KAPITEL 98
»O Gott… Bitte, tun Sie das nicht!« Sylvia kniete am Boden; ihr Kopf lag auf einem morschen Baumstumpf, Eddie drückte mit dem Knie ihren Rücken nieder, um sie in dieser Stellung zu halten.
»Bitte nicht!«, schrie Sylvia. »Bitte…«
»Halt die Klappe!«
»Warum tun Sie das? Warum?«
Eddie schob die Pistole unter den Werkzeuggürtel, den er auf dem Boot angelegt hatte, zog aus dem Innern des Schwimmanzugs eine schwarze Sturmhaube hervor, setzte sie auf und rückte die Gucklöcher zurecht. Zwar besaß er nicht mehr die Sturmhaube mit dem Fadenkreuz – die Polizei hatte sie beschlagnahmt –, doch die vorhandene Haube wurde dieser improvisierten Hinrichtung durchaus gerecht.
Mit starker Faust hob er die Axt.
»Möchten Sie ein letztes Wort sagen?«
Anscheinend war Sylvia vor Schmerz und Furcht fast besinnungslos und wimmerte nur vor sich hin.
Eddie lachte. »Beten Sie? Ach du Scheiße. Gut, Sie hatten Ihre Chance.«
Er hob die Axt. Doch bevor er sie auf Sylvias Nacken niedersausen lassen konnte, zerbarst ihm der Griff in der Hand.
»Teuflisch guter Schuss, Michelle«, schnaufte Williams, während er und die beiden Detektive zum Schauplatz des Geschehens rannten.
Doch falls sie geglaubt hatten, dass Eddie nun aufgab, mussten sie ihren Irrtum rasch einsehen.
Er hechtete zur Seite, sodass er eine Böschung mit starkem Gefälle erreichte, die er sich hinunterrollen ließ. Am Fuß des Hangs sprang er auf und rannte davon.
King lief zu Sylvia und nahm sie in die Arme.
»Es ist alles gut«, sagte er sanft. »Es ist vorbei.«
Etwas huschte an ihm vorüber.
»Michelle!«, rief King. »Nicht!«
Sie übersprang die Böschung, rollte sich hinunter und kam unten an; ebenso schnell wie Eddie war sie wieder auf den Beinen und setzte ihm nach.
»Verdammt noch mal!«, wetterte King. Er überließ Sylvia der Obhut von Williams und rannte seiner Partnerin nach.
Beim Laufen konnte King die Richtung nur erkennen, wenn in der Schwärze der Nacht ein Blitz die Landschaft erhellte oder wenn er voraus Schritte durchs Unterholz krachen hörte.
»Zum Teufel, warum tust du so was?«, rief er Michelle zu, obwohl ihm klar war, dass sie ihn wahrscheinlich nicht hörte.
Nachdem King die vergangene halbe Stunde in der Gesellschaft Eddie Battles verbracht hatte, verspürte er nicht den Wunsch, sich nochmals in die Nähe dieses Irren zu wagen – es sei denn, Eddie befand sich hinter Gittern und unter Aufsicht von einem Dutzend Wächter. Aber vielleicht würde King selbst dann noch einen Bogen um ihn machen.
Abrupt verharrte er, weil vor ihm die Geräusche verstummten.
»Michelle?«, zischte er. »Michelle!« Mit erhobener Pistole drehte er sich im Kreis und blickte immer wieder über die Schulter für den Fall, dass Eddie einen Haken geschlagen hatte, um seine Verfolger hinterrücks anzugreifen.
Weiter voraus starrte Michelle voller Konzentration in dichtes Gesträuch. Immer wieder schaute sie an sich hinunter, um nachzusehen, ob der winzige rote Laserzielpunkt über ihren Körper glitt. Sie schob den Pistolenlauf durch eine Lücke im Dickicht wilder Stechpalmen, hinter dem sie Deckung genommen hatte, und teilte vorsichtig die Zweige. Auf der rechten Seite bemerkte sie schwache Bewegungen, derer Verursacher sich jedoch als harmloses Eichhörnchen erwies.
Ein plötzliches Geräusch in ihrem Rücken ließ sie herumwirbeln.
»Michelle?«
Ein halbes Dutzend Schritte entfernt erschien King zwischen dichten Brombeersträuchern. Er hatte einen anderen Weg genommen.
»Bleib, wo du bist!«, zischte sie durch zusammengebissene Zähne. »Er ist gleich vor uns!«
Ein Blitz zuckte über den Nachthimmel. Wieder hörte sie auf der rechten Seite ein Geräusch. In einer einzigen, fließenden Bewegung drehte sie sich dorthin und feuerte. Dicht vor ihr ertönte ein peitschender Knall. Flüchtig sprühte ein Funke glutroten Lichts und erlosch.
Michelle konnte es nicht wissen, doch Eddie hatte sich im Halbkreis angeschlichen und im selben Augenblick geschossen wie sie. Gegen eine Wahrscheinlichkeit von einer Milliarde zu eins waren die beiden Projektile zusammengeprallt und hatten den von Michelle beobachteten feurigen Funken erzeugt.
Eddie sprang vor, prallte mit dem vollen Körpergewicht gegen sie und trieb Michelle den Atem aus dem Leib, bevor er sie packte und ihr Gesicht ins Erdreich drückte, sodass sie kaum noch Luft bekam. Sie wand sich mit aller Kraft, versuchte Eddie zu treten und abzuschütteln, doch er kauerte auf ihr und drückte sie nieder. Er besaß Bärenkräfte. Michelle hatte praktisch keine Chance, sich mit den bloßen Händen aus seinem ehernen Griff zu befreien oder sich gegen die mehr als hundert Kilo Gewicht aufzubäumen, die auf ihr lasteten.
Verdammt! Sie spie feuchte Erde und fauliges Laub. Könnte sie ihn nur von sich wälzen! Dann hätte sie die Möglichkeit gehabt, ihm ein paar wuchtige Tritte zu verpassen, die ihr vielleicht eine Chance verschafft hätten. Doch er war viel zu stark. Michelle fühlte, wie sich eine Hand um ihre Kehle schloss, während die andere ihre Unterarme festhielt. Wieder wand sie sich mit verzweifelter Wildheit, um ihn abzuwerfen, bekam ihn aber nicht zu packen, um einen Hebel anzusetzen. Sie versuchte zu schreien, brachte aber nur ein heiseres Krächzen hervor. Ihr Bewusstsein schwand, und die Kraft strömte aus ihren Gliedern.
War das ihr Ende?
Plötzlich verschwand sein Gewicht, und sie konnte sich wieder bewegen.
Stöhnend vor Schmerz und keuchend vor Erschöpfung, setzte Michelle sich auf und hob den Blick.
In der Nähe stand King. Er hielt die Pistole mit beiden Fäusten. Die Mündung zielte genau auf Eddie, der sich aufgerappelt hatte und nun einen Schritt zurückwich. Offensichtlich hatte King sich durch das Brombeergesträuch gekämpft. Sein Gesicht und die Hände waren blutig, seine Kleidung zerrissen.
»Ich hätte sie nicht umgebracht, Sean«, stieß Eddie hervor.
King bebte vor Wut. »Nein, ganz bestimmt nicht, Sie Dreckskerl.«
Die Hände erhoben, wich Eddie weiter zurück.
»Noch einen Schritt, und Sie kriegen eine Kugel zwischen die Augen, Eddie.«
Eddie blieb stehen, doch nun senkte er die Hände.
»Lassen Sie die Flossen oben!«, herrschte King ihn an.
Michelle rappelte sich auf und suchte nach ihrer Waffe.
»Na los, Sean«, sagte Eddie matt, »nun schießen Sie schon. Sie ersparen dem Staat viel Geld, wenn ich nicht in der Todeszelle sitzen muss.«
»So läuft das nicht.«
»Doch.«
Eddie machte einen Satz zur Seite, griff auf seinen Rücken und schwang die Pistole hoch.
Michelle schrie.
Ein Schuss dröhnte.
Eddie wurde halb herumgewirbelt und stürzte schwer zu Boden.
King eilte zu ihm, trat die Waffe fort und sah das Blut, das aus Eddies Schulter strömte, wo die Kugel ihn getroffen hatte. Sie hatte die Schulter durchschlagen und war am Rücken ausgetreten.
»Dieses Mal habe ich die Wette gewonnen, Eddie.«
Schlaff lächelte Eddie ihm zu. »Nur einen Tick daneben, Mann. Nur einen Tick.«