KAPITEL 77
Um zehn Uhr morgens war im überbreiten Wohnwagen der Deavers niemand anzutreffen. Die Kinder waren in der Schule, und Lulu arbeitete im Club. Priscilla Oxley war zu einem Tante-Emma-Laden gefahren, um sich Zigaretten und den Sprudel zu besorgen, mit dem sie den geliebten Wodka hinunterspülte. Währenddessen parkte ein Lieferwagen hinter dem Hain am gepflasterten Zufahrtsweg, der auf den Platz mündete, auf dem der Wohnwagen stand. Der Mann im Lieferwagen hatte beobachtet, wie Priscilla weggefahren war, wobei sie das Auto mit den Knien steuerte, in einer Hand eine Zigarette, in der anderen das Handy.
Kaum war sie verschwunden, stieg der Mann aus und durchquerte den Hain, bis er auf der Seite, wo der Wohnwagen stand, an den Rand der Lichtung gelangte. Luther, der alte Hund, kam aus seiner Hütte hinter dem Wohnwagen geschlichen, hob den Kopf in die Richtung des Mannes, als er dessen Geruch schnupperte, gab ein müdes Bellen von sich und trat den Rückzug in die Hütte an. Einen Moment später huschte der Mann, nachdem er das Türschloss aufgestochert hatte, ins Innere des Wohnwagens und suchte rasch das am einen Ende gelegene Schlafbüro auf.
Junior Deaver war nie ein begabter Geschäftsmann gewesen und hatte noch weniger von Aktenführung verstanden. Zum Glück hatte seine verstorbene Frau sich auf beiden Gebieten als tüchtig erwiesen. Juniors Baukunden-Verzeichnis war gut geordnet und leicht durchzusehen. Während der Mann mit einem Ohr horchte, um nicht durch irgendjemanden überrascht zu werden, sichtete er die Unterlagen, deren chronologische Anordnung ihm sehr gelegen kam. Nach kurzer Zeit hatte er anhand der Papiere eine ziemlich lange Liste aufgestellt.
Einer dieser Leute musste es sein.
Der Mann faltete die Liste zusammen, steckte sie in die Tasche und ließ die Unterlagen genauso zurück, wie er sie vorgefunden hatte. Dann entfernte er sich auf dem Weg, den er gekommen war. Gerade als er den Lieferwagen erreichte, sah er Priscilla Oxley mit den Zigaretten und dem Sprudel zum Wohnwagen fahren. Die Frau konnte von Glück reden. Fünf Minuten früher, und sie wäre jetzt tot.
Mit der kostbaren Liste in der Tasche fuhr der Mann los. Er dachte über den Einbruch nach, der unbegründet Junior Deaver in die Schuhe geschoben worden war, und versuchte sich auf jede Einzelheit zu besinnen, die er über die Tat gehört hatte. Irgendetwas stimmte da nicht. Und dann war da noch Bobby Battle… Wen übersah er, der den Tod dieses Mistkerls gewollt haben könnte? Es gab mehrere Verdächtige, doch von keinem glaubte der Mann, dass er den Alten umgebracht hatte. Für den Mord waren Mumm und Fachkenntnisse erforderlich gewesen – Eigenschaften, die er selbst in reichlichem Maße besaß und deshalb auch bei anderen Menschen respektierte. Der Mann hoffte, dass er seinem Nachahmer eines Tages seine Bewunderung zum Ausdruck bringen durfte, bevor er ihm die Kehle aufschlitzte.
Vielleicht hätte er Sally zum Reden zwingen sollen, ehe er sie getötet hatte. Aber was hatte sie schon wissen können? Sie wäre mit Junior zusammen gewesen, hatte sie ausgesagt. Sie hätten Geschlechtsverkehr gehabt. Ein strohdummes Weibsbild war sie gewesen, das sich die Tage mit vierbeinigem und die Nächte mit zweibeinigem Vieh vertrieb. Sie hatte einen so schnellen Tod verdient gehabt. Welche Bedeutung hatte es überhaupt, wenn auf diesem Planeten eine Sally Wainwright weniger lebte?
Bis jetzt hatte der Mann sechs Personen getötet, eine davon irrtümlich – ein Fehler, den er allerdings auf seine Weise wieder gutgemacht hatte. Nicht, dass er deswegen zum Rosenkranz gegriffen hätte; keine Beichte konnte ihn von seinen Sünden befreien. Doch es war ihm nicht gelungen, Sean King und Michelle Maxwell zu beseitigen, was ihn mit Wut erfüllte. Wahrscheinlich schnüffelten sie jetzt wieder herum und zerbrachen sich die Köpfe, um die wirklichen Geschehnisse zu durchschauen, und vielleicht kam tatsächlich der Tag, an dem sie auf die richtige Lösung stießen, die Wahrheit aufdeckten und ihm alles verdarben.
Es war riskant, aber er musste noch einmal versuchen, die beiden auszuschalten, und diesmal dafür sorgen, dass es klappte. Natürlich brauchte das eine gewisse Zeit der Vorbereitung; bis dahin würde er die Informationen sammeln, die ihm die Abhörgeräte verschafften, und den Detektiven stets einen Schritt vorausbleiben. Es konnte eng werden, doch wenn er klaren Kopf bewahrte und an seinem Plan festhielt, würde alles gut gehen.
Er war zuversichtlich, Sieger zu bleiben, zumal er über den gewichtigsten aller Vorteile verfügte: Er fürchtete sich nicht davor, für den letztendlichen Triumph zu sterben. Er bezweifelte, dass seine Widersacher ebenso empfanden.
Nun aber galt es erst einmal, einen weiteren Teil seines Plans in die Tat umzusetzen.
Einen grandiosen Abgang.