KAPITEL 35

Einige Tage später rief Chip Bailey vom FBI alle polizeilichen Mitarbeiter zusammen, die an der Suche nach dem Mörder von fünf Menschen beteiligt waren. Das Treffen fand am frühen Morgen im Polizeirevier von Wrightsburg statt. Die Wahl des Ortes empfand King – der neben Michelle, Todd Williams, verschiedenen Angehörigen der State Police Virginia und des FBI daran teilnahm – als kaum verhohlenen Versuch, davon abzulenken, wer nun das Sagen hatte. Schließlich brachte das FBI am meisten Gewicht auf die Waage. Die schlechte Laune Kings, die sich daraus ergab, machte sich schnell bemerkbar.

»Wir haben ein Profil«, sagte Bailey, während sein Assistent Schnellhefter an die Personen austeilte, die um den Tisch herum Platz genommen hatten.

»Lassen Sie mich raten«, sagte King. »Ein männlicher Weißer in den Zwanzigern oder Dreißigern, mindestens High-School-Abschluss, vielleicht sogar College. Überdurchschnittlicher IQ, hat trotzdem Probleme, über längere Zeit einen Job zu halten. Das älteste Kind von Eltern aus der Arbeiterschicht, mit Kindheitstrauma, einer dominanten Mutter, möglicherweise unehelich. Hat sich immer sehr für Polizeiarbeit interessiert und ist ein einzelgängerischer Kontrollfreak, der schon früh Interesse an sadomasochistischer Pornographie, Voyeurismus und der Misshandlung von kleinen Tieren gezeigt hat.«

»Haben Sie schon ein Exemplar des Berichts gesehen?«, brummte Bailey.

»Nein. Aber in den meisten steht so ziemlich dasselbe.«

»Das liegt daran, dass die meisten Serienmörder ein solches Profil haben. Das wurde immer wieder bestätigt«, gab Bailey zurück. »Und alles in diesem Bericht wird durch eine solide Datenbasis untermauert. Bedauerlicherweise haben wir sehr viel Erfahrung mit solchen Fällen. Mehr als drei Viertel aller Serienmörder weltweit waren in den USA aktiv. Seit 1977 gehen über eintausend Morde auf ihr Konto, und zwei Drittel der Opfer waren Frauen. Das einzig Interessante an unserem Kerl ist, dass seine Vorgehensweise eine Mischung aus dem organisierten und dem desorganisierten Muster darzustellen scheint. In einem Fall legte er Zurückhaltung an den Tag, in den anderen Fällen nicht. Ein Opfer wurde transportiert, die anderen nicht. Ein Opfer wurde im Wald versteckt, die anderen ließ er am Tatort zurück. In einem Fall wurde keine Waffe benutzt, in den anderen sehr wohl. Das alles basiert auf eindeutigen Daten, Sean.«

»Die meisten Täter passen recht gut in dieses Profil, aber nicht alle. Und manche lassen sich überhaupt keinen Kategorien zuordnen.«

»Und Sie glauben, dass wir es hier mit solch einem Ausnahmefall zu tun haben?«, fragte Williams.

»Denken Sie nach. Keines der Opfer wurde sexuell missbraucht oder verstümmelt – eine Komponente, die bei Serienmorden fast immer im Spiel ist. Und sehen Sie sich die Opfer an. Die meisten Serienkiller zeichnen sich nicht durch Mut aus. Sie greifen lieber nach tief hängenden Früchten wie Kindern, Ausreißern, Prostituierten, jungen Homosexuellen und geistig Behinderten.«

»Eines der Opfer war Nackttänzerin und zeitweise vielleicht auch Prostituierte«, konterte Bailey. »Zwei weitere waren Jugendliche. Und das letzte Opfer lag im Krankenhausbett im Koma. Damit hat er es sich verhältnismäßig leicht gemacht, wenn Sie mich fragen.«

»Wir wissen nicht, ob Rhonda Tyler als Prostituierte gearbeitet hat. Und selbst wenn – wurde sie ermordet, weil sie Prostituierte war, oder aus einem ganz anderen Grund? Und Steve Canney und Janice Pembroke waren keine Ausreißer. Und glauben Sie wirklich, dass sich ein Killer vom Typ Ted Bundy in ein Krankenzimmer schleicht und dem Opfer eines Schlaganfalls Gift in den Infusionsbeutel spritzt?« Er machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Außerdem war Bobby Battle ein sehr reicher Mann«, fügte er dann hinzu. »Es könnte Leute geben, die ein Interesse an seinem Tod hatten.«

»Sie meinen, da draußen laufen zwei Killer herum?«, fragte Bailey skeptisch.

»Wir wissen es nicht, dürfen diese Möglichkeit aber nicht außer Acht lassen«, gab King zurück.

Bailey ließ sich nicht beirren. »Ich habe mehr Erfahrung mit solchen Fällen als Sie, Sean, und solange wir nichts finden, das mich dazu veranlasst, meine Ansicht zu ändern, werden wir mit diesem Profil arbeiten und davon ausgehen, dass hier nur ein Mörder am Werk ist.« Er sah King und Michelle aufmerksam an. »Wie ich höre, wurden Sie beide zu Deputys ernannt. Damit habe ich kein Problem. Ich begrüße es sogar, dass zwei weitere erfahrene Profis an diesem Fall arbeiten.«

Aber, dachte King stumm.

»Aber«, sagte Bailey, »wir haben festgelegt, wie wir bestimmte Dinge tun werden. Wir müssen uns absprechen und gegenseitig informieren. Wir alle müssen auf dem gleichen Stand sein.«

»Und natürlich wird das FBI als zentrale Clearingstelle dienen«, sagte Williams zähneknirschend.

»Genau. Wenn es neue Hinweise gibt, will ich unverzüglich davon erfahren. Dann werden wir entscheiden, wer am besten geeignet ist, diese Hinweise weiterzuverfolgen.«

King und Michelle tauschten einen kurzen Blick. Sie schienen gegenseitig ihre Gedanken zu lesen: Baileys Anweisungen bedeuteten, dass das FBI den Überblick behalten, die Verhaftungen vornehmen und den Ruhm einheimsen konnte.

»Apropos Hinweise«, sagte King. »Haben Sie etwas Neues?«

Bailey lehnte sich im Sessel zurück. »Es ist noch ein wenig zu früh, aber nachdem wir jetzt genug Personal haben, wird sicher schon bald etwas auftauchen.«

»Haben Sie etwas über die Zodiac-Uhr herausgefunden?«, wollte Michelle wissen.

»Das war eine Sackgasse«, sagte Bailey. »Es gab keine anderen aussagekräftigen Spuren an den Tatorten oder den Leichen. Wir haben Diane Hinsons Nachbarn befragt. Niemand hat etwas gesehen. Wir haben mit den Familien und Mitschülern von Steve Canney und Janice Pembroke gesprochen. Es gibt keinen eifersüchtigen Rivalen mit schlechtem Gewissen.«

»Und Rhonda Tyler?«, fragte King. »Was wissen wir über sie?«

Bailey blätterte in seinen Notizen. »Im Gegensatz zu Ihrem Vorurteil ist das FBI sehr wohl in der Lage, Fakten zu sammeln, Sean«, sagte er. »Rhonda Tyler wurde in Dublin, Ohio geboren. Hat die Highschool verlassen und ist nach L.A. gegangen, um Schauspielerin zu werden. Nachdem dieser Traum geplatzt war, wurde sie drogenabhängig, ging nach Osten, verbrachte wegen diverser Vergehen einige Zeit im Gefängnis und ging dann nach Süden. Sie hat seit etwa vier Jahren als Nackttänzerin gearbeitet, in verschiedenen Clubs von Virginia bis Florida. Ihr Vertrag mit dem Aphrodisia lief etwa zwei Wochen vor ihrem Tod ab.«

»Wo hat sie gewohnt, als sie verschwand?«, fragte Michelle.

»Das ist nicht ganz klar. Im Club gibt es ein paar Zimmer, in denen die Mädchen wohnen können, wenn sie dort auftreten. Die Miete geht aufs Haus, und es gibt drei Mahlzeiten pro Tag. Diese Zimmer sind bei den Mädchen recht beliebt. Ich habe mit Lulu Oxley gesprochen, der Geschäftsführerin. Sie sagte, dass Rhonda Tyler eine Zeit lang in einem der Zimmer gewohnt hat, sich dann aber eine andere Unterkunft gesucht hat.«

»Während der Zeit, als sie noch im Club gearbeitet hat?«, fragte King.

»Ja. Warum?«

»Diese Tänzerinnen können nicht allzu viel Geld verdienen, also werden sie freie Kost und Logis nicht einfach so aufgeben. Hatte sie Freunde oder Verwandte in der Umgebung, bei denen sie gewohnt haben könnte?«

»Nein. Aber wir gehen der Frage nach, wo sie sich während dieser Zeit aufgehalten hat.«

»Das könnte ein wichtiger Punkt sein, Chip«, sagte King. »Wenn Rhonda jemanden gefunden hatte, der sie aushielt, müssen wir herausfinden, um wen es sich handelt. Vielleicht ist es sogar der Typ, der ihr eine Pistole in den Mund gesteckt und sie den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hat.«

»Komisch. Wir beide scheinen den gleichen Gedanken gehabt zu haben«, sagte Bailey, der sich ein ironisches Grinsen nicht verkneifen konnte.

»Haben Sie schon mit den Battles gesprochen?«, fragte Todd Williams.

»Ich werde heute zu ihnen fahren«, sagte der FBI-Agent. »Möchten Sie mich begleiten?«

»Warum nehmen Sie nicht Sean und Michelle mit?«

»Gut«, sagte Bailey, wenn auch stirnrunzelnd.

Nachdem sie über einige weitere Aspekte der Ermittlungen gesprochen hatten, wurde die Konferenz vertagt. Während Bailey seinen Männern zusätzliche Anweisungen erteilte, knöpfte Williams sich King und Michelle vor. »Ich hatte also Recht. Die FBI-Typen übernehmen das Kommando und heimsen die Lorbeeren ein.«

»Nicht unbedingt, Todd«, sagte Michelle. »Ich kann nicht behaupten, dass sie schlechte Arbeit leisten. Außerdem ist es viel wichtiger, dass dieser Irre geschnappt wird. Ganz gleich, wer ihm letztlich das Handwerk legt.«

»Klar. Trotzdem wäre es nicht schlecht, wenn wir es uns auf die Fahne schreiben könnten.«

»Wir fahren zu den Battles. Mal sehen, was wir herausfinden«, sagte King. »Aber erwarte keine Wunder von uns, Todd. Dieser Typ weiß genau, was er tut.«

»Der Killer oder Bailey?«, sagte Williams mürrisch.

Sie machten sich mit zwei Fahrzeugen auf den Weg zu den Battles – King und Michelle im Wal und Bailey in seinem großen Dienstwagen.

»Das FBI hatte schon immer bessere Autos als der Secret Service«, sagte King, als er Baileys Fahrzeug betrachtete.

»Ja, aber wir haben die besseren Boote.«

»Nur, weil wir sie der Drogenpolizei abgeluchst haben, die sie von der südamerikanischen Rauschgiftmafia beschlagnahmt hat.«

»Man muss halt sehen, wo man bleibt.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Welche Laus ist dir eigentlich vorhin bei der Besprechung über die Leber gelaufen? Bailey war bis heute früh doch sehr kooperativ. Es kam mir so vor, als wolltest du ihn absichtlich verärgern.«

»Manchmal ist das die einzige Möglichkeit, wenn man herausfinden will, wie jemand wirklich ist.«

Als das große Eingangstor zum Anwesen der Battles sich hinter ihnen schloss, sagte King: »Die größten Sorgen mache ich mir um Savannah.«

»Savannah? Miss Partygirl? Wie kommst du darauf?«

»Warst du Papas Lieblingstochter?«

»Ich glaube, ich bin es immer noch.«

»Genau. Wer es einmal ist, ist es immer. Und nun ist Savannahs Lieblingspapa nicht mehr da.«