KAPITEL 53
Als Kyle Montgomery die Wohnung verließ, fand er die Nachricht unter einen Scheibenwischer des Jeeps geklemmt vor. Er riss den Umschlag auf, las den Inhalt und lächelte breit. Der Brief stammte von seiner Pillenkundin, der verrückten Exhibitionistin mit der Vorliebe für schallgedämpfte Knarren. Sie wollte sich zu sehr später Abendstunde in einem örtlichen Hotel mit ihm treffen. Sie bat ihn um Entschuldigung für ihr Verhalten und schlug ihm Wiedergutmachung vor. Außer fünftausend Dollar bot sie ihm die sexuelle Gunst an – für Montgomery noch verlockender als das Geld –, die er beim letzten Mal erwartet, aber nicht genossen hatte. Sie begehrte ihn, hieß es in dem Schreiben. Sie schmachtete regelrecht. Dieses Erlebnis sollte er nie vergessen. Und beigefügt hatte sie der Mitteilung einen zusätzlichen Köder: zehn Hundertdollarscheine. Wahrscheinlich dasselbe Geld, das er notgedrungen hatte zurücklassen müssen.
Er steckte die Scheine ein, stieg in den Jeep und fuhr los. Sein Erpressungsplan hatte sich nicht bewährt; anscheinend war er getäuscht worden durch das, was er gesehen hatte. Jetzt ergab sich eine neue Gelegenheit. Und wie könnte noch etwas schief gehen, da er den Tausender schon in der Tasche hatte? Klar, sie spielte wahrscheinlich nicht mit offenen Karten, doch er unterstellte, dass sie kein zweites Mal die Knarre zückte. Weshalb sollte sie ihm so viel Kohle zukommen lassen, wenn sie ihr Angebot nicht ernst meinte? Bestimmt empfahl es sich, vorsichtig zu sein, und doch beurteilte Montgomery den heutigen Tag als den vielleicht glücklichsten seines Lebens. Und er nahm sich vor, derb mit ihr umzuspringen, sie ein wenig dafür zu bestrafen, dass sie ihm einen solchen Schreck eingejagt hatte. Er hätte darauf gewettet, dass sie es auf die harte Tour mochte. Nun, das konnte sie haben. Häuptling Kyle war auf dem Kriegspfad.
Michelle und Bailey schauten durch Ferngläser zu, als die Schlacht tobte, oder vielmehr eine Reihe von Scharmützeln: Angriffe, Gegenangriffe und Nahkämpfe, die unglaublich echt aussahen. Jedes Mal, wenn ein Geschütz donnerte, zuckte Michelle zusammen, und Bailey lachte.
»Anfängerin«, schalt er sie zum Spaß.
Kolonnen von Männern in Grau und Erdnussbutterbraun zogen auf und prallten mit Phalangen ihrer in Blau gekleideten Widersacher zusammen. Während Schüsse peitschten, Kanonen donnerten, Gebrüll erscholl, Rauch wehte, ein wildes Durcheinander herrschte, Stiefel trampelten und Säbel gegen Säbel klirrten, führte Michelle sich vor Augen, dass wirkliche Gefechte dieser Art weit schlimmer abgelaufen sein mussten. Kein Blut bildete Lachen auf dem Untergrund, keine abgetrennten Gliedmaßen übersäten die Erde, kein Schluchzen vermischte sich mit dem Todesstöhnen Sterbender. Die schlimmste Verletzung war ein verstauchter Fußknöchel.
Michelle wurde hellwach, als sie sah, wie Eddie und seine buntscheckige Schar aus dem Wald gesprengt kamen, wobei sie das berühmte Rebellen-Feldgeschrei ausstießen. Ihre Nordstaaten-Gegenspieler feuerten ihnen einen »Geschosshagel« entgegen, sodass die Hälfte »tot« oder »sterbend« in den Staub stürzte. Eddie fiel dem Abwehrfeuer nicht zum Opfer; er und ein Dutzend Gefährten setzten die Attacke fort. An der feindlichen Schanze sprang Eddie zwischen die Faschinen und geriet in ein wildes Handgemenge mit drei Unionssoldaten, von denen er vor den Augen Michelles, die wie gebannt alles mit verfolgte, zwei bezwang. Er stemmte wahrhaftig einen Gegner empor und schleuderte ihn in ein Gesträuch. Während rundum seine Kameraden »niedergemacht« wurden, zog Eddie den Säbel und kreuzte die Klinge mit einem Hauptmann der Union, den er schließlich »erstach«.
Immerhin bot sich ein so realistisches Schauspiel, dass Michelle unwillkürlich der Atem stockte, als Eddie sich nach dem nächsten Gegner umblickte und plötzlich aus einer Muskete einen »Treffer« in den Leib erhielt. Als Eddie zusammenbrach, verspürte Michelle das beinahe unbezähmbare Verlangen, die Waffe herauszureißen und den Mann zu erschießen, der Eddie soeben »getötet« hatte.
Sie drehte den Kopf und sah, dass Bailey sie betrachtete. »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist. Als ich ihn zum ersten Mal ›fallen‹ sah, hatte ich das gleiche Gefühl.«
Eine Zeit lang rührte sich keiner der Männer, sodass Michelles Nervosität wuchs. Endlich setzte Eddie sich auf, sagte etwas zu dem »Gefallenen« neben ihm, erhob sich und kam zu Michelle und Bailey, die ihn erleichtert begrüßten.
Eddie nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Das war toll, Eddie«, sagte Michelle.
»Ach was, Ma’am. Sie hätten mich bei Gettysburg oder Antietam sehen sollen. Da war ich wirklich in Form.«
Du hast auch heute ziemlich gut ausgesehen, dachte Michelle, rief sich aber sofort zur Ordnung, als ihr Kings Hinweis einfiel: Eddie war verheiratet. Und er blieb es, auch wenn seine Frau sich anscheinend nicht um ihn kümmerte.
»Woher weiß man, wer ›fällt‹ und wer nicht?«, fragte Michelle.
»Im Wesentlichen wird vorher alles festgelegt. Meistens finden Reenactments von Freitag bis Sonntag statt. Freitags kommen die Leute zusammen, und die Generale machen die Runde und erklären ihnen, was passieren soll, wer wo zu sein hat, wer ›stirbt‹ und wer nicht. Vieles hängt davon ab, wer erscheint und was er mitbringt – Pferde, Geschütze und dergleichen. Hier«, er zeigte in die Runde, »ist die Mehrzahl der Teilnehmer erfahren, also musste kaum jemand eingewiesen werden. Und die Gefechte werden zum größten Teil im Voraus choreographiert, aber es bleibt ein gewisser Spielraum zum Improvisieren. Haben Sie den Burschen gesehen, den ich gepackt und ins Gesträuch geworfen habe? Das war eine kleine Retourkutsche. Während der letzten Schlacht hat der kleine Scheißer mir mit dem Degengriff eins auf den Schädel verpasst. ›Ein Unfall‹, hat er behauptet. Eine Woche lang hatte ich eine Beule an der Birne. Darum hab ich ihn mir heute ›rein zufällig‹ geschnappt und in den Dornbusch geworfen.«
Michelle richtete den Blick auf das Schlachtfeld und sah dort noch zahlreiche »Tote« liegen. »Gibt es eine Regel, die bestimmt, wie lange man da liegen muss?«
»Ja, aber sie ist dehnbar. Manches Mal erfährt man vorher von den Generalen, dass man bis zum Ende der Schlacht liegen bleiben muss. Oder es kommen Sanis mit Tragen und holen einen vom Schlachtfeld. Heute wird gefilmt, deshalb ist die Sache ein wenig heikel, aber nachdem ich ›gefallen‹ war, wurde die Kamera auf einen anderen Abschnitt gerichtet. Also habe ich ein bisschen gepfuscht und mich fortgeschlichen.« Sein Gesicht zeigte ein schüchternes Grinsen. »Hier gibt’s ja Netteres zu sehen.«
»Im Vergleich zu Leichen?«, fragte Michelle und lächelte ihrerseits. »Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll.«
Später konnte man Eddie nochmals im Sattel sehen. Er und seine Männer unternahmen einen Erkundungsvorstoß gegen die Frontlinie der Union. Die Reiter preschten vorüber, galoppierten Anhöhen hinauf und hinunter und setzten in weitem Sprung über Hindernisse hinweg.
Michelle wandte sich an Bailey. »Wo hat er so gut reiten gelernt?«
»Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, was der Mann alles draufhat. Haben Sie schon welche von seinen Gemälden gesehen?«
»Nein, würde ich aber gern.«
Einige Zeit später ritt Eddie heran und warf Michelle seinen mit einem Federbusch geschmückten Hut zu.
»Wofür ist denn das?«, rief sie, indem sie den Hut fing.
»Ich bin nicht ›gefallen‹«, rief er zurück. »Offenbar bringen Sie mir tatsächlich Glück.« Dann sprengte er erneut davon.
Es folgte eine Damen-Modeshow mitsamt Teeparty. Anschließend gab es Unterricht in Tänzen der Bürgerkriegsära. Eddie suchte sich als Partnerin Michelle und brachte ihr die komplizierte Schrittfolge mehrerer Tänze bei. Zum Abschluss des Tages gab es einen Tanzball, der eigentlich auf Reenactment-Teilnehmer beschränkt sein sollte, doch Eddie hatte bei einem der Händler ein Kleid aus der Bürgerkriegszeit erworben und reichte es Michelle.
Verdutzt schaute sie ihn an. »Was soll ich damit?«
»Nun, wenn wir auf dem Ball tanzen wollen, müssen Sie einen passenden Fummel tragen. Kommen Sie, Sie können sich in meinem Bus umziehen. Ich stehe Wache, damit Ihr Ruf unbescholten bleibt.«
Eddie hatte zudem für Chip Bailey einen geeigneten Anzug besorgt, doch der FBI-Agent erklärte, sich verabschieden zu müssen.
»Dann fahren Sie mit mir«, sagte Eddie. »Für den zweiten Tag der Schlacht kann ich sowieso nicht bleiben. Heute Abend fahre ich ebenfalls.« Ihm entging nicht, dass Michelle sich bei dieser Aussicht ein wenig unbehaglich fühlte. »Ich verspreche Ihnen«, fügte er daher hinzu, »mich wie ein Gentleman zu verhalten. Außerdem haben wir ja im Anhänger Jonas als Anstandsdame dabei.«
Die beiden folgenden Stunden verbrachten er und Michelle mit Tanzen, Essen und Trinken.
Zuletzt musste Eddie sich setzen. Seine breite Brust wogte; Michelle hingegen war noch lange nicht außer Atem.
»Heiliger Strohsack, Mädchen, Sie haben Kondition, das muss ich Ihnen lassen.«
»Tja, ich habe heute auch nicht im Krieg gekämpft.«
»Ich fühle mich total zerschlagen, und mein Rücken bringt mich noch um. Ich reite schon zu lange und rackere mich mit diesen Kriegsspielen ab. Sind Sie mit dem heutigen Tag zufrieden?«
»O ja.«
Ehe sie aufbrachen, knipste Eddie von Michelle in ihrem Ballkleid ein Polaroidfoto. »Wahrscheinlich sehe ich Sie nie wieder in diesem Aufzug«, sagte er. »Deshalb ist es besser, ich halte es für die Nachwelt fest.«
Bevor sie die Rückfahrt antraten, legte Michelle wieder die Alltagskleidung an. Unterwegs unterhielten sie sich zunächst über die Schlacht im Besonderen und Reenactment-Veranstaltungen im Allgemeinen, dann über Michelles Herkunft und Familie.
»Sie hatten also mehrere Brüder?«, fragte Eddie.
»Zu viele, dachte ich gelegentlich. Ich bin die Jüngste, und mein Vater hat früher von mir geschwärmt, auch wenn er es nie zugeben würde. Er und meine Brüder sind allesamt Polizisten. Als ich beschloss, ebenfalls diesen Beruf zu ergreifen, war er nicht sonderlich erfreut. Er hat den Frosch noch immer nicht ganz geschluckt.«
»Ich hatte auch mal einen Bruder«, sagte Eddie halblaut. »Er hieß Bobby. Wir waren Zwillinge.«
»Ich weiß, ich habe davon gehört. Wirklich traurig.«
»Ein prächtiges Kerlchen war er. Total nett, hat alles für einen getan. Bloß hatte er zuletzt nicht mehr alle auf dem Ladestreifen. Ich hatte ihn gern, das können Sie mir glauben. Ich vermisse ihn noch heute schmerzlich.«
»Ihre Familie hat bestimmt sehr darunter gelitten.«
»Ja«, bestätigte Eddie, »das kann man wohl sagen.«
»Und mir scheint, dass Sie und Savannah nicht viel gemeinsam haben…«
»Sie ist auf ihre Weise auch ein gutes Mädchen, und sie hat schwer was auf dem Kasten, aber irgendwie weiß sie nichts mit sich anzufangen. Aber ich kann ihr keinen Vorwurf machen – sehen Sie mich an.«
»Ich glaube, Sie haben das Leben im Griff.«
Eddie schaute Michelle von der Seite an. »Von einer Frau, die Olympionikin und Secret-Service-Agentin war und heute erfolgreiche Privatdetektivin, ist das ein großes Lob. Gefällt Ihnen die Zusammenarbeit mit Sean?«
»Sehr. Ich könnte mir keinen besseren Geschäftspartner und Mentor wünschen.«
»Klar, er ist ein gewiefter Kerl. Aber er kann von Glück reden, Sie zu haben.« Verlegen blickte Michelle zum Seitenfenster hinaus. »Nicht dass Sie mich für zudringlich halten, Michelle. Aber Sie arbeiten offensichtlich ausgezeichnet zusammen. Es muss schön sein, unter solchen Voraussetzungen tätig sein zu dürfen. Vermutlich bin ich bloß neidisch.«
Michelle sah ihn an. »Wenn Sie unzufrieden sind, können Sie etwas ändern, Eddie.«
»In mancher Hinsicht bin ich unzufrieden«, sagte er. »Aber ich bezweifle, dass ich je den Mut aufbringe, etwas Entscheidendes zu ändern. Es geht nicht allein um Dorothea. Sie lebt ihr Leben, ich lebe meins. Viele Ehen sind so, und ich komme damit zurecht. Aber ich muss auch an meine Mutter denken. Stellen Sie sich vor, ich würde fortziehen. Was soll dann aus ihr werden?«
»Auf mich macht sie den Eindruck, selbst auf sich aufpassen zu können.«
»Da könnten Sie eine Überraschung erleben, vor allem zurzeit, da jeder mit dem Finger auf sie zeigt.«
»Sean und ich wollen uns noch mal mit ihr zusammensetzen und die ganze Angelegenheit durchsprechen. Offenkundig ist es ihr ja gelungen, Lulu für sich einzunehmen. Wenn Lulu jetzt davon überzeugt ist, dass sie mit Juniors Tod nichts zu tun hat, werden es mit der Zeit auch die anderen glauben.«
»Das Problem umfasst nicht nur Juniors Tod, sondern auch den Tod meines Vaters. Es ist kein Geheimnis, dass es in ihrer Ehe bisweilen hoch herging, deshalb glauben manche Leute, sie hätte ihn abgemurkst. Ich bin mir nicht sicher, ob sie damit leben kann.«
»Sie könnten ja mal versuchen, von ihr zu erfahren, was aus ihrem Wandschrank entwendet wurde, bevor wir mit ihr reden.«
Eddie setzte eine ratlose Miene auf. »Ich dachte, es waren ihr Ehering, Bargeld und so was.«
»Nein, es muss mehr gewesen sein. Irgendetwas war dabei, das sie so dringend zurückhaben wollte, dass sie Junior für die Herausgabe eine ganze Stange Geld bot.«
Eddies Fäuste packten das Lenkrad fester. »Verdammt, was kann das sein?«
»Ich hoffe, Sie finden es heraus. Wenn sie es überhaupt jemandem verrät, dann vermutlich Ihnen.«
»Ich versuch’s, Michelle. Ich werde mir alle Mühe geben.«
Eddie fuhr Michelle heim und begleitete sie zur Haustür.
»Wenn Sie bei meiner Mutter sind und mit ihr reden, schauen Sie doch anschließend bei mir rein, dann zeig ich Ihnen und Sean ein paar meiner Bilder.«
»Gern, Eddie. Und vielen Dank für den wundervollen Abend.«
Er machte eine tiefe Verbeugung. Als er sich aufrichtete, reichte er ihr den mit einem Federbusch verzierten Hut. »Für Sie, Milady«, sagte er. »So schön war es in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr.«
Für einen langen Moment standen beide verlegen da; dann streckte Eddie die Hand aus, und Michelle ergriff sie. »Gute Nacht«, sagte er.
»Gute Nacht, Eddie.«
Als er abfuhr – hinter dem Kleinbus den Pferdeanhänger –, schaute Michelle ihm nach und drehte den Kavalleristen-Hut in den Händen.
Bisher hatte sie nur selten an eine langfristige Beziehung zu einem Mann gedacht. Erst hatte sie das Ziel gehabt, Olympionikin zu werden, dann Polizistin; im darauf folgenden Jahrzehnt hatte sie sich durch die Härten des Daseins einer Secret-Service-Agentin geackert. Damit hatte sie sich ihre Erwartungen, ihre Karriereziele erfüllt, hatte die Herausforderungen entschlossen in Angriff genommen und gemeistert. Doch jetzt, da sie zweiunddreißig war, sich in einer kleinen Ortschaft niedergelassen und eine neue Laufbahn begonnen hatte, beschlichen sie Gedanken daran, sich außer der Arbeit, dem beharrlichen Überwinden der Hürden ihrer dritten Karriere, noch anderen Lebenszielen zu widmen. Mutter zu werden, hatte sie sich noch nie konkret gewünscht – allerdings wusste sie keinen Grund, weshalb sie keine gute Mutter werden sollte –, aber sie konnte sich durchaus vorstellen, Ehefrau zu sein.
Sie starrte in die von Eddies Fahrzeug aufgewirbelte Staubwolke.
Abermals hatte sie Seans Mahnung in den Ohren. Eddie war verheiratet, wenn auch unglücklich. Also musste sie einen Schlussstrich ziehen.
Sie ging ins Haus und verbrachte die nächste Stunde damit, ihren Sandsack durchzuprügeln.