KAPITEL 69

»Irgendwer hat den Abzug der Heizungsanlage verstopft, Sean«, erklärte Todd Williams. Er und Michelle hatten sich bei King in der Klinik eingefunden. Auch zwei seiner Deputys und Sylvia waren erschienen. »Sämtliche Abgase wurden ins Hausboot geleitet. Du hast verdammtes Glück gehabt, dass Michelle rechtzeitig aufgekreuzt ist.«

»Fast wäre es nicht dazu gekommen«, meinte Michelle und rieb sich den verletzten Arm, den sie mittlerweile in einer Schlinge trug.

Vom Krankenbett aus warf King ihr einen bösen Blick zu. »Du hast behauptet, wohlauf zu sein«, maulte er. »Ich bezweifle, dass jemand ›wohlauf‹ ist, der gerade angeschossen wurde.«

»Ist nur eine Schramme.«

»Nicht ganz, Michelle«, widersprach Sylvia. »Die Wunde ist an der Innenseite des Arms. Ein paar Zentimeter weiter links, und das Geschoss hätte den Oberkörper getroffen. Dann wären die Folgen erheblich schlimmer gewesen.«

Michelle tat die Bemerkung mit einem Schulterzucken ab. »Ist der Schütze gefunden worden, oder wenigstens die Kugel?«

»Weder noch«, antwortete Williams. »Das Projektil liegt wahrscheinlich im See. Und über den Schützen wissen wir überhaupt nichts.«

»Ein Gutes hat die Sache«, sagte King. »Wenn der Mörder mich beseitigen will, müssen wir ihm ziemlich nah auf die Pelle gerückt sein.«

»Tja, indem wir hier herumhocken, schnappen wir ihn bestimmt nicht«, sagte Williams.

»Du darfst auf gar keinen Fall auf dem Hausboot bleiben«, wandte Sylvia sich an King, nachdem der Polizeichef und die Deputys sich verabschiedet hatten. »Du kannst zeitweilig bei mir unterschlüpfen. Ich habe viel Platz.«

»Er kommt bei mir unter«, sagte Michelle mit Nachdruck und erhob sich. »Da kann ich ein Auge auf ihn haben.«

Verlegen blickte King zwischen den beiden Frauen hin und her. »Sie hat Recht, Sylvia. Außerdem bist zu viel zu beschäftigt. Du kannst es dir nicht leisten, zu Hause zu sitzen und mich zu bemuttern. Davon abgesehen geht es mir wieder ausgezeichnet.«

Michelle schüttelte den Kopf. »Du hast gehört, was die Ärztin sagt, Sean. Du musst dich ein paar Tage ausruhen.«

»So ist es«, bestätigte Sylvia. »Der zusätzliche Sauerstoff bewirkt, dass du dich gut fühlst, aber dein Körper befand sich im Schockzustand, und wenn du ihn zu früh forderst, liegst du schneller wieder in der Klinik, als dir lieb ist.« Sie sah Michelle an. »Und auch du solltest besser auf dich Acht geben.«

»Ich komme schon klar.«

Sylvia umarmte King zum Abschied, ehe sie das Krankenzimmer verließ, und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Was hat sie gesagt?«, fragte Michelle.

»Darf ich keine Geheimnisse haben?«

»Mir gegenüber nicht. Ich habe dir das Leben gerettet. Und nicht zum ersten Mal.«

King seufzte. »Na schön. Sie hat gesagt, ich soll ihr nie wieder so einen Schrecken einjagen.«

»Sonst nichts?«

»Tut mir Leid, wenn du enttäuscht bist. Hast du vielleicht erwartet, dass sie mir ihre ewige Liebe gesteht? Da müsste vorher noch einiges passieren. Mindestens dreimal zum Essen ausgehen, ein Kinobesuch und munteres Petting. Hab ich jedenfalls mal so gehört.«

»Deine Klugscheißerei lässt darauf schließen, dass dein Zustand sich tatsächlich bessert.«

»Können wir nun abhauen?«

»Man will dich noch eine Zeit lang zur Beobachtung hier behalten.«

»Verdammt, ich brauche nichts als frische Luft, und die gibt’s bestimmt nicht in einer Klinik.«

»Also gut, ich tue, was ich kann. Wir fahren dann bei dir vorbei, damit du ein paar Sachen einpacken kannst.«

»Kannst du mit dem Arm fahren?«

»Fahren und schießen. Und so wie’s aussieht, wird beides noch nötig sein.«

»Wenigstens ist diesmal nicht mein Wohnsitz in die Luft gesprengt worden«, meinte King mürrisch, als sie eine Stunde später in Michelles Wagen vom Klinik-Parkplatz abbogen.

»Ich bewundere Menschen, die jeder Situation etwas Positives abgewinnen.«

»Nun stehe ich vor einer gänzlich neuartigen Herausforderung.«

Verwirrt schaute Michelle ihn an. »Welcher Herausforderung?«

»Deinen Haushalt zu überleben.«

Es wurde gerade erst hell, als Sally Wainwright aus dem Bett stieg, um sich an die Arbeit zu machen. Die Pferde mussten gefüttert, gestriegelt und ausgeritten werden; die Stallung musste ausgemistet werden; am Sattelzeug gab es Gurte und Schnallen zu reparieren, und es war noch eine Vielzahl anderer Aufgaben zu erledigen, über denen die Stunden wie im Flug verstrichen. Meist stand Sally als Erste auf und ging als Erste zu Bett. Doch nachdem es gestern spät geworden war, ging sie an diesem Morgen alles etwas langsamer an.

Nachdem sie angekleidet war, trat sie hinaus in die frische Morgenluft. Mit raschen Schritten ging sie zu den Stallungen und strebte zur Box des ersten Pferdes – ein Tier, das sie noch zureiten musste. Beiläufig fragte sie sich, wie lange sie diesen Job wohl noch behalten konnte. Nur Savannah und Eddie ritten. Wenn Savannah tatsächlich eine Stelle im Ausland antrat, bestand dann überhaupt noch Bedarf an den Stallungen und den Pferden? Vielleicht empfahl es sich, dass sie sich nach neuen Möglichkeiten umschaute. Hier häuften sich die Tragödien, die Todesfälle. Es graute sie, wenn sie nur daran dachte.

Das Sägeklingen-Messer durchschnitt ihren Hals und durchtrennte die Halsschlag- und Drosseladern. Die Klinge drang so tief ein, dass sie auf ihrem halbmondförmigen Weg vom linken zum rechten Ohr sogar die Halswirbelsäule ritzte. Sally röchelte, wollte etwas sagen, fühlte das Blut auf ihr Hemd spritzen und riss in einer Mischung aus Schmerz und Fassungslosigkeit die Augen auf. Sie fiel auf die Knie; dann kippte sie vornüber aufs Gesicht. Im letzten Sekundenbruchteil ihres Lebens begriff Sally Wainwright voller Schrecken, dass jemand sie ermordete.

Der Mörder benutzte eine Harke, um Sally auf den Rücken zu drehen. Ihre toten Augen starrten den Täter an, ohne ihn wahrzunehmen. Die Harke sauste auf Sallys Gesicht hinunter und brach ihr das Nasenbein. Der zweite Hieb zerschmetterte einen Backenknochen; der dritte Schlag zertrümmerte die linke Augenhöhle. Als der Täter endlich von ihr abließ, hätte nicht einmal Sallys Mutter sie wieder erkannt.

Der Mörder verweilte noch einen Augenblick und warf Harke und Messer neben seinem Opfer auf den Boden. Seine Miene spiegelte Wut, ja Hass auf die Tote. Einen Moment später war Sally allein, während um sie herum ihr Blut das Stroh tränkte. Das einzige Geräusch stammte von dem Pferd, das gegen die Schwingtür der Box drängte und ungeduldig auf den Morgenausritt wartete – einen Ritt, der nun ausbleiben würde.