutete auf ein Buch, das an einer Schnur an der Wand hing. »Zunächst einmal gibt es dieses alphabetische Namensregister der Patienten mit dem Querverweis zur jeweiligen Aufnahmenummer …« Er wurde vom Klingeln seines Handys unterbrochen. »Der Portier«, stöhnte er, nachdem er einen Blick auf das Display geworfen hatte. Er wollte das Gespräch bereits entgegennehmen, als Hogart den Kopf schüttelte.

»Nur noch eine Minute«, bat Hogart.

Eddie schaltete das Handy in den Lautlos-Modus und ließ es in der Hosentasche verschwinden. »In den Schränken sind die Akten innerhalb jeder Abteilung nach chronologischen Patienten-Aufnahmenummern abgelegt.«

»Klingt kompliziert.«

Eddie lachte. »Wem erzählen Sie das? Unser ehemaliger Oberarzt der Unfallchirurgie, der alte versoffene Doktor Faltl - ein hundsmiserabler Arzt, aber ein Pedant durch und durch - hat dieses System entwickelt, nach dem wir heute immer noch Daten erfassen.« Eddie breitete die Arme aus. »Ich präsentiere: die Faltl-Methode, direkt aus der Steinzeit!«

»Gibt es kein elektronisches Archiv?«

»Jetzt schon, aber die Daten von 1988 liegen in diesen Schränken.«

Mit den Gummihandschuhen nahm Hogart das Buch vom Haken. Zunächst blätterte er von hinten nach vorne bis zum Buchstaben O. Allerdings fand er keinen Eintrag, der auf Ostrovsky lautete. Beim Buchstaben D keinen Eintrag wie Dornauer, und als er den Buchstaben B erreichte, fielen einige lose Blätter aus dem Buch. Jemand hatte die Seiten aus dem Patientenbuch gerissen.

»Das war ich nicht!«, protestierte Eddie.

»Ich weiß. Ich suche nach Akten über Rollstuhlpatienten oder Akten, die mit Rückenmarksverletzungen zu tun haben.«

»Dann brauchen wir die Unfallchirurgie.« Eddie ging voraus in den Tunnel, bis er einen bestimmten Aktenschrank erreichte. »Aber ohne Aufnahmenummer müssen wir alles durchsehen.«

Während Hogart die Schubladen aufzog, begann Eddies Handy zu vibrieren.

»Wir haben es gleich geschafft«, besänftigte Hogart den Archivar, der das Gespräch wieder entgegennehmen wollte. Als Hogart die Schubladen des nächsten Schranks aufzog, wurde er fündig. Das Fach mit den Nummern 314.020/88 bis 314.085/88 fehlte komplett.

»Gibt es Kopien?«

Eddie lugte in die Lade. »Mann, ich fasse es nicht. Scheiße, da fehlen über sechzig Einträge!« Fr fuhr sich durch die Haare. »Kann man herausfinden, was fehlt?«

»Wie denn? Die Akten sind fort und ich nehme an, die entsprechende Seite mit dem dazugehörigen Patientennamen auch.«

Im Gang erklang das surrende Geräusch des Fahrstuhls. Jemand hatte den Lift nach oben gerufen. »Was ist 1988 passiert?«, drängte Hogart.

»Haben Sie keine leichtere Frage? Damals war ich vierzehn Jahre alt.«

Hogart schloss wieder alle Laden. Anschließend zog er sich die Handschuhe aus und stopfte sie in die Sakkotasche. Dem Geräusch des Fahrstuhls nach zu urteilen, fuhr die Kabine wieder nach unten. »Ein Kollege von mir kommt gleich zu Ihnen herunter. Rühren Sie nichts an und sagen Sie dem Beamten, dass hier eingebrochen wurde. Er wird das Spurenteam holen und sich um alles Weitere kümmern.«

»Warum sagen Sie ihm das nicht selbst?«

»Ich muss weg.« Hogart verschwand aus dem Tunnel und ging eilig durch den Vorraum des Archivs.

Als er im Gang stand, hörte er das Klingeln des Lifts. Ehe sich die Fahrstuhltür öffnete, schlüpfte er durch die Brandschutztür ins Treppenhaus.

Gruber, Andreas - Peter Hogart 2
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