KAPITEL 9
Das Leichenschauhaus von Wrightsburg lag an einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße ungefähr drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Es war in einem kleinen, einstöckigen Gebäude untergebracht, das mit einer Bepflanzung aus dem Gartencenter versehen war; die Pflanzen waren im feuchten Wetter der letzten Zeit prächtig gediehen. Von außen wirkte das Gebäude völlig normal. Wer hier vorbeikam, wäre nie darauf gekommen, dass in diesem Haus Leichen geöffnet wurden. Ein Schild auf dem Platz neben dem Gebäude wies darauf hin, dass sich hier außerdem die Arztpraxis von Dr. Sylvia Diaz befand.
King steuerte seinen Lexus auf den Parkplatz; dann stiegen er und Michelle aus. Kurz darauf hielt neben ihnen ein Streifenwagen der Polizei, und Polizeichef Williams wuchtete seinen massigen Körper hinaus. Er machte keinen glücklichen Eindruck, als er sein Hemd in die Hose stopfte und den Sitz seiner Pistole überprüfte.
»Bringen wir’s hinter uns«, brummte er und marschierte voraus.
»Was ist mit ihm?«, flüsterte Michelle.
»Ich vermute, es gefällt ihm nicht, sich Leichen ansehen zu müssen.«
Sie fragten am Empfang nach Sylvia Diaz. Die Sekretärin telefonierte kurz, worauf ein schlanker Mann mit Brille erschien. Er war Ende zwanzig, trug einen Spitzbart und war in einen Medizinerkittel gekleidet. Er stellte sich als Kyle Montgomery vor, Sylvias Assistent.
»Sie ist gleich fertig«, sagte er mit gelangweilter Stimme, obwohl er Michelle mit Blicken verschlang. »Sie hat gesagt, ich soll Sie in ihr Büro bringen.«
»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«, fragte King.
Montgomery sah ihn mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen an. »Was spielt das für eine Rolle?«
»Ich bin bloß neugierig«, sagte er.
»Und ich habe das Recht auf meine Privatsphäre«, gab Montgomery zurück.
»Ich wette, Sie waren an der UVA«, sagte Michelle. »Eine ausgezeichnete Hochschule«, fügte sie lächelnd hinzu und trat ein Stück näher an ihn heran.
King beobachtete amüsiert, wie seine Partnerin ihren weiblichen Charme einsetzte, um Montgomery weitere Informationen zu entlocken. Das tat sie nur selten, aber es konnte sehr wirkungsvoll sein. Montgomery wusste vermutlich gar nichts Wichtiges, aber es war nicht verkehrt, Informationen über sämtliche Personen zu haben, die auf irgendeine Weise an den Ermittlungen beteiligt waren.
Montgomery wandte ihr sofort seine gesamte Aufmerksamkeit zu. »Ja, ich habe meinen Abschluss mit einem guten Schnitt gemacht«, prahlte er. »Ich wollte in der Gegend bleiben, also arbeitete ich ein paar Jahre lang am Uni-Krankenhaus, bis ich meine Zulassung als medizinischer Assistent bekam. Aber dann musste ich mit dem Onkologie-Praktikum aufhören und konnte meine Rechnungen nicht mehr bezahlen, als plötzlich diese Stelle angeboten wurde. Tja, und jetzt bin ich pathologischer Assistent. Dafür danke ich dir, Gott«, fügte er sarkastisch hinzu.
»Für diese Art von Arbeit muss man sehr spezielle Voraussetzungen mitbringen«, sagte Michelle.
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Montgomery großspurig. »Außerdem arbeite ich als Dr. Diaz’ Assistent in der Arztpraxis nebenan. Es ist ein ganz schöner Balanceakt, immer zwischen Leichenhalle und Praxis hin und her pendeln zu müssen, aber wenigstens liegen beide Arbeitsplätze direkt nebeneinander. Außerdem haben wir hier nicht viele Todesfälle, die eine Autopsie erforderlich machen. Aber das scheint sich ja zu ändern. Plötzlich gibt’s jede Menge Action. Wrightsburg wird endlich erwachsen!« Montgomery lächelte bei diesem Gedanken.
Michelle, Williams und King tauschten angewiderte Blicke, als sie ihm folgten.
Sylvias Büro war genauso, wie Michelle es sich vorgestellt hatte. Sehr ordentlich und geschmackvoll ausgestattet, jedenfalls im Vergleich zu anderen rechtsmedizinischen Einrichtungen. Sylvia hatte hier und dort warme, feminine Akzente gesetzt, um die kalte, antiseptische Atmosphäre zurückzudrängen, die das gesamte Gebäude beherrschte. An der Garderobe neben der Tür hingen eine Damenjacke, eine übergroße Tasche und ein Hut. Auf dem Boden stand ein Paar elegante Schuhe.
»Eine Frau mit Geschmack.«
Michelle blickte sich um und sah, dass Kyle Montgomery sie anlächelte. »In ihrer Arztpraxis sieht es genauso aus. Frau Doktor mag es nicht, wenn Schmutz in den Obduktionsraum gelangt, obwohl es da nicht gerade steril ist. Eher das Gegenteil. Wir haben hier einen Umkleideraum, wo wir Kittel und Mundschutz anlegen können, aber manchmal glaube ich, sie würde sich lieber hier umziehen, aus Angst, irgendein Beweisstück zu kontaminieren. Ich finde, sie könnte ein bisschen mehr Realitätssinn entwickeln.«
»Und ich finde es großartig, dass es noch Menschen gibt, die mit Leib und Seele an ihrem Beruf hängen«, sagte King steif.
Während Montgomery zurückblieb, um auf seine Chefin zu warten, ließ Michelle den Blick durchs Zimmer schweifen. Auf dem Regal hinter Sylvias Schreibtisch standen mehrere Fotos von einem Mann, der entweder allein oder zusammen mit Sylvia aufgenommen worden war. Michelle nahm eins der Porträts und zeigte es King mit fragendem Blick.
»Das ist George Diaz, ihr verstorbener Ehemann«, erklärte er.
»Sie hat immer noch Bilder von ihm an ihrem Arbeitsplatz?«
»Ich nehme an, sie hat ihn wirklich geliebt.«
»Wie kommt es, dass ihr euch nicht mehr trefft? Gab es Probleme?«, fragte Michelle.
»Du bist meine Geschäftspartnerin, nicht meine Psychiaterin«, gab er zurück.
Kaum hatte Michelle das Foto zurückgestellt, trat Sylvia durch die Tür.
»Vielen Dank, Kyle«, sagte sie knapp.
»Schon gut.« Montgomery entfernte sich zusammen mit seinem überheblichen Lächeln.
»Kann es sein, dass dein Assistent sich ein bisschen seltsam benimmt, oder liegt es an uns?«, fragte King.
Sylvia zog ihren Arztkittel aus und hängte ihn an einen Haken neben der Tür. Michelle nahm sich einen Moment Zeit, um die Frau eingehender zu betrachten. Sie war mittelgroß und mit einer schwarzen Hose und einem weißen Leinenhemd bekleidet. Sie trug keinen Schmuck, wahrscheinlich wegen ihrer Arbeit. Es wäre wohl nicht sehr günstig, wenn ein Ohrring im aufgeschlitzten Magen einer Leiche landete. Sylvias Haut war glatt, die Wangen mit ein paar Sommersprossen gesprenkelt. Ihr rotes Haar war zusammengebunden und legte die perfekt geformten Ohren und einen langen, schlanken Hals frei. Ihr Blick wirkte gedankenverloren, als sie nun hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm.
»Kyle ist gerade dreißig geworden und hat sich seine berufliche Laufbahn ein bisschen anders vorgestellt«, sagte sie.
»Ich schätze, mit dem Spruch ›Willst du mal eine richtig tolle Leiche sehen?‹ dürfte es nicht einfach sein, in einer Bar Frauen aufzureißen«, sagte Michelle.
»Ich glaube, Kyle träumt eher davon, in einer berühmten Rockband zu spielen«, sagte Sylvia.
»So wie zwanzig Millionen andere Jungs«, sagte King. »Er wird darüber hinwegkommen. Ich hab’s mit siebzehn auch geschafft.«
Sylvia blätterte in Papieren auf ihrem Schreibtisch, unterschrieb sie, schloss die Akte, streckte sich und gähnte. »Tut mir Leid. Drei Autopsien nacheinander, das schlaucht. Außerdem grassiert derzeit wieder die Frühlingsgrippe, um die ich mich nebenan in der Praxis kümmern muss.« Sie schüttelte erschöpft den Kopf. »Es ist schon verrückt. Vor ein paar Minuten erst habe ich einer fünfzigjährigen Frau Halstropfen verschrieben, und gleich werde ich jemanden aufschneiden, um festzustellen, wie die Person ermordet wurde. Manchmal habe ich das Leichenschauhaus monatelang nicht betreten. In letzter Zeit ist das anders.«
Sie wandte sich an Todd Williams, der immer blasser zu werden schien. »Ich hoffe, Sie haben sich von der ersten Autopsie erholt.«
»Mein Kopf schon, aber mein Magen noch nicht.«
»Ich hatte damit gerechnet, Sie am Tatort zu sehen, wo das junge Pärchen gefunden wurde. Es ist hilfreich, wenn der leitende Ermittler dabei ist.« Ihr tadelnder Tonfall machte deutlich, was sie von seinem Verhalten hielt.
Todd Williams warf ihr einen leidenden Blick zu. »Ich wollte vorbeikommen, wurde dann aber zu anderen Pflichten gerufen.«
»Natürlich.« Sylvia blickte zu King und Michelle auf. »Ich hoffe, wenigstens ihr habt einen guten Magen.«
Michelle und King sahen sich an. »Gut genug«, antwortete King.
Sylvia wandte sich wieder an Todd Williams. »Haben Sie irgendwelche Einwände, dass die beiden die Leichen sehen, Todd? Außerdem möchte ich, dass auch Sie dabei sind, oder einer von Ihren Leuten. Vor Gericht könnte es einen merkwürdigen Eindruck machen, wenn kein Vertreter der Polizei die Leichen während oder nach der Autopsie begutachtet hätte.«
Williams seufzte tief. »Gehen wir. Ich kann’s kaum erwarten.«