KAPITEL 20
Junior Deaver sah aus wie ein Mann, der sein Geld mit den Händen verdiente. Seine Jeans und sein T-Shirt waren voller Farbflecken und schienen dauerhaft mit Zementstaub imprägniert zu sein. Er war über eins neunzig groß, mit dicken, muskelbepackten Armen – ein sonnengebräunter Hüne voller Narben, Schorf und mindestens fünf Tattoos, soweit Michelle zählen konnte, die verschiedene Themen abdeckten, von Müttern über Lulu bis zu Harley-Davidson. Sein Haar war braun und bereits etwas ausgedünnt, und er trug es lang und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der seinen angegrauten und zurückweichenden Haaransatz unvorteilhaft betonte. Hinzu kamen ein kleiner, borstiger Spitzbart und buschige Koteletten, die seine Weihnachtsmannpausbacken umrahmten. Doch er hob sein jüngstes Kind, ein sechsjähriges Mädchen mit Zöpfen und wunderschönen braunen Augen, mit einer Zärtlichkeit aus dem Van, die Michelle ihm niemals zugetraut hätte.
Lulu Oxley war sehr schlank und trug einen nüchternen schwarzen Geschäftsanzug, Schuhe mit flachen Absätzen und eine modische Sonnenbrille mit dünnem Goldrahmen. Ihr braunes Haar war professionell zu einem komplizierten Knoten hochgesteckt. In einer Hand hielt sie eine Aktentasche und in der anderen die kleine Hand eines ungefähr achtjährigen Jungen. Das dritte Kind, ein Mädchen von etwa zwölf Jahren, folgte ihnen mit einer großen Schultasche. Alle Kinder trugen die Uniform einer städtischen katholischen Schule.
King trat vor und reichte Junior die Hand.
»Junior, ich bin Sean King. Harry Carrick hat uns beauftragt, an Ihrem Fall zu arbeiten.«
Junior warf Lulu einen Blick zu. Als sie nickte, nahm er widerstrebend Kings Hand und drückte sie. Michelle sah, wie ihr Partner leicht zusammenzuckte, bevor der große Mann ihn wieder losließ.
»Das ist meine Partnerin Michelle Maxwell.«
Lulu sah sich die beiden sehr genau an. »Harry sagte, dass Sie vorbeischauen würden. Ich habe Junior gerade aus dem Gefängnis geholt, und ich möchte nicht, dass er wieder hineinkommt.«
»Das wird nicht passieren«, brummte Junior. »Weil ich nichts Unrechtes getan habe.«
Das Mädchen in seinen Armen fing leise zu weinen an.
»Ach, Mensch«, sagte Junior, »hör endlich auf zu jammern, Mary Margaret. Daddy ist jetzt wieder zu Hause.« Doch das kleine Mädchen schluchzte immer noch.
»Mama«, rief Lulu, »komm und hol die Kinder rein!«
Priscilla erschien in der Tür, diesmal ohne die Waffe, und rief die älteren Kinder in den Wohnwagen, bevor sie Mary Margaret von Junior entgegennahm.
Sie bedachte ihren Schwiegersohn mit einem strengen Blick. »Wie ich sehe, lassen sie heutzutage jeden aus dem Knast.«
»Mutter!«, rief Lulu. »Geh bitte rein und kümmere dich um die Kinder.«
Priscilla stellte Mary Margaret ab, die sich sofort in den Wohnwagen flüchtete. Priscilla nickte in Kings und Michelles Richtung. »Dieser gewiefte Typ und seine Tussi sind gekommen, um Fragen zu stellen. Sie sagen, sie würden für Junior arbeiten. Ich schlage vor, du machst ihnen mit einem Warnschuss klar, dass sie dahin zurücksollen, woher sie gekommen sind.«
Beim Wort »Tussi« griff King automatisch nach Michelles Arm, um sie davon abzuhalten, der älteren Frau an die Gurgel zu gehen. »Mrs Oxley«, sagte er. »Wie ich bereits erwähnte, sind wir hier, um Junior zu helfen. Wir haben schon mit Remmy Battle gesprochen.«
»Hei-ti-tei!«, sagte Priscilla Oxley und setzte diesem Kommentar ein Schnauben hinzu. »Und wie ist das werte Befinden der Königin?«
»Sie kennen Remmy?«, fragte King.
»Ich hab früher im Greenbrier Resort drüben in West Virginia gearbeitet. Sie und ihre Familie waren dort regelmäßig zu Besuch.«
»Und sie war… anspruchsvoll?«
»Sie ist mir königlich auf den Sack gegangen«, erklärte Priscilla. »Und wenn Junior so bescheuert war, bei einer solchen Hexe einzubrechen, hat er jede Strafe verdient.«
Lulu zeigte mit dem Finger auf die Frau. »Mutter, wir müssen mit diesen Leuten ein paar Dinge besprechen.« Sie blickte zur Tür des Wohnwagens, wo die zitternde Mary Margaret stand und zuhörte. »Dinge, die nicht für die Ohren der Kinder bestimmt sind.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen, Schätzchen«, sagte Priscilla. »Ich werde sie sowieso über alle Fehler ihres Daddys informieren. Dazu brauche ich allerdings ein paar Monate.«
»Mutter, das solltest du nicht tun«, sagte Junior und starrte auf seine großen Füße. Er war fast einen Kopf größer als Priscilla Oxley, obwohl er vermutlich kaum mehr auf die Waage brachte als sie. Trotzdem bestand für King und Michelle kein Zweifel, dass der Mann Angst vor seiner Schwiegermutter hatte.
»Nenn mich nicht Mutter! Denk dran, was Lulu und ich alles für dich getan haben! Willst du uns so dafür danken? Indem du dich in Schwierigkeiten bringst – vielleicht sogar auf den elektrischen Stuhl?«
In diesem Moment verwandelte sich Mary Margarets Schluchzen in ohrenbetäubendes Geheul. Lulu trat sofort in Aktion.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte sie höflich, aber entschieden zu King und Michelle.
Sie marschierte zum Wohnwagen, krallte die Finger in Priscillas Kleid und zerrte ihre Mutter mit sich, um sie zusammen mit Mary Margaret in den Wagen zu drängen. Hinter der geschlossenen Tür hörten sie gedämpfte Schreie und wütende Stimmen, bis es plötzlich still wurde. Ein paar Sekunden darauf kam Lulu wieder heraus und schloss die Tür hinter sich.
»Mama weiß manchmal nicht, was sie sagt, wenn sie getrunken hat. Tut mir Leid.«
»Sie mag mich nicht besonders«, sagte Junior überflüssigerweise.
»Warum setzen wir uns nicht?«, schlug Lulu vor und zeigte auf einen alten Picknicktisch ein Stück rechts vom Wohnanhänger.
Als sie Platz genommen hatten, informierte King die beiden über ihren Besuch bei den Battles.
»Das ist das eigentliche Problem«, sagte Lulu und zeigte auf den großen Schuppen hinter dem Wohnwagen. »Ich habe Junior schon tausendmal gesagt, dass er das Ding mit einer abschließbaren Tür versehen soll.«
»Die alte Geschichte«, sagte er verlegen. »Wenn man ständig an den Häusern anderer Leute arbeitet, hat man keine Zeit mehr für sein eigenes.«
»Aber der Punkt ist, dass jeder problemlos hineingehen kann«, erklärte Lulu.
»Nicht, solange der alte Luther aufpasst«, sagte Junior und zeigte auf den Hund, der wieder aus dem Schuppen hervorgekommen war und bellte, erfreut über den Anblick seiner Besitzer.
»Luther?«, sagte Lulu fassungslos. »Klar, er bellt, aber er beißt nicht, und er ist der liebste Hund der Welt, wenn ihm jemand etwas zu fressen mitbringt.« Sie wandte sich an King und Michelle. »Ständig kommen Kumpel von Junior vorbei und borgen sich Werkzeug aus. Wenn wir nicht zu Hause sind, lassen sie Zettel zurück, auf denen steht, wann sie die Sachen zurückbringen – was manchmal allerdings nie passiert. Und Luther hat noch keinen von ihnen davon abgehalten, sich zu bedienen.«
»Sie lassen oft ein Sixpack Bier als Dankeschön da«, sagte Junior rasch. »Es sind gute Freunde von mir.«
»Ich weiß nicht, ob sie wirklich alle gut sind«, erwiderte Lulu heftig. »Einer von denen könnte dich reingelegt haben.«
»Komm schon, Baby. So was würde mir keiner antun.«
»Es reicht, wenn wir zeigen können, dass es begründete Zweifel gibt«, warf King ein. »Wenn die Geschworenen auch nur erkennen, dass es eine andere Erklärung geben könnte, ist das gut für Sie.«
»Das stimmt, Junior«, sagte seine Frau.
»Aber es sind meine Freunde. Ich will sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich weiß, dass sie nichts tun würden, was mir schaden könnte. Verdammt, sie hätten überhaupt keine Möglichkeit gehabt, ins Haus der Battles einzubrechen. Und ich sag Ihnen, sie würden sich niemals mit Mrs Battle anlegen, ganz bestimmt nicht. Ich hab zwar keinen College-Abschluss, aber ich bin klug genug, um zu erkennen, dass man ihr niemals den Ehering klauen darf. Scheiße, darauf kann ich verzichten.«
»Sie würden Ihre Freunde nicht in Schwierigkeiten bringen«, sagte King nachdrücklich. »Geben Sie uns die Namen und Adressen, und wir werden diskrete Erkundigungen einziehen. Wahrscheinlich haben die alle bombensichere Alibis. Aber eins müssen Sie sich klar machen, Junior. Ganz gleich, ob es Ihre Freunde sind oder nicht, solange wir keine anderen Verdächtigen finden, sprechen die Beweise gegen Sie.«
»Hör auf ihn, Junior«, sagte seine Frau. »Oder willst du wieder ins Gefängnis?«
»Natürlich nicht, Baby.«
»Also…?« Sie sah ihn erwartungsvoll an.
Junior sträubte sich noch eine Zeit lang, dann gab er ihnen die Namen.
»Jetzt möchte ich, dass Sie ganz ehrlich zu mir sind, Junior«, sagte King vorsichtig. »Wir arbeiten für Ihren Anwalt. Deshalb werden wir alles, was Sie sagen, vertraulich behandeln. Niemand sonst wird davon erfahren.« Er hielt inne und wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Haben Sie irgendwas mit diesem Einbruch zu tun? Haben Sie vielleicht unwissentlich oder unabsichtlich etwas getan, das jemand anderem geholfen haben könnte, den Einbruch zu begehen?«
Junior stand auf und ballte die großen Hände zu Fäusten. »Okay, du Arschloch! Wie wär’s, wenn ich dir mal gründlich die Fresse poliere?«, brüllte er.
Michelle erhob sich ebenfalls und legte eine Hand an ihre Waffe, doch King gab ihr durch ein Zeichen zu verstehen, dass sie sich zurückhalten sollte. »Junior«, sagte er gelassen, »meine Partnerin hat mehrere schwarze Gürtel und könnte uns beide mit einem Fußtritt in den Arsch in die Umlaufbahn schießen. Außerdem trägt sie eine geladene Pistole und könnte Ihnen aus zwanzig und erst recht aus zwei Metern Entfernung mit einem Schuss zwischen die Augen das Hirn wegpusten. Es war ein langer Tag, und ich bin ziemlich kaputt. Also setzen Sie sich wieder und benutzen Sie Ihren Verstand, bevor Sie etwas tun, das Sie später bereuen.«
Junior musterte Michelle erstaunt. Sie erwiderte seinen Blick ohne eine Spur von Besorgnis oder Furcht. Er setzte sich, doch seine Blicke huschten immer wieder in ihre Richtung, während King fortfuhr: »Es geht nur darum, dass wir keine Überraschungen erleben wollen. Wenn es also etwas gibt, das Sie Harry oder uns noch nicht gesagt haben, sollten Sie es jetzt tun.«
Nach längerem Schweigen schüttelte Junior den Kopf. »Ich hab Ihnen die Wahrheit gesagt. Ich war’s nicht, und ich hab keine Ahnung, wer es getan haben könnte. Und jetzt will ich meine Kinder sehen.« Er stand auf und stapfte zum Wohnwagen.