KAPITEL 54
Während Michelle die Reenactment-Veranstaltung besuchte, erhielt King auf seinem Hausboot einen Anruf von Sylvia Diaz.
»Wir haben dich auf dem Begräbnis und der Trauerfeier vermisst«, sagte er.
»Ach, ich kenne die Battles nicht näher, und zu der Trauerfeier war ich nicht eingeladen. Mich da aufzudrängen wäre bestimmt keine gute Idee gewesen.«
»Du hast einige interessante Entwicklungen verpasst.« King erzählt ihr von der Aussöhnung zwischen Remmy und Lulu Oxley, verschwieg aber, dass er an Juniors Grab Sally Wainwright gesehen hatte. Je weniger Leute derzeit davon wussten, umso besser.
»Ich muss mit dir reden«, sagte Sylvia. »Hast du heute Zeit, mit mir essen zu gehen?«
»Du hörst dich ziemlich gestresst an. Stimmt was nicht?«
»Ich glaube, hier stimmt eine ganze Menge nicht, Sean.«
Am Abend fuhr King zu einem Restaurant am Ortsrand von Charlottesville. Sylvia hatte sich nicht in Wrightsburg mit ihm treffen wollen. Die rätselhafte Antwort auf seine Frage hatte beträchtliche Neugier bei ihm hervorgerufen. Als sie im hinteren Teil des Lokals an einem ruhigen Tisch saßen, verlor er keine Zeit. »Also, was ist vorgefallen?«
Sylvia enthüllte ihm ihre Entdeckung, dass Kyle Montgomery verschreibungspflichtige Medikamente stahl und dass sie ihn im Aphrodisia mit einer mysteriösen Frau gesehen hatte.
Verwundert lehnte King sich zurück. »Ihre Stimme hast du nicht erkannt?«
»Nein, durch die Tür klang sie zu dumpf. Kyle wusste offenbar ebenso wenig, mit wem er sich da abgab. Und sie war bewaffnet, daher wollte ich mein Glück nicht durch Aberwitzigkeit auf die Probe stellen.«
»Da hast du dich vollkommen richtig verhalten. Tausend Dollar für einen Tip, das dürfte den Kreis der Anwärter sehr eingrenzen.«
»Eine offenbar wohlhabende Frau, oder sie hat Zugriff auf Geld.«
»Ich dachte, in den Zimmern wohnen ausschließlich die Tänzerinnen.«
»Ich bin mir nicht sicher, dass es keine Tänzerin war«, antwortete Sylvia. »Nach dem, was ich belauschen konnte, hat sie ihm eine Art Striptease vorgeführt, aber als es dann nicht zum Geschlechtsverkehr kam, wurde er sauer. Ich erinnere mich deutlich, dass er zeterte, sie hätte ›mit dem nackten Arsch‹ vor ihm gewackelt und ihn trotzdem nicht ›rangelassen‹, irgend so was Vulgäres. Während der Arbeit habe ich ihn Gott sei Dank nie von dieser Seite kennen gelernt.«
»Von was für Medikamenten ist hier eigentlich die Rede?«
»Hauptsächlich sehr starke Schmerzmittel. Darunter sind welche, die bei unsachgemäßer Einnahme oder überhöhter Dosis gefährliche, manchmal lebensbedrohende Schockzustände auslösen können.«
»Und du hast die Frau wegfahren sehen?«
»Ich glaube, sie war es. Hundertprozentig sicher bin ich mir allerdings nicht. Falls sie es war, fuhr sie einen Mercedes mit Klappverdeck, ein älteres Modell, fast ein Oldie. Das Nummernschild konnte ich nicht erkennen, die Farbe auch nicht genau, aber sie war dunkel – grün oder dunkelblau. Wenn sie diesen Wagen gefahren hat, ist sie vermutlich keine Tänzerin, sonst wäre sie im Club geblieben.«
»Es müsste möglich sein, den Wagen ausfindig zu machen.«
»Was soll ich bezüglich Kyle Montgomery unternehmen?«
»Das ist ein Fall für die Polizei. Du hast Beweise und bist Augenzeugin.«
»Meinst du, ich sollte ihn zur Rede stellen?«
»Nein, es lässt sich nicht abschätzen, wie er darauf reagiert. Ich spreche morgen mit Todd und höre mir an, was er davon hält. Aber du solltest dich schon mal mit dem Gedanken vertraut machen, dass du einen neuen Mitarbeiter brauchst.«
Sylvia nickte. »Ich hätte es kommen sehen müssen. Kyle hat immer schon zu Unkorrektheiten geneigt. Kürzlich habe ich ihn ertappt, wie er in der Verwaltung unerlaubt am Computer saß, und er hat mir irgendwelchen Quatsch über die Aufstockung des Praxisbedarfs erzählt. Wahrscheinlich hat er vor meinen Augen die BTM-Bestandsliste frisiert.«
»Offenbar ist er ein begabter Lügner, und selbst wenn er augenscheinlich zu den Gaunern zählt, die keinen Hang zur Gewalttätigkeit haben, sind genau das die Typen, bei denen man auf der Hut sein muss. Ich befasse mich gleich morgen früh mit der Sache.«
Sylvia lächelte ihm zu. »Wie schön, dass sich zur Abwechslung mal jemand um mich kümmert.«
King erwiderte ihr Lächeln und blickte sich um. »Hier gibt’s einen vorzüglichen Weinkeller. Hättest du was dagegen, wenn ich etwas Besonderes bestelle?«
»Wie gesagt, es ist schön, dass jemand sich mal um mich kümmert.«
»Wenn mein Gedächtnis nicht trügt, hat man einen 1982er Château Ducru-Beaucaillou auf Lager.«
»Ducru-Beaucaillou? Leider ist mein Französisch ein bisschen angestaubt.«
»Die Bezeichnung bedeutet ›schöner Kieselstein‹«, sagte King und sah ihr in die Augen. »Kommt mir genau passend vor.«
Die nächsten zwei Stunden verstrichen schnell, und die Unterhaltung verlagerte sich von Kyle Montgomery zu eher persönlichen Dingen.
»In diesem Restaurant haben George und ich jedes Jahr unseren Hochzeitstag gefeiert«, sagte Sylvia, während sie durchs Fenster den Vollmond betrachtete.
»Ein angenehmes Lokal für stille Feiern«, erwiderte King. »Ich war mit Michelle hier, als wir unsere Detektei gegründet haben.«
»Ich lag in der Klinik und war dermaßen mit Medikamenten abgefüllt, dass ich erst nach Tagen mitgekriegt habe, dass er ums Leben gekommen war.«
»Warum hattest du im Krankenhaus gelegen?«
»Dickdarmriss infolge Divertikulitis. George hatte die Operation selbst vorgenommen. Sobald er sich damit befasste, fiel sie gründlicher aus. Außerdem hatte die Anästhesie Nachwirkungen, und mein Blutdruck war tief im Keller.«
»Es muss für einen Arzt eine schwere Belastung sein, die eigene Frau zu operieren.«
»Solche Eingriffe waren sein Fachgebiet. Ich glaube, er hat geahnt, dass der Fall komplizierter war, als die Untersuchungen zeigten, und er behielt Recht. George war weit und breit der tüchtigste Chirurg, hatte sogar überregionale Reputation. Ich war also in den besten Händen.« Sylvia tupfte sich mit der Serviette eine Träne fort.
King ergriff ihre Hand. »Ich kann mir vorstellen, dass dir das alles sehr wehgetan hat, Sylvia. Tut mir Leid, dass du das durchmachen musstest.«
Sie schöpfte tief Atem und wischte sich die Augen. »Man sollte meinen, irgendwann kommt man darüber hinweg. Ich sag mir immerzu, dass solche Ereignisse zum Leben gehören. Ich sag es mir jedes Mal, wenn ich die Autopsie eines Mordopfers vornehme. Der Tod, auch ein gewaltsamer Tod, ist Teil des Lebens. Würde ich diesen Standpunkt nicht einnehmen, könnte ich meinen Job wohl nicht erledigen.«
King hob ihr sein Glas entgegen. »Aber du erledigst ihn mit Bravour.«
»Danke. Es ist erfreulich, wenn jemand es zu schätzen versteht.« Sie musterte ihn scheu.
»Was ist?«, fragte King.
»Gerade habe ich mich gefragt, warum wir uns eigentlich nicht mehr treffen.«
»Ich habe das Gleiche gedacht.«
Sanft berührte sie seine Hand. »Vielleicht sollten wir das wieder ändern.«
»Vielleicht«, sagte King.