KAPITEL 30

Das Postamt hatte die strikte Anweisung, jeden verdächtigen Brief, der an die Gazette adressiert war, unverzüglich an die Polizei weiterzuleiten. Der Hinson-Brief kam einen Tag nach dem Mord an Bobby Battle. Diesmal war es eine kurze Botschaft.

Ein Anwalt weniger, na und? Ich schätze, ihr wisst, wer ich dieses Mal nicht bin. Wir sehen uns bald wieder.

Inzwischen hatte Sylvia Diaz sich von ihrer Unpässlichkeit erholt und endlich die Autopsie an Robert Battle vorgenommen.

King und Michelle trafen sie in ihrem Büro an. Sie erfuhren, dass Polizeichef Williams und Chip Bailey der Autopsie beigewohnt hatten.

»Ich glaube, Todd hat jetzt keine Probleme mehr mit Leichen. Eine Sache der Gewöhnung. In letzter Zeit hat er einfach zu viele Tote gesehen«, bemerkte Sylvia.

»Woran ist Bobby gestorben?«, fragte King.

»Das lässt sich erst mit Sicherheit sagen, wenn in ungefähr einer Woche die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchungen kommen. Aber es sieht ganz danach aus, als hätte jemand eine größere Menge Kaliumchlorid in den Infusionsbeutel mit der Nährlösung gespritzt. Die Substanz dürfte sich in weniger als zehn Minuten in der Lösung ausgebreitet haben, ist durch die Schläuche in den Körper eingedrungen und hat ein sofortiges Herzflimmern ausgelöst. In Bobbys bereits geschwächtem Zustand muss das Ende schnell und schmerzlos gewesen sein.«

»Das deutet auf gute medizinische Kenntnisse hin«, sagte King.

Sylvia dachte einen Moment darüber nach. »Sicher, Kaliumchlorid wird nicht häufig benutzt, um jemanden zu ermorden. Doch wenn der Täter wirklich medizinische Kenntnisse besitzt, hat er ziemlich nachlässig gehandelt.«

»Wie meinst du das?«

»Battle wurde mit den üblichen Infusionen versorgt – Heparin zur Blutverdünnung, eine Salz-Zucker-Lösung, eine Einheit zur parenteralen Ernährung, ein Antibiotikum zur Bekämpfung der Lungenentzündung, die er sich durch die lange künstliche Beatmung zugezogen hat, und Dopamin zur Stabilisierung des Blutdrucks.«

»Und was soll uns das sagen?«, fragte King.

»Wenn die unbekannte Person das Kaliumchlorid nicht in den Infusionsbeutel, sondern direkt in den Schlauch injiziert hätte, wäre die tödliche Wirkung dieselbe gewesen, aber nicht mehr nachzuweisen. Dazu muss man wissen, dass sich in der Nährlösung bereits Kaliumchlorid befindet – und damit auch in Battles Körper. Dass jemand der Lösung zusätzliches Kaliumchlorid beigefügt haben muss, konnte ich nur feststellen, indem ich die tatsächliche Konzentration mit dem üblichen Mischungsverhältnis in einem Infusionsbeutel verglichen habe. In diesem Fall war die Konzentration dreimal so hoch – mehr als genug, um ihn zu töten.«

»Du willst damit sagen, dass du nichts bemerkt hättest, wenn der Mörder das Kaliumchlorid in den Infusionsschlauch gespritzt hätte?«

»Ja. Die Rückstände im Schlauch wären zu gering gewesen, um Verdacht zu erregen. Es wäre viel verdächtiger gewesen, wäre dort kein Kaliumchlorid nachweisbar. Wie gesagt, es befand sich bereits in Battles Körper. Es wird auf natürliche Weise absorbiert; deshalb hätte durch die Autopsie allein niemals eine Überdosierung bestätigt werden können.«

»Also hat diese Person gewisse medizinische Kenntnisse, kann aber kein Experte sein«, sagte King.

»Oder er wollte, dass der Mord an Battle entdeckt wird«, gab Michelle zu bedenken. »Als wären die Uhr und die Feder noch nicht genug.«

»Sie wären beinahe nicht genug gewesen«, erwiderte King. »Die Feder ist zu Boden geschwebt, und die Uhr ist unter den Schläuchen und Schildern gar nicht aufgefallen.«

»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Sylvia. »Die erste Regel für Mörder lautet doch, dass man stets versuchen sollte, einen perfekten Mord zu begehen. Und man kann es kaum perfekter machen, als dafür zu sorgen, dass alles so aussieht, als wäre gar kein Mord begangen worden.«

Michelle und King schüttelten gleichzeitig den Kopf. Keiner hatte eine Idee, die das Verhalten des Killers erklärt hätte.

Sylvia seufzte. »Es spielt zwar keine Rolle mehr, aber ich habe bei Battle Symptome einer Arteriosklerose festgestellt. Und die Oberfläche der Aorta war ungewöhnlich stark gerunzelt. Außerdem hatte er einen kleinen Tumor im rechten Lungenflügel, möglicherweise der Anfang von Lungenkrebs. Nichts Ungewöhnliches für einen Raucher in seinem Alter.«

»Wie steht es mit Diane Hinsons Todesursache?«, fragte King. »Auch wenn sie offensichtlich erscheint.«

»Sie starb an schweren inneren Blutungen durch die zahlreichen Stichverletzungen. Die Klinge hatte die Aorta, die Herzkammer und die linke Lunge beschädigt. Auch für sie dürfte es nach wenigen Minuten vorbei gewesen sein – allerdings nicht annähernd so schmerzlos wie bei Battle.«

»Wurde sie vergewaltigt oder sonst wie sexuell missbraucht?«, fragte King.

»Die Autopsie hat keinen Hinweis darauf geliefert, aber die Laborergebnisse stehen noch aus. Ich habe von der Parallele zu Florence Nightinghell gehört. Also werden wir wohl einen Brief zu diesem Thema erhalten.«

»Der Hinson-Brief deutete an, dass wir ihn bald wiedersehen würden, und so war es«, sagte Michelle. »Immerhin, er steht zu seinem Wort.«

»Zuerst eine Nackttänzerin«, sagte King, »dann zwei Teenager, dann eine Anwältin und nun Bobby Battle.«

»Es scheint, als würde der Killer mit jedem Mord ein höheres Risiko eingehen«, stellte Sylvia fest.

»Mit einer Nackttänzerin anzufangen, die er vielleicht in einer Bar ausfindig gemacht, erschossen und in den Wald geschafft hat, und dann einen schwerreichen Geschäftsmann zu vergiften, der im Krankenhaus im Koma liegt, kann man wohl nicht als zusammenhängend bezeichnen«, sagte King. »Ich möchte nicht gefühllos erscheinen, aber wie sucht der Kerl sich seine Opfer aus? Nach One-Night-Stands oder nach der sozialen Hierarchie?«

»Wie ich bereits sagte, er scheint außerhalb des üblichen Schemas zu handeln«, erklärte Sylvia und rieb sich die blutunterlaufenen Augen.

King musterte sie aufmerksam. »Du siehst ziemlich schlimm aus«, sagte er mit einem entwaffnenden Lächeln. »Du solltest ins Bett gehen.«

»Danke für die Anteilnahme. Ich werde versuchen, deinen Rat zu befolgen – irgendwann in den nächsten Wochen.«

»Wo ist Kyle Montgomery?«, fragte Michelle. »Könnte er nicht deine Arbeit übernehmen?«

»Er ist kein Pathologe und kann keine Autopsien vornehmen. Und um deine erste Frage zu beantworten: Er hat sich krankgemeldet. Wäre schön, wenn auch ich mir das erlauben könnte. Ich habe fast die ganze letzte Nacht auf Knien vor der Kloschüssel verbracht, und drüben warten jede Menge Patienten auf mich. Gott sei Dank gibt es Antibiotika.«

»Was hältst du davon, dass der Killer diesmal Mary Martin Speck nachgeahmt hat?«, fragte Michelle.

»Du meinst, dass er sich keinen Mörder, sondern eine Mörderin ausgesucht hat?«

Michelle nickte.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte Sylvia. »Jede Frau hätte Battle mühelos töten können. Es ist keine besondere Körperkraft nötig, um den Inhalt einer Spritze in einen Infusionsbeutel zu entleeren. Aber ich würde jederzeit meinen professionellen Ruf darauf verwetten, dass Rhonda Tyler und Diane Hinson von einem Mann ermordet wurden. Eine Frau hätte Tyler nicht über eine so weite Strecke durch den Wald schleppen können, und die Stichwunden in Diane Hinsons Körper waren sehr tief. Es war entweder ein Mann oder eine Frau, die so kräftig ist, dass ich ihr nicht in einer dunklen Gasse begegnen möchte.«

»Also wäre es möglich, dass wir es mit zwei Mördern zu tun haben, einem Mann und einer Frau«, sagte Michelle.

»Nicht unbedingt«, wandte King ein. »Der einzige Beweis dafür wäre die Anspielung auf Speck und die Vogelfeder, wie Bailey richtig bemerkt hat. Erst wenn wir den Brief bekommen, werden wir wissen, ob der Killer Speck imitiert hat. Die Feder könnte für diesen Täter etwas ganz anderes symbolisieren.«

»Stimmt«, räumte Michelle ein. Sylvia nickte ebenfalls.

King sah die beiden Frauen an. »Wollt ihr einen ziemlich abwegigen Gedanken hören?«

»Warum nicht?«, sagte Michelle.

»Bobby Battle war ein sehr reicher Mann. Ich frage mich, wer von seinem Testament begünstigt wird.«

Nach längerem Schweigen sagte Sylvia: »Willst du damit andeuten, ein Familienmitglied könnte ihn aus Geldgier getötet haben? Und dass diese Person sich bemüht hat, es wie einen der Serienmorde aussehen zu lassen?«

»Eddie kann es nicht gewesen sein«, sagte Michelle. »Er war mit uns bis nach elf Uhr im Sage Gentleman.«

»So ist es«, sagte King. »Aber Dorothea und Savannah waren vor Remmy in der Klinik. Bei der Gelegenheit können sie zwar nicht das Gift injiziert haben, weil Bobby dann schon vor Remmys Ankunft tot gewesen wäre, aber wenn eine von ihnen während ihres früheren Besuchs das Kaliumchlorid im Zimmer versteckt hat, könnte sie sich zurückgeschlichen haben, nachdem Remmy gegangen war, um nach der Tat sofort wieder zu verschwinden.«

»Eddie sagte, dass Dorothea auf irgendeinem Empfang war«, gab Michelle zu bedenken.

»Das werden wir überprüfen.«

»Viele Morde werden aus finanziellen Motiven begangen«, sagte Sylvia. »Das könnte tatsächlich eine Spur sein, Sean.«

»Wenn ich schon dabei bin – hier ist noch eine Überlegung: Remmy hat sich stundenlang in Bobbys Zimmer aufgehalten. Sie könnte das Zeug in den Beutel gespritzt haben, bevor sie gegangen ist.«

»Welches Motiv sollte Remmy gehabt haben?«, fragte Sylvia. »Sie ist reich genug.«

»Was wäre, wenn Bobby sich wieder als Schürzenjäger betätigt hat und sie dieses Spielchen nicht mehr mitmachen wollte? So was lässt sich durch kein Geld der Welt gutmachen.«

»Das wäre natürlich etwas anderes. Hast du Beweise, die deine Theorie stützen?«

King dachte an Battles Geheimfach und den Ehering, den Remmy nicht am Finger getragen hatte, doch er beschloss, dies Sylvia gegenüber nicht zu erwähnen. »Ich behaupte nicht, dass wir es beweisen könnten. Ich deute nur auf Möglichkeiten hin. Und eine Frau zu verschmähen ist eines der ältesten Mordmotive, die es gibt. Also entfernt sie sich mit einem eingebauten Alibi vom Tatort und lässt zur Irreführung die Feder und die Uhr zurück. Da die Vorgehensweise des Serienmörders in sämtlichen Medien breitgetreten wurde, weiß sie über diese Einzelheiten Bescheid.«

»Aber ihre bloße Anwesenheit macht sie zu einer Verdächtigen, vor allem, wenn Gift mit zeitlich verzögerter Wirkung im Spiel ist«, warf Sylvia ein. »Wenn sie einen solchen Plan hätte durchführen wollen, wäre es sinnvoller für sie gewesen, sich zu einem anderen Zeitpunkt hineinzuschleichen und wieder zu verschwinden, bevor irgendwer sie sieht. Beim jetzigen Stand der Dinge hat sie überhaupt kein Alibi.«

»Wenn ich Battles Mörder wäre«, sagte Michelle, »und versucht hätte, die Tat unserem Serienmörder aus der Nachbarschaft in die Schuhe zu schieben, würde ich jetzt höllisch aufpassen.«

»Wie meinst du das?«, fragte Sylvia.

»Weil der Serienmörder jetzt ziemlich verärgert sein dürfte.«

»Ich kann dir immer noch nicht folgen«, sagte Sylvia.

»Betrachte es mal aus folgender Perspektive. Die Serienmorde wurden penibel geplant und ausgeführt. Wir haben Briefe, in denen der Killer sich über die Polizei lustig macht. Dieser Typ ist ein Kontrollfreak und verfolgt irgendeinen umfassenden Generalplan. Wenn jemand anders Bobby Battle getötet hat und die Schuld auf den Serientäter schieben will, könnte unser Kontrollfreak das als Störung seines Meisterwerks betrachten. Er könnte sich am Mörder Battles rächen wollen.«

»Also haben wir es jetzt vielleicht mit einem Mörder zu tun, der auf einen anderen Mörder losgeht«, sagte King.

»Genau«, sagte Michelle.