KAPITEL 56

Am nächsten Morgen fuhren King und Michelle zu Remmy.

King setzte Michelle von seinem Gespräch mit Sylvia in Kenntnis. »Ich habe mich schon in aller Frühe mit Todd verständigt. Er knöpft sich Kyle noch heute vor.«

»Gibt es einen Verdacht, wer die geheimnisvolle Unbekannte sein könnte?«

»Es wird am einfachsten sein, den Club aufzusuchen und Erkundigungen einzuziehen. Wenn sie sich öfters dort aufhält oder dort arbeitet, muss ja irgendwer über sie Bescheid wissen.«

Michelle wiederum erzählte King von der Reenactment-Veranstaltung. »Ich fand es bemerkenswert. Hunderte von Leuten haben mitgewirkt, und ständig war was los. Natürlich war es ein Chaos, als beobachtete man eine richtige Schlacht. Eddie meint, dass Ausschnitte von den Filmen im Regionalfernsehen gezeigt werden.«

»Ich hab schon mal Berichte darüber gesehen. Der Bruder einer Bekannten hatte ein wahres Museum voller Andenken und Gegenstände aus dem Bürgerkrieg. Musketen. Uniformen, Degen, sogar Amputationswerkzeug.«

»Eddie hat sich großartig geschlagen. Der Mann besitzt erstaunliche Fähigkeiten. Trotzdem leidet er unter einem erheblichen Mangel an Selbstbewusstsein.«

»Tja, sein Vater war ein Vorbild, das sich kaum übertreffen lässt.«

»Sicher, aber es ist doch nicht so, dass Eddie im Leben nichts erreicht hätte. Und du hättest mal dabei sein sollen, wie gefühlvoll er über seinen toten Zwillingsbruder geredet hat. Vielleicht ist er in mancher Hinsicht das außergewöhnlichste Familienmitglied der Battles.«

King sah sie an, forschte aufmerksam in ihrer Miene. »Er hat dich nach Hause gefahren, hast du gesagt? Ihr zwei wart allein?«

»Wirst du wohl mit diesen Verdächtigungen aufhören? Zwischen uns ist nichts passiert, und es wird auch nichts passieren.«

»Das beruhigt mich«, erwiderte King, »denn dass sich Dorothea – oder gar Remmy Battle, was Gott verhüten möge – auf uns einschießt, könnten wir jetzt am wenigsten gebrauchen.«

Am Haupteingang des Herrenhauses wurden beide von Eddie empfangen.

»Die ganze letzte Stunde habe ich sie zu überreden versucht, mir zu verraten, was in dem Geheimfach war«, sagte er, »aber ohne Erfolg.«

»Wenn sie es nicht einmal Ihnen anvertraut«, meinte King, »wird es uns wohl kaum gelingen, es aus ihr herauszuquetschen.«

»Vielleicht habe ich sie wenigstens ein bisschen weich geklopft. Sie sitzt hinten auf der Terrasse und erwartet Sie. Heißer Kaffee ist fertig. Mason hat ihn gerade serviert. Dazu gibt’s Speckbrötli.«

Eddie begleitete King und Michelle zur Terrasse. Beim Erscheinen des Trios klappte Remmy etwas zu, das wie ein Tagebuch aussah, in das sie bis zu diesem Augenblick etwas geschrieben hatte. Das Tagebuch war ein altmodisches Ding mit Flanschverschluss und Schloss. Remmy steckte es in eine Tasche ihres Jäckchens.

Während King die Hausherrin begrüßte, winkte Eddie verstohlen Michelle zu sich. »Wenn Sie hier fertig sind, kommen Sie in mein Atelier«, flüsterte er. »Es liegt gleich hinter dem Kutschenhaus. Ich muss Ihnen unbedingt etwas zeigen.«

Er ging davon, doch als Michelle sich umdrehte, sah sie Remmys scharfen Blick auf sich gerichtet.

»Ich habe gehört«, sagte Remmy bedächtig, »Sie hätten Eddie beim Soldatspielen zugeschaut.«

»Er legt sich dabei kräftig ins Zeug«, gab Michelle zur Antwort. »Ich wusste gar nicht, dass er ein solches Interesse daran hat.«

»Eddie hat sich so sehr engagiert, weil sein Vater sich für diese Dinge interessierte. Ich glaube nicht, dass ihm selbst allzu viel daran liegt.«

»Für mich sah es aus, als wäre er mit ganzem Herzen bei der Sache.«

»Äußerliches kann trügen, nicht wahr?«

Für einen unbehaglich langen Moment maßen die beiden Frauen sich mit festen Blicken.

Schließlich griff King ein. »Sie sind eine wahre Wundertäterin, Remmy.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass Sie Lulu mit nichts als Worten von der Feindin zur Freundin gemacht haben.«

Remmy vollführte mit der Hand eine abschätzige Geste. »Ich habe einen Irrtum eingestanden. Machen Sie keinen großartigen Wohltätigkeitsakt daraus.«

»Wie sind Sie zu der Einsicht gelangt, sich geirrt zu haben?«, fragte Michelle, wobei sie nach Kaffee und Brötli griff.

Remmy hob die Tasse und trank ein Schlückchen, bevor sie antwortete. »Ich hatte Junior ein Angebot unterbreitet, das er eigentlich nicht abweisen konnte. Trotzdem hat er abgelehnt. Und dann wurde er ermordet. Man muss kein Genie sein, um auf den Gedanken zu kommen, dass hinter dem Vorfall mehr steckt, als ich ursprünglich angenommen habe.«

»Aber Junior könnte dennoch in den Fall verwickelt gewesen sein«, sagte King. »Vielleicht ist er sogar eben deswegen ermordet worden.«

Remmy heftete ihren strengen Blick auf ihn. »Haben Sie nicht erst vor kurzem noch alles darangesetzt, mich von seiner Unschuld zu überzeugen? Oder verwechsle ich Sie mit einem anderen Sean King?«

»Ich spiele lediglich den Advokaten des Teufels.«

»Ach ja, ich habe vergessen, dass Sie Anwalt sind. Sie erinnern mich daran, weshalb ich diese Brut nicht ausstehen kann.«

»Dann bin ich froh über meinen Rückzieher. Sie möchte ich nämlich nicht zum Feind haben.«

»Das wäre auch nicht ratsam«, sagte Remmy unverblümt.

»So wie ich die Sache sehe, sind Sie sehr darauf aus, außer den Juwelen und dem Bargeld noch anderes Eigentum zurückzuerhalten.«

»Eddie hat mich schon auszufragen versucht, Sean«, entgegnete Remmy. »Wenn ich ihm schon nichts sage, sag ich Ihnen ganz bestimmt nichts.«

»Ist es etwas so Heikles?«, fragte King. »So brisant, dass Sie noch mehr Morde riskieren?«

»Ich habe meine Gründe.«

»Ich hoffe, es sind verdammt gute Gründe. Allerdings bin ich der Auffassung, dass Sie sich nicht bloß selbstsüchtig, sondern auch kurzsichtig verhalten.«

»Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand so zu mir spricht!«, gab Remmy schroff zurück.

»Leider neige ich in Mordfällen dazu, bei den Ermittlungen die Geduld zu verlieren«, erwiderte King mit Nachdruck.

»Was sich in meinem Schrank befand, kann mit den Morden nichts zu tun haben.«

»Ihr Gatte und Junior sind möglicherweise von ein und derselben Person umgebracht worden. Wenn es so ist, erkenne ich nur einen Zusammenhang, nämlich den Einbruch.«

»Das ist völlig ausgeschlossen«, widersprach Remmy stur.

»Wollen Sie die Beurteilung nicht lieber uns überlassen?«

»Nein«, sagte Remmy starrsinnig.

»Also gut, sprechen wir über den eigentlichen Grund unseres Besuchs. Eddie hat erwähnt, die Leute würden darüber tratschen, Sie hätten Bobby und Junior auf dem Gewissen. Er befürchtet, dadurch könnte Ihnen das Leben versaut werden.«

»Eddie redet zu viel. Ich dachte, ich hätte ihn gelehrt, dass Zurückhaltung und Gleichmut zwei der bedeutendsten Eigenschaften sind, durch die ein Mensch sich auszeichnen kann.«

»Sie sind aber nicht bedeutsamer als Liebe«, sagte Michelle. »Und er liebt Sie.«

»Das weiß ich«, erklärte Remmy unwirsch.

»Wenn er sich um Sie Sorgen macht«, hakte Michelle nach, »muss es doch einen Grund dafür geben.«

»Eddie macht sich zu viele Sorgen aus den verkehrten Gründen.«

»Remmy, wenn Sie kein Vertrauen zu uns haben, können wir Ihnen nicht helfen«, sagte King.

»Ich habe nie behauptet, dass ich Ihre Hilfe benötige.«

»Na schön. Wo waren Sie, als Junior ermordet wurde?«

»Niemand hat mir je mitgeteilt, wann der Mord verübt wurde.« King nannte ihr den zeitlichen Rahmen, und sie überlegte einen Moment. »Da war ich hier. Ich habe in meinem Zimmer gesessen und gelesen.«

»Kann jemand das bestätigen?«

»Ich kann es bezeugen.« An der Tür stand Mason. »Ich bin an dem Abend bis zweiundzwanzig Uhr im Haus gewesen. Bis dahin hatte Mrs Battle ihr Zimmer nicht verlassen.«

King musterte den Butler. »Danke, Mason.« Als Mason sich entfernte, sah er wieder Remmy an. »Wie gut es doch ist, einen so treuen, verlässlichen Helfer im Haus zu haben, nicht wahr? Eine letzte Frage: Warum steckte Ihr Ehering nicht an Ihrem Finger, sondern lag in dem Geheimfach?«

Remmy antwortete nicht sofort. King musterte sie abwartend. »Ein Ehering«, sagte Remmy endlich, »ist ein Symbol der Liebe und Hingabe.«

»Ja, sicher«, meinte King.

»Sie haben gesagt, das ist Ihre letzte Frage. Bestimmt finden Sie allein hinaus.«

»Sean«, wandte Michelle sich an ihn, sobald sie das Hauptgebäude verlassen hatten, »du weißt doch genau, dass Remmy Junior nicht ermordet hat.«

»Ja. Ich hatte gemerkt, dass Mason auf die Terrasse kam. Ich wollte von ihm hören, wo er zur Tatzeit gewesen ist.«

»Du bist ganz schön gerissen.«

»Umso gerissener, als er ausgesagt hat, Remmy hätte ihr Zimmer nicht verlassen.«

»Und das heißt?«

»Dass Mason für den Zeitpunkt der Ermordung Juniors kein Alibi hat.«

»Du hältst ihn für einen möglichen Verdächtigen?«

»Natürlich. Er ist älter, als Junior war, aber groß und kräftig. Er hätte es durchaus mit ihm aufnehmen können. Und sicher ist dir nicht entgangen, dass der Mörder kein Wort von sich gegeben hat. Er hat ausschließlich sein Laser-Zielgerät benutzt, um uns seinen Willen zu vermitteln.«

»Du meinst, andernfalls hätten wir seine Stimme erkannt?«

»Haargenau. Und Mason hat uns belogen, was den Grund betraf, weshalb Remmy ihren Ehering nicht trug.«

»Apropos Ehering – unsere gleichmütige Mrs Battle hat sich ziemlich offenherzig geäußert. Keine Liebe, keine Hingabe, kein Ehering. Dennoch ist sie mit dem Mann verheiratet geblieben.«

»Bedauerlicherweise sind viele Ehen in diesem Zustand. Tja, inzwischen ist sie ihn ja los.«

Sie erreichten Kings Auto.

»Ich gehe noch rüber in Eddies Atelier«, sagte Michelle.

»Und ich suche Sally. Mal sehen, ob sie mitteilsamer ist als ihre Dienstherrin. Wenn ich mit ihr gesprochen habe, hole ich dich bei Eddie ab.«

»Was für Auskünfte erwartest du eigentlich von Sally?«

»Ich hab’s satt, wie in diesem Fall sämtliche Beteiligten mauern«, sagte King mit aufkeimendem Zorn. »Sie soll mir bloß eine verdammt gute Erklärung nennen, warum sie an Juniors Grab gebetet hat.«

»Sean, weißt du eigentlich, wie aufregend sexy du wirkst, wenn du wütend bist?«

»Du kannst mir viel erzählen.« King schlug die Richtung zu den Stallungen ein.