KAPITEL 101

King und Michelle gingen an Bord der kleinen Maschine nach South Carolina. Vom dortigen Flughafen war es eine Stunde Autofahrt zu dem Hochsicherheitsgefängnis, in dem Eddie einsaß und den Rest seines Lebens verbringen sollte. Als King ihn besuchte, zog Michelle es vor, draußen zu warten.

Vier kräftige Wärter, die Eddie nicht aus den Augen ließen, obwohl er Ketten trug, führten ihn herein. Die Haare waren ihm bis auf die Kopfhaut geschoren worden, und an Gesicht und Händen sah King Narben und Verletzungen, von denen er wusste, dass sie nach Eddies Einlieferung ins Gefängnis entstanden waren. King fragte sich, wie viele weitere Wunden sich wohl unter Eddies Sträflingsoverall verbergen mochten. Zolldickes Plexiglas trennte ihn von Eddie. King war über sämtliche Regeln informiert worden, die Besucher zu beachten hatten, darunter die, plötzliche Bewegungen zu vermeiden oder körperlichen Kontakt zum Häftling aufzunehmen.

King wusste, dass es ihm keine Mühe bereiten würde, diese Vorschriften einzuhalten.

»Ich könnte Sie jetzt fragen, wie es Ihnen geht, aber ich sehe es ja selbst.«

Eddie zuckte die Schultern. »Es ist gar nicht so schlimm. Im Grunde sind es altbekannte Verhältnisse. Töten oder getötet werden. Ich weile noch unter den Lebenden.« In seinem Blick lag Verwunderung. »Ich hätte nicht damit gerechnet, Sie wiederzusehen.«

»Ich habe noch ein paar Fragen an Sie. Außerdem habe ich Ihnen etwas zu sagen. Was möchten Sie zuerst?«

»Erst die Fragen. Die Leute hier haben kaum welche. Die meiste Zeit verbringe ich in der Bibliothek, im Fitnessraum und mit Ballspielen. Ich versuche, ein paar Jungs zu einem Team zu formen. Malen darf ich leider nicht. Vermutlich haben die hier Angst, ich könnte jemanden in einem Farbeimer ersäufen. So ein Quatsch.«

»Erste Frage: War der Schlaganfall Ihres Vaters für Sie der Auslöser für die Mordserie?«

Eddie nickte. »Ich hatte schon längere Zeit daran gedacht. Nur hatte ich meine Zweifel, ob ich den Mumm dafür habe. Doch als mein Alter dann aus den Latschen kippte, rastete bei mir irgendwas aus, und ich sagte mir, jetzt oder nie.«

»Zweite Frage: Warum musste Steve Canney sterben? Anfangs dachte ich, Sie hätten es für Ihre Mutter getan, aber inzwischen weiß ich, dass es nicht so war.«

Eddie rückte sich auf seinem Stuhl zurecht, und die Ketten rasselten. Einer der Wärter schaute herüber. Eddie lächelte und winkte, bevor sein Blick wieder King traf. »Meinen Bruder haben unsere Eltern krepieren lassen, und mein Alter geht hin und zeugt mit irgendeiner Schlampe einen weiteren Sohn. Ich wollte und brauchte keinen neuen Bruder. Dieser Canney war zu einem gesunden und kräftigen Burschen herangewachsen. Aber so hätte es mit Bobby sein sollen, verstehen Sie? So hätte es Bobby verdient gehabt.« Seine Stimme war lauter geworden, und nun schauten alle vier Wärter ihn an. King hätte nicht sagen können, ob er sich mehr vor ihnen fürchtete oder vor Eddie.

»Dritte Frage: Heute weiß ich, dass es Ihnen egal war, ob Junior Deaver Ihre Mutter bestohlen hatte oder nicht. Stellt sich also die Frage, weshalb Sie ihn ermordet haben.«

»Beim Einbruch wurde eine Zeichnung meines Bruders zerrissen.«

»Ihre Mutter hat sie mir gezeigt.«

»Die Zeichnung ist entstanden, bevor Bobby erkrankte.« Eddie schwieg kurz und legte die geketteten Hände vor sich auf die Holzplatte. »Die Zeichnung war mir lieb und teuer. Ich wollte sie in Mutters Zimmer haben, um sie stets daran zu erinnern, was sie getan hatte. Als ich die Beschädigung sah, wusste ich sofort, dass ich den Drecksack umbringen musste, der das getan hatte.«

»Das alles hat Remmy schwer getroffen, obwohl sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen.«

»Ach, Scheiße. Sie soll froh sein, dass ich zu viel Anstand habe, auch sie fertig zu machen.«

»Haben Sie wegen Chip Bailey den Plan ausgeheckt, berüchtigte Serienmörder nachzuahmen?«

Eddie feixte. »Der alte Chippy… Pausenlos hat er geprahlt, wie viel gerissener als jeder andere er doch wäre und was er nicht alles über Serienmörder wüsste und über ihr Profil. Er hat behauptet, er könne selbst den abgezocktesten Hurensohn zur Strecke bringen. Tja, da hab ich ihn beim Wort genommen. Ich würde sagen, die Ergebnisse sprechen für sich.«

»Letzte Frage: Was hätten Sie unternommen, wäre Ihr Vater nicht ermordet worden?«

»Ich selbst hätte ihn kaltgemacht und dabei alles benutzt, was ich vorher bei den anderen verwendet hatte, die ich gekillt hab. Der Alte hätte erkannt, was er angestellt hat. Er hätte zum ersten Mal im Leben Verantwortung übernehmen müssen. Doch als er krepiert war, hab ich den Kram stattdessen bei Robinson versteckt, damit der Tatverdacht auf ihn fällt.« Er runzelte die Stirn. »Vermutlich bin ich genau wie mein Dad«, fügte er dann leise hinzu.

King begriff, dass es das härteste Urteil war, das über Eddie gefällt werden konnte, und er selbst hatte es gesprochen.

»Und was wollten Sie mir sagen?«, fragte Eddie.

King senkte nun ebenfalls die Stimme. »Dass Sie Recht haben, was Sylvia angeht. Ich habe sie zur Rede gestellt, kann allerdings nichts beweisen. Aber ich werde es weiterhin versuchen.«

»Ist Ihnen bei ›Teet‹ ein Licht aufgegangen?«

»O ja.«

»Ich hab von dem Mann erfahren, als ich mal mit Chip in Quantico beim FBI gewesen bin.«

»Sylvia ist aus Wrightsburg weggezogen. Wahrscheinlich hat sie woanders unter falschem Namen ein neues Leben angefangen.«

»Da hat sie ja echt Glück.«

»Ich habe noch niemanden eingeweiht, nicht einmal Michelle.«

»Ich glaube, das ist jetzt ohne Belang.«

»Nein, es ist von Bedeutung, Eddie. Nur kann ich die Situation vorerst nicht ändern. Ich habe keine Beweise. Sie hat ihre Spuren hervorragend verwischt. Aber ich bleibe dran.« King erhob sich. »Das war mein letzter Besuch hier.«

»Ist mir klar.« Auch Eddie stand auf. »Sean«, rief er King nach, »richten Sie Michelle bitte aus, ich hätte ihr damals in der Nacht nichts Schlimmes angetan. Und dass unser Tanzabend mir großes Vergnügen bereitet hat.«

Als letztes Bild Eddies sah King ihn inmitten der Wärter in Ketten davonschlurfen. Dann entschwand Eddie Battle aus seinem Blickfeld. Für immer, hoffte King.

Als er das Gefängnis verließ, wurde ihm am Besucherempfang ein Paket ausgehändigt. Es sei an die Gefängnisanschrift verschickt worden, sagte man ihm, und man habe es für ihn aufbewahrt. Doch adressiert war es an Michelle.

King stieg ins Auto.

»Was ist das?«, fragte Michelle und blickte auf das Paket.

»Ist für dich. Wir machen in dem Restaurant Halt, das wir auf der Hinfahrt gesehen haben, und essen zu Abend, dann kannst du es öffnen.«

Das »Restaurant« erwies sich als miefige Fettpfütze, in dem vorwiegend Fernfahrer verkehrten, aber das Essen war einigermaßen, und der Kaffee war stark und heiß. King und Michelle setzten sich im hinteren Teil in eine Nische.

»Willst du nicht wissen, was in dem Paket ist?«, fragte King, nachdem sie gegessen hatten.

»Nein, eigentlich nicht. Sag mal, hat Eddie sich nach mir erkundigt?«

King zögerte. »Nein«, sagte er dann. »Er hatte kein Sterbenswörtchen für dich übrig.«

Ein Ausdruck der Bitterkeit erschien aufs Michelles Gesicht. »Eine Kleinigkeit ist mir noch immer ein Rätsel«, sagte sie dann.

»Nur eine?« King versuchte ein Lächeln.

»Was war in dem Geheimfach, das Remmy so dringend zurückhaben wollte?«

»Ich glaube, es waren Briefe von einem gewissen Gentleman aus ihrem Bekanntenkreis.«

»Sie hatte also doch eine Affäre?«

»Nein. Es blieb eine unerwiderte Liebe. Der bewusste Gentleman wollte sich nicht mit einer verheirateten Frau einlassen. Aber Remmy wollte die Briefe zurück.«

»Ich frage mich, wer…« Michelle verstummte und machte große Augen. »Doch nicht…?«

»Doch«, sagte King rasch. »Aber das war vor langer Zeit, und er hat nichts getan, für das er sich schämen müsste. Er hat bloß Achtung vor einer Frau bewahrt, von der sich später gezeigt hat, dass sie diese Achtung gar nicht verdient hatte.«

»Gott, wie traurig.«

King half ihr, das Paket aufzureißen. Beide betrachteten den Inhalt.

Es war Eddies Gemälde, das Michelle im Ballkleid zeigte.

King sah sie an, dann das Bild, schwieg jedoch. Sie beglichen die Rechnung und verließen das Lokal. Ehe sie ins Auto stiegen, warf Michelle das Gemälde in einen Müllcontainer.

»Alles klar zur Heimfahrt?«, fragte King, als Michelle auf dem Fahrersitz Platz nahm.

»Aber sicher.«

Michelle gab Gas, und in einer Staubwolke fuhren sie los.