KAPITEL 74

Zwei Tage verstrichen, ohne dass sich eine Spur von Roger Canney fand, obwohl Chip Bailey und Polizeichef Williams auf den Straßen der ganzen Umgegend Polizeikontrollen vornehmen ließen.

»Als wäre er in einem Scheißloch verschwunden«, klagte der enttäuschte FBI-Agent auf einer Sitzung der Ermittlungskommission.

Nach insgesamt acht Morden sowie den Mordanschlägen auf King und Michelle wimmelte es in Wrightsburg von Gesetzesvertretern, die um Zuständigkeiten stritten, um Beweise rangen und sich um die richtige Vorgehensweise stritten, um die Horden der Medienvertreter zufrieden zu stellen, die wie Heuschrecken über den Ort herfielen. Kaum ein Bürger war noch nicht von einem Reporter befragt worden. Man konnte unmöglich die Fernsehnachrichten sehen, nicht die Washington Post, die New York Times oder USA Today lesen, ohne auf einen Bericht über das »Wrightsburg-Massaker« zu stoßen. Schlaumeier um Schlaumeier schlug Lösung um Lösung vor, aber keine hing mit den Fakten des Falls zusammen. Mit beunruhigend wachsender Häufigkeit stellten Einwohner ihre Häuser zum Verkauf. Das Geschäftsleben kam beinahe zum Erliegen. Befürchtungen wurden laut, die Ortschaft könnte sterben, wenn man nicht bald den oder die Mörder fasste. Führungspersönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik forderten Polizeichef Williams’ Kopf und dazu (obwohl sie erst kürzlich ernannt worden waren) die Köpfe seiner wichtigsten Deputys Sean King und Michelle Maxwell. Auch Bailey bekam seitens seiner Vorgesetzten Druck zu spüren, konzentrierte sich aber auf seine Aufgaben und verfolgte systematisch jede Erfolg versprechende Spur. Die Mehrzahl jedoch verlief im Sande.

Ungefähr um die Zeit, als Sylvia Sallys Autopsie beendete, wurde Eddie aus der Klinik entlassen. Man stieß auf keine neuen Spuren, doch zumindest ereignete sich auch kein neuer Mord.

Als man inmitten dieses Wirrwarrs den Eindruck gewinnen konnte, Wrightsburg stünde der Zusammenbruch bevor, entnahm Sean King seinem tragbaren Weinkühler zwei Flaschen und stellte sich gemeinsam mit Michelle bei Harry Carrick zum Abendessen ein.

Als Michelle ihr Häuschen verließ, um in das Lexus-Cabrio zu steigen, machte King bei ihrem Anblick große Augen. »Du siehst wundervoll aus«, sagte er und bestaunte das enge Kleid, dessen Saum sich etwa in mittlerer Höhe der Oberschenkel befand und daher einen beträchtlichen Teil ihrer Olympionikinnen-Beine zeigte. Um die Schultern hatte sie einen modischen Schal geschlungen; auf die Armschlinge konnte sie inzwischen verzichten. Sie hatte Make-up aufgetragen und anscheinend sogar die Haare gewaschen, sodass ihr kaum Strähnen ins Gesicht hingen. Damit bildete sie einen verblüffenden Kontrast zu ihrer gewohnten Bekleidung: Jeans, Windjacke, Segeltuchschuhe, Trainingsanzug und lose Zierbänder.

King trug Anzug und Schlips, hatte sogar ein Tuch in die Brusttasche des Jacketts gesteckt.

»Ich möchte einen guten Eindruck bei Harry hinterlassen«, beteuerte Michelle. »Bei dir kann ich ja nicht mal mit dem Essen landen.«

»Wie meinst du das?«

»Ich habe Frühstück und Mittagessen, die ich für dich zubereitet hatte, wieder im Mülleimer gefunden. Wenn dir mein Essen nicht schmeckt, brauchst du es nur zu sagen. Ich bin bestimmt nicht beleidigt.«

»Du solltest keine Zeit in der Küche verschwenden, Kleines«, antwortete King in der besten Bogart-Imitation, die er zustande brachte. »Schau mir lieber in die Augen.«

Michelle lächelte. »Man muss im Leben wohl oft mit kleinen Freuden zufrieden sein.«

»Außerdem muss ich sagen, dass der Thunfisch-Salat, den du vorgestern gemacht hast, wirklich gut geschmeckt hat.«

»Aus deinem Munde ist das ein großes Lob.«

»Die nächste Mahlzeit kochen wir gemeinsam. Ich kenne da ein paar Tricks.«

»Einverstanden, das ist ein Wort.«

»Wie steht’s mit dem Arm?«

»Ach, bloß eine Schramme.«

Als sie an diesem lauen, angenehmen Abend mit offenem Verdeck über die gewundene Landstraße fuhren, warf Michelle ihrerseits einen bewundernden Blick auf King. »Du siehst nicht übel aus.«

»Auch ich verstehe mich bei Gelegenheit anzuhübschen«, sagte King lachend.

»Sind wir die einzigen Gäste?«

»Ja, weil ich es war, der das Beisammensein vorgeschlagen hat.«

»Du? Warum?«

»Weil es meines Erachtens höchste Zeit ist, dass wir uns mal zusammensetzen und den Fall in aller Ruhe diskutieren, und nachdenken kann ich am besten bei ein, zwei Flaschen Wein.«

»Bist du sicher, dass du nicht nur vermeiden möchtest, nochmals bei mir essen zu müssen?«

»Auf den Gedanken wäre ich nie gekommen.«

Harry wohnte in einem großen alten Haus mit reich verziertem Interieur.

Er empfing seine Gäste an der Haustür und führte sie in die Bibliothek, in der trotz der Wärme des Abends ein behagliches Kaminfeuer brannte. Der Anwalt trug einen eleganten Dreiteiler mit modisch diskretem Karomuster. Ans Revers hatte er eine Nelke geheftet. Er schenkte Getränke ein. King und Michelle nahmen vor dem Kamin auf einem weichen Ledersofa Platz. Die Couch wirkte, als hätte sie schon das Gewicht von wenigstens fünf Generationen tragen müssen.

Harry hob das Glas. »Auf meine zwei guten Freunde.« Sie tranken; dann richtete Harry den Blick auf Michelle. »Ich bin der Meinung«, fuhr er fort, »wir müssen noch einmal anstoßen.« Er hob das Glas ein zweites Mal. »Auf eine der entzückendsten Frauen, denen ich je begegnet bin. Michelle, Sie sehen heute Abend blendend aus.«

Michelle lächelte und sah King an. »Tja, wenn ich auch noch kochen könnte…«

King setzte zu einer Antwort an, verkniff sie sich aber und trank überstürzt einen Schluck von seinem Cocktail.

»Was für ein interessantes Zimmer das hier ist«, sagte Michelle und besah sich die wurmstichigen, mit alten Büchern voll gestellten Einbauregale.

Harry nickte, während Michelle den Blick durch die Bibliothek schweifen ließ. »Und natürlich spukt es hier«, sagte er. »An einer Stätte, die schon das siebzehnte Jahrhundert gesehen hat, kann es gar nicht anders sein.«

»Es spukt?«, vergewisserte sich Michelle.

»O ja. Im Laufe der Jahre habe ich etliche Gespenster gesehen. Mehrere betrachte ich als Mitbewohner. Seit ich wieder hier wohne, empfinde ich es als Verpflichtung, mich mit ihnen vertraut zu machen, zumal ich mich ja in nicht allzu ferner Zukunft zu ihnen gesellen muss.«

»Ihnen bleibt noch viel Zeit, Harry«, versicherte King.

»Ja, was sollten wir ohne Sie anfangen?« Michelle stieß mit ihrem Whiskey-Glas gegen Harrys Glas Bourbon.

»Meine Vorfahren haben die Ziegel und den Mörtel für diesen Stammsitz schon fabriziert, bevor die Familie Lee ihr Bollwerk zu Stratford Hall baute.« Harry blickte auf seine Taschenuhr. »Pünktlich um sieben Uhr dreißig serviert Calpurnia das Essen. Uns bleibt also noch etwas Zeit, um die Diskussion vor der Mahlzeit anzufangen, obwohl ich mir längst den abendlichen Gesprächsstoff vorstellen kann.«

»Calpurnia?«, wiederholte Michelle.

»Meine Köchin und Haushälterin. Eine reizende Dame, die schon seit Jahren bei mir angestellt ist. Ich habe sie kennen gelernt, als ich am Obersten Gerichtshof in Richmond tätig war, und sie ist dankenswerterweise bereit gewesen, mich nach Hause zu begleiten. Ohne Calpurnia wäre ich vollkommen hilflos.«

Er trank ein Schlückchen Bourbon, stellte das Glas ab, faltete die Hände und setzte eine ernste Miene auf.

»Wissen Sie, wir müssen den Fall aufklären, und zwar schnell. Die Morde werden ja nicht deshalb enden, weil wir es uns wünschen.«

»Allerdings«, sagte King, stand auf und kehrte dem Feuer den Rücken zu. »Ich habe ausgiebig über alles nachgedacht, weil ich kaum etwas anderes tun konnte, als ich mich von der Kohlenmonoxidvergiftung erholen musste. Bis jetzt hat es acht Morde gegeben.« Er streckte die Finger einer Hand empor. »Derzeit möchte ich allerdings nur fünf davon erörtern, vorerst jedenfalls. Und den Anfang würde ich gern mit Rhonda Tyler machen.«

»Der Tänzerin«, sagte Harry.

»Der Prostituierten.«

»Bist du dir sicher?«, fragte Michelle.

»Ich habe mich bei Lulu erkundigt. Rhonda Tyler zählte zu den Mädchen, die für den Zusatzverdienst-Verein optiert hatten.«

»Den was?«, fragte Harry.

»Eine kleine Nebenerwerbsregelung des Aphrodisia«, erwiderte King unbestimmt. »Inzwischen ist sie abgeschafft worden.«

Harry wusste, was gemeint war, und nickte. »Ich habe immer schon vermutet, dass da so etwas abläuft. Ich meine, man kann Männern keinen Alkohol vorsetzen und sie nackte Mädchen angaffen lassen, ohne dass sie schließlich mehr wollen, als nur den Voyeur zu spielen.«

»Ganz meine Meinung. Rhonda hat also nebenher als Prostituierte gearbeitet. Wurde sie deshalb ermordet?«

»Prostituierte sind wahrscheinlich der Personenkreis, aus dem Serienmörder bevorzugt ihre Opfer auswählen«, meinte Michelle.

»Auch dieser Ansicht schließe ich mich an. Haben wir es also mit einem gewöhnlichen Serienmörder zu tun, der seine Opfer in diesem klassischen Personenkreis auswählt, oder geht da etwas ganz anderes ab?«

»Wie ist das zu verstehen, Sean?«, fragte Michelle.

»War Rhondas Ermordung persönlich motiviert, oder sollte sie ein Symbol sein?«

»Wie sollen wir diese Frage beantworten? Unsere Informationen sind zu spärlich.«

»Ich will an diese Frage eine weitere Frage knüpfen. Könnte Bobby Battle die Liebesdienste Rhonda Tylers in Anspruch genommen haben? Sie war schon im Aphrodisia tätig, bevor Bobby den Schlaganfall erlitt. Er ist dort öfters gewesen, obwohl Lulu sich nur vage darüber geäußert hat, wann sie ihn dort zum letzten Mal gesehen haben will.«

»Diesen Ansatz habe ich noch gar nicht in Betracht gezogen«, gestand Harry. »Aber unterstellen wir mal, Bobby hat in dem Club sexuell mit ihr verkehrt. Inwiefern hätte sie deswegen zur Zielperson des Mörders werden sollen, zumal gemeinsam mit vier anderen Leuten, die in keinem erkennbaren Zusammenhang dazu stehen?«

»Und wenn einige der anderen Opfer doch in einer gewissen Beziehung zu Bobby Battle standen?«

»Zum Beispiel?«

»Sean hält Steve Canney für Bobby Battles außerehelichen Sohn«, antwortete Michelle an Kings Stelle. »Seine Mutter hatte bei Battle gearbeitet und wurde wahrscheinlich von ihm geschwängert, sodass wir davon ausgehen, Roger Canney hat Bobby erpresst. Ferner vermuten wir, Bobby könnte bei Mrs Canneys Unfalltod vor dreieinhalb Jahren die Hand im Spiel gehabt haben, und dass dort der Ursprung der Erpressung zu sehen ist.«

»Mein Gott«, stieß Harry hervor.

»Aber ich habe inzwischen ebenfalls über diese Möglichkeit nachgedacht, Sean«, sagte Michelle. »Bobby hatte ganz offen Affären mit Frauen und gab sich mit Prostituierten ab. Vorausgesetzt, es stimmt, was du annimmst: Weshalb hätte es Bobby stören sollen, wenn die Wahrheit über einen unehelichen Sohn an die Öffentlichkeit gelangt wäre? Warum hätte er sich wegen eines seiner vielen sexuellen Abenteuer erpressen lassen sollen?«

»Vielleicht habe ich eine Erklärung dafür«, sagte Harry. »Ungefähr in dem Zeitraum, von dem Sie reden, befand sich Bobby mitten im Verkauf seines Unternehmens. Viele örtliche Anwälte, die ich kannte, waren im Auftrag der Battles mit der Angelegenheit beschäftigt, darum habe ich praktisch sämtliche Kriegsberichte über die laufenden Verhandlungen zu hören bekommen. Der Käufer war ein großer multinationaler Konzern mit erstklassiger Reputation. Und Bobby galt als Aushängeschild seiner Firma.«

»Daher hätte die Enthüllung, dass er einen unehelichen Sohn hat, den Verhandlungen geschadet«, folgerte King.

»Genau. Wie es sich dann ergab, kam der Geschäftsabschluss zustande, und Bobby besaß mehr Geld, als er jemals ausgeben konnte. Wahrscheinlich war es für ihn so am vorteilhaftesten.«

»Inwiefern?«, fragte King.

»Exzentrisch war er immer schon gewesen, aber in den letzten Lebensjahren wurde sein Verhalten zunehmend… auffällig. Er unterlag heftigen Stimmungsschwankungen. Anfälle von Depression wechselten sich ab mit Anwandlungen realitätsferner Euphorie. Und sein Verstand funktionierte nicht mehr so gut wie früher. Seinerzeit zählte er zu den brillantesten Ingenieuren und Geschäftsleuten, aber dann vergaß er Namen und wichtige Vorgänge. Sein Schlaganfall war keine Überraschung für mich. Ich vermute sogar, dass er davor schon eine Reihe kleinerer, unbemerkter Schlaganfälle erlitten hatte, die seine geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigt haben. Aber wir sind jetzt erheblich vom Thema Erpressung abgewichen.« Harry sah King an. »Entschuldigen Sie meine Weitschweifigkeit.«

»Nein, nein, wir brauchen sämtliche Informationen, die wir bekommen können. Der Zeitpunkt, an dem Bobby die Firma verkauft hat, führt mich zu dem Schluss, dass es Roger Canney allein gewesen sein muss, der den Erpressungsvorsatz fasste. Vermutlich kannte Mrs Canney den Vater ihres Sohnes, oder sie schloss eine Vaterschaft Bobbys zumindest nicht aus. Steve Canney war siebzehn, als er starb. Hätte sie den Vorsatz gehabt, irgendwelche Ansprüche geltend zu machen, hätte sie damit bestimmt nicht so viele Jahre gewartet. Es ist ja nicht so, dass Bobby vor siebzehn Jahren ein armer Schlucker gewesen wäre.«

Harry knüpfte an diese Überlegungen an. »Allerdings kann Roger Canney gewusst haben, dass Steve nicht sein leiblicher Sohn war, und auf den Tod seiner Frau gewartet haben, um Bobby erst danach zu rupfen. Oder er hat deshalb gewartet, weil seine Frau nicht mitgemacht hätte. Mit Sicherheit hat er gewusst, dass Bobby den Verkauf des Unternehmens plant. Diese Absicht war ja in der Öffentlichkeit bekannt.«

»Oder Canney wollte nicht warten, bis seine Frau eines ›natürlichen Todes‹ starb«, mutmaßte Michelle. »Also hat er nachgeholfen, hat sie in den Hohlweg gedrängt und auf diese Weise Bobbys Erpressung ermöglicht.«

»Aber es war Bobbys Auto, das damals den Blechschaden aufwies«, gab King zu bedenken. »Daher ist es viel wahrscheinlicher, dass Bobby die Frau umgebracht hat.«

»Ich mache ja auch nur darauf aufmerksam«, sagte Michelle, »dass Roger Canney ebenfalls ein Motiv für die Ermordung seiner Frau gehabt haben könnte.«

King streifte sie mit einem bewundernden Blick. »Das ist ein bedeutsamer Punkt, Michelle. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.«

»Und wohin führen diese Gedankengänge?«, fragte Michelle.

Das Läuten einer Essensglocke unterbrach die Erörterungen.

»Ich habe Calpurnia gesagt, dass eine Essensglocke altmodisch ist, aber sie behauptet, ich höre nicht mehr so gut und die Glocke sei das einzige Mittel, meine Aufmerksamkeit zu wecken, ohne dass sie auf der Suche nach mir durchs ganze Haus laufen muss. Wollen wir zu Tisch gehen?«