KAPITEL 31
»Ich stelle Sie beide als Deputys ein«, sagte Todd Williams, als er King und Michelle am nächsten Tag in ihrem Büro besuchte. Sie erwiderten seinen Blick mit Fassungslosigkeit.
»Wie bitte?«, sagte King. »Ich war Ihnen schon einmal als Deputy unterstellt und habe nicht den Wunsch, in meinen alten Job zurückzukehren, Todd.«
»Ich hab Sie nicht vor die Wahl gestellt. Ich brauche Sie!«
»Zwangsarbeit ist seit längerer Zeit illegal«, erwiderte King.
»Was ist los, Todd?«, fragte Michelle.
»Die Leute vom FBI wollen mich aus dem Zug schubsen. Das ist los.«
»Aber Sie selbst haben ihre Unterstützung angefordert«, warf King ein.
»Aber ich wollte nicht, dass ich hier in meiner eigenen Stadt gar nichts mehr machen kann. Natürlich bin ich bereit, mit den FBI-Leuten zusammenzuarbeiten. Ich habe auch nichts dagegen, wenn sie gemeinsam mit mir die Ermittlungen leiten. Aber ich werde auf keinen Fall zulassen, dass sie mich bei der Arbeit an meiner Mordserie behindern.«
King schüttelte verwirrt den Kopf. »Todd, ich glaube, Sie haben an zu vielen Obduktionen teilgenommen. Warum überlassen Sie diesen Leuten nicht einfach den Fall? Sie haben das nötige Personal und die nötige Erfahrung. Sollen die anderen sich doch den Kopf darüber zerbrechen.«
»Hier geht es auch um meinen Stolz, Sean«, erwiderte Williams beleidigt. »Und Sie beide haben schon eine Menge Zeit in den Fall investiert. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir die Nuss vielleicht sogar schneller knacken als das allmächtige FBI! Scheiße, Chip Bailey läuft schon herum, als wäre er hier der King! Ich warte nur darauf, dass er mich auffordert, ihm einen Kaffee zu kochen. Lieber würde ich den Mistkerl erschießen!« Er sah die beiden mit flehendem Blick an. »Na los, ihr habt doch mindestens so viel Erfahrung wie jeder von diesen Typen. Ich weiß, dass wir es zusammen schaffen können. Und denkt daran, dass wir hier leben. Wir müssen dafür sorgen, dass Wrightsburg wieder zu einer sicheren Stadt wird. Es ist unsere Heimat. Die Leute verlassen sich auf uns.«
Michelle und King wechselten einen nachdenklichen Blick.
»Dieser Vorschlag ist zumindest eine interessante Herausforderung«, sagte Michelle.
»Das ist Gleitschirmfliegen auch. Trotzdem sollte man es nicht tun«, entgegnete King.
»Komm schon, Sean, du findest diesen Fall doch auch faszinierend. Das kannst du nicht abstreiten. Du denkst die ganze Zeit darüber nach, ob du nun daran arbeitest oder nicht. Und wenn wir zu Deputys ernannt werden, haben wir als Ermittler wenigstens einen gewissen offiziellen Status. Vielleicht kommen wir dann sogar besser voran.«
»Und was ist mit unserer Detektei?«
»Ihr könnt eure normale Arbeit trotzdem fortsetzen«, antwortete Williams ohne jedes Zögern. »Ich verlange ja nicht, dass ihr eure gesamte Zeit mit dem Fall verbringt. Aber ich bin bereit, euch Zugang zu allem zu geben, was ihr braucht. Dann müsst ihr mich nicht ständig um Erlaubnis fragen. Ihr könnt in meinem offiziellen Auftrag ganz allein mit Leuten reden und herumschnüffeln. Ich habe hier das Sagen. Ich kann jeden zum Deputy machen.«
»Und Bailey wird damit kein Problem haben?«, sagte King skeptisch. »Kommen Sie, Todd!«
»Und was soll passieren, wenn er sich auf die Hinterbeine stellt? Gegen eure Referenzen kann er nichts sagen. Aber keine Sorge, ich werde mich um ihn kümmern. Dafür werde ich einstehen, und wenn ich bis zum Gouverneur gehen muss.«
»Ich weiß nicht recht«, sagte King. »Das könnte sich zu einem Albtraum entwickeln, und davon hatte ich im Secret Service genug.«
Michelle boxte ihm gegen den Arm. »Na komm! Was soll schon Schlimmes passieren?«
»Dieser Psycho könnte uns umbringen! Das würde ich als ziemlich schlimm bezeichnen.«
Michelle sah Williams an und zwinkerte. »Ich bin dabei.«
Der Polizeichef musterte King nervös. »Sean?«
Er schwieg eine Weile. »In Ordnung«, murmelte er schließlich.
»Gut«, sagte Williams mit hörbarer Erleichterung. Er nahm zwei silberne Sterne aus der Tasche, leierte zweimal dieselbe Formel in juristischem Jargon herunter und reichte ihnen die Abzeichen. »Okay, jetzt seid ihr meine offiziellen Deputys. Dann können wir jetzt auch die förmliche Anrede lassen. Und nun seht euch mal das hier an.«
Er zog ein Stück Papier hervor und gab es an sie weiter. King und Michelle lasen es gleichzeitig.
»Der Brief von Bobbys Mörder, dem Nicht-Imitator von Mary Martin Speck«, sagte Michelle, als sie wieder aufblickte.
King las den Text laut vor: »Und wieder einer. Das war der Fünfte. Diesmal war es ein großer Brocken, aber es kommen noch mehr. Trotzdem bin ich nicht Mary, keine Florence Nightinghell. Die Feder war einfach nur eine Feder. Eine Feder für die Federgewichte, die ihr seid! Wir sehen uns bald wieder. Nicht-MMS.«
Er blickte mit nachdenklicher Miene auf. »War ein Zodiac-Symbol auf dem Umschlag, in dem dieser Brief eintraf?«
»Nein. Genauso wie die Briefe zu Steve Canney, Janice Pembroke und zu Diane Hinson. Wir haben ihn bereits auf Fingerabdrücke und andere Spuren untersucht. Nichts.«
»In diesem Brief heißt es, dass Battle das Opfer Nummer fünf war«, sagte King.
»Weil er die Nummer fünf ist, Sean«, erwiderte Williams.
»Aber im Pembroke-Canney-Brief wurde nur der Tod einer Person erwähnt. Wenn man das wörtlich nimmt, wäre Battle erst das vierte Opfer. Das ist eine Umgereimtheit, die im Moment nicht zu erklären ist.«
Williams schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel. »Siehst du, deshalb wollte ich euch beide mit an Bord nehmen. Ihr erkennt solche Dinge und zieht daraus eure Schlussfolgerungen.«
»Wir könnten damit aber auch völlig danebenliegen«, entgegnete King.
»Oder völlig richtig«, sagte Williams. »Es gibt da noch etwas, das ihr wissen solltet. Diane Hinson trug ein goldenes Fußkettchen. Es wurde weder an der Leiche noch im Haus gefunden.«
»Janice Pembrokes Fingerring, Steve Canneys Christophorus-Anhänger, möglicherweise Tylers Nabelring und nun Diane Hinsons Fußkettchen«, fasste King zusammen.
»Vielleicht hat der Täter die Gegenstände als Trophäen seiner Opfer an sich genommen«, sagte Michelle.
»Mag sein. Hat er auch irgendwas von Bobby Battle?«
»Nicht dass wir wüssten.« Williams sah King aufmerksam an. »Was werdet ihr als Nächstes unternehmen?«
King dachte einen Moment darüber nach. »Es wird Zeit«, sagte er schließlich, »dass wir ein für alle Mal klären, ob es eine Verbindung zwischen den Morden gibt.«
»Aber Sean!«, sagte Williams. »Wir wissen, dass die Morde von ein und derselben Person begangen wurden.«
»Nein, das wissen wir nicht«, widersprach King entschieden. »Aber das habe ich gar nicht gemeint. Ich würde gern herausfinden, ob die Opfer eine Gemeinsamkeit haben, ob es irgendeine Verbindung zwischen ihnen gibt.«
»Die gibt es bei Serienmorden nicht«, warf Williams ein.
»Dieser Fall könnte die Ausnahme von der Regel sein«, sagte King. »Und zu diesem Zweck werden wir noch einmal in die Höhle des Löwen zurückkehren müssen.«
»Höhle des Löwen?«, sagte Michelle. »Was meinst du damit?«
»Wir müssen uns noch einmal bei den Battles umsehen.«
»Ich glaube, ich würde mir lieber Priscilla Oxley vornehmen«, sagte Michelle. »Und ich schwöre dir, wenn diese Frau mich noch einmal Püppchen oder so ähnlich nennt, wird sie es bitter bereuen.«
Nachdem Williams gegangen war, fragte Michelle: »Was hoffst du wirklich bei den Battles in Erfahrung zu bringen?«
»Mit ein wenig Glück die Antwort auf deine Frage, warum Remmy ihren Ehering nicht getragen hat«, sagte King. »Und eine Lösung des Rätsels, was in Bobbys Geheimfach gewesen ist.«
»Aber das alles hängt mit dem Einbruch zusammen, nicht mit den Morden.«
»Stimmt. Nur dass der Grund, warum Battle ermordet wurde, vielleicht im Geheimfach verborgen war. Selbst wenn er von jemand anderem getötet wurde, müssen wir auch diesen Jemand finden.«
»Okay, aber wenn er wirklich von einem Mitglied der Battle-Sippe vergiftet wurde, kann es sein, dass wir irgendwann einem Mörder gegenüberstehen.«
»Und je früher wir herausfinden, wer es ist, desto besser.«
»Auf wen würdest du dein Geld setzen, wenn es einer von ihnen war? Eddie war mit uns zusammen. War es die eiserne Lady, die missratene Tochter oder die schlangenzüngige Schwiegertochter?«
»Ich werde mich vorläufig mit einem Urteil zurückhalten. Aber wenn Battles Tod nur eine Nachahmungstat mit einem ganz anderen Motiv war, wird uns das jener Person, die bisher vier Menschen umgebracht hat, kein Stück näher bringen.«
»Du glaubst also, dass es weitere Opfer geben wird?«
»Wer weiß?« Er schlug ihr auf die Schulter. »Sei vorsichtig da draußen.«
»Du weißt, dass ich sehr gut auf mich aufpassen kann, Sean.«
»Das habe ich nicht gemeint. Ich möchte dich in meiner Nähe haben, damit du mich beschützt.«