KAPITEL 64

Im Laufe des Tages traf von Sylvia die Nachricht ein, dass sie die Autopsie Kyle Montgomerys beendet habe. Eine Zusammenkunft in Kings Büro wurde verabredet. Sylvia kam in Todd Williams’ Begleitung. Eine Minute später fuhr auch Chip Bailey auf den Parkplatz.

»Ich habe ihn angerufen«, erklärte Williams, »da ich es für angebracht halte, ihn einzubeziehen, auch wenn Montgomerys Tod in keinem Zusammenhang zu den Serienmorden steht.«

»Bist du ganz sicher?«, fragte King.

Williams musterte ihn scharf. »Willst du mich etwa in den Wahnsinn treiben?«

Als alle sich im Konferenzzimmer gesetzt hatten, klappte Sylvia den Schnellhefter auf.

»Wie ich schon sagte, wird die genaue Todesursache erst feststehen, wenn uns die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung vorliegen«, sagte sie zur Einleitung. »Dennoch hat die äußerliche Untersuchung zu ungewöhnlichen Feststellungen geführt, die mich zu dem Schluss veranlassen, dass Montgomerys Tod unter fragwürdigen Umständen eingetreten ist.«

»Durch Suizid mittels Überdosis?«, fragte King.

»Nein, durch Mord. Montgomery war nicht als Drogenabhängiger bekannt. In seiner Wohnung wurden keine Drogen und oder Drogenzubehör entdeckt, und es gab an seinem gesamten Körper keinen zweiten Kanülen-Einstich.«

»Gefunden wurden allerdings eine benutzte Spritze mit Resten des Inhalts, ein Gummiband sowie ein Einstich im Arm«, rief Bailey in Erinnerung.

»Das Zeug in der Spritze ist als Heroin identifiziert worden. Gut, unterstellen wir mal, Kyle hatte den Vorsatz, sich das Leben zu nehmen. Heroin ist eine auf der Straße erhältliche Droge, deshalb kennt man nie die genaue Dosis, die man sich spritzt. Und es bleibt die Frage offen, woher er das Zeug bezogen haben soll. In meiner Apotheke jedenfalls lagert kein Heroin.«

»Aber er hat ja wohl mehr als einen Apotheker gekannt«, wandte Williams ein. »Und es ist eine traurige Wahrheit, dass es praktisch überall Bezugsquellen für illegale Betäubungsmittel gibt.«

»Wenn man sich wirklich umbringen will, stellt man doch sicher, dass es beim ersten Mal klappt. Das Resümee meiner Darlegungen lautet: Heroin ist für einen Selbstmord keine gute Wahl. Als wichtiger erachte ich jedoch, dass ich in Kyles Brust zwei kleine, oberflächliche Punkturen festgestellt habe. In seiner Wohnung waren sie mir wegen der mangelhaften Beleuchtung nicht aufgefallen.«

»Was für Punkturen?«, fragte Bailey.

»Wie von einem Paar winziger Nädelchen mit kaum zwei Zentimetern Zwischenabstand. Sie bilden so etwas wie ein Verletzungsmuster.«

»Könnten sie von einer Spritze stammen?«, fragte Michelle.

»Ausgeschlossen. Und eine Fixe setzt man nicht auf der Brust. Für Injektionen sind Arme und Beine am besten geeignet.«

»Und was hältst du für die Ursache?«, stellte King die entscheidende Frage.

»Ich habe so etwas schon mal in Richmond gesehen, nach einem Krawall. Nachdem die Polizei einen Mann mit einem Taser außer Gefecht gesetzt hatte, erlitt er einen Herzstillstand und starb. Das Verletzungsmuster, das ich bei Kyle festgestellt habe, könnte ebenfalls von einem Taser stammen – die Stelle, wo die elektrischen Pfeile ihn in die Brust trafen.«

»Dann hat jemand ihn mit einem Taser niedergestreckt und ihm anschließend eine Überdosis Heroin injiziert«, folgerte Bailey. »Deshalb waren keine Kampfspuren zu erkennen.«

»Ganz sicher bin ich mir hinsichtlich des Tasers nicht, aber es gibt noch etwas. Ich habe in den Augen und im Mund kleine Petechien und Blutgerinnsel gefunden.«

»Das sind Anzeichen der Atemnot«, erklärte Michelle, »des Erstickens.«

»Genau. Die Blutungen entstehen, wenn jemand nach Luft ringt. Allerdings hat die Autopsie keinerlei Hinweise auf eine Strangulation ergeben, daher vermute ich, Kyle könnte mit einem Gegenstand erstickt worden sein, der keine Spuren hinterlässt, etwa einem Kissen. Und Heroin schränkt die Atmung ein, deshalb muss er ohnehin schon sehr flach geatmet haben. Dadurch dürfte der Person, die ihn erstickt hat, die Tat ziemlich leicht gefallen sein.«

»Wer hat denn ein Motiv, falls Kyle tatsächlich ermordet wurde und der Täter es wie Selbstmord aussehen lassen wollte?«, fragte Bailey.

»Auf jeden Fall die Frau, der er im Aphrodisia Pillen verscherbelt hat«, antwortete Williams. Bailey warf ihm einen fragenden Blick zu, und der Polizeichef informierte ihn kurz darüber.

»Wieso sollte die Frau ihn umbringen«, meinte Bailey, »obwohl sie das Geld schließlich behalten konnte?«

»Und wenn Kyle sie erkannt hatte und erpresst hat?«, lautete Sylvias Überlegung. »Furcht vor Bloßstellung ist ein häufiges Mordmotiv.«

»Dann müssen wir diese Frau finden, und zwar schnell«, sagte Williams.

Michelle und King wechselten einen Blick.

»Wir wissen, wer sie ist«, sagte King.

Außer Michelle schauten alle Anwesenden ihn verblüfft an.

»Wer?«, hakte Williams nach.

»Dorothea Battle. Und ihr fehlt für die Zeit, in der Montgomery ermordet wurde, ein Alibi.«

»Dorothea Battle?« Der Polizeichef erhob sich aus dem Sessel. »Warum zum Teufel hast du mich nicht unverzüglich informiert, Sean?«

»Wir haben es selbst vorhin erst erfahren. Sie hat es vor Michelle und mir zugegeben.«

Williams holte sein Handy hervor. »Na, dann wollen wir sie uns mal schleunigst greifen.«

»Sie ist zu Hause.«

»Du hoffst, dass sie noch daheim ist. Sollte sie ausgeflogen sein, mache ich dich dafür verantwortlich.«

»Ich glaube nicht, dass sie Montgomerys Mörderin ist, Todd.«

Williams überhörte die Bemerkung und ordnete telefonisch Dorothea Battles Festnahme an. Erst dann wandte er sich wieder an den Privatdetektiv. »Und worauf stützt du diese Schlussfolgerung?«

»Ich habe es im Urin.«

»Danke, diese Methode werd ich mir merken.«

»Falls Dorothea ihn getötet hat, hätten wir es mit sage und schreibe drei Mördern zu schaffen«, sagte Bailey. »Dem Serienmörder, dem Mörder Bobby Battles und der Mörderin Montgomerys.«

»Oder Dorothea hat auch Bobby umgebracht«, hielt Williams ihm entgegen. Er schaute King an. »Hat sie sich dazu geäußert, warum sie Battle in der Klinik besucht hat?«

»Dorothea hoffte, Bobby hätte sein Testament geändert, um ihr mehr Geld zuzuschanzen. Sie sagt, sie wäre zu ihm in die Klinik gegangen, um sich davon zu überzeugen, dass er die Testamentsänderung erledigt hatte. Wie sich herausstellte, ist nichts dergleichen geschehen. Remmy erbt alles. Deshalb hat Dorothea keinen Nutzen an Bobbys Tod.«

Noch einmal ergriff Michelle das Wort. »Und wenn sie ihn besucht und von ihm erfahren hat, sein Testament ist unverändert geblieben, und dann hat sie ihn aus Wut vergiftet?«

»Ich bezweifle, dass Bobby Battle imstande war, Fragen zu beantworten«, sagte Sylvia. »Er musste beatmet werden, als er starb, und in einer solchen Situation ist das Sprechen weitgehend unmöglich.«

Bailey schaute King an. »Welche Theorie haben Sie, der zufolge zwischen den Opfern irgendeine Verbindung bestehen könnte?«

King zuckte mit den Schultern. »Darüber denke ich noch nach.«

Nachdem bis auf Michelle die Teilnehmer der Besprechung gegangen waren, griff King zum Telefon und wählte eine Nummer. Doch es dauerte nicht lange, bis er den Hörer auflegte.

»Wen wolltest du anrufen?«, fragte Michelle.

»Harry Carrick. Aber er hat sich nicht gemeldet. Ich versuche es später noch mal. Wenn Dorothea festgenommen wird, ist der Teufel los. Harry ist mit Remmy befreundet, also würde ich ihn gern vorher unterrichten. Vielleicht will er Remmy aufsuchen. Und Dorothea braucht einen Anwalt.«

»Ich überlege, ob ich Eddie suchen und ihn informieren soll.«

»Es ist besser, er wird von jemand anders benachrichtigt. Wahrscheinlich behält Bailey es sich vor.«

»Wieso hast du Bailey nichts von Canneys früherem Verhältnis zu den Battles erzählt?«

»Noch weiß ich nicht, ob da wirklich Zusammenhänge bestehen. Ich will mir erst sicher sein.«

»Aber du hast einen Verdacht?«

»Ja, und zwar einen starken.«

»Möchtest du damit rausrücken?«

»Meine Vermutung ist, dass Mrs Canney von Bobby Battle ein Kind bekam, nämlich Steve. Und dass Roger Canney nach dem Tod seiner Frau den Alten dafür hat zahlen lassen. Dadurch ließe sich Canneys plötzlicher Reichtum erklären, ebenso die Tatsache, dass es im ganzen Haus weder Fotos von seiner Frau noch von dem Sohn gibt, der gar nicht sein Sohn war.«

»Es wundert mich, dass er mit der Erpressung Battles gewartet haben soll, bis seine Frau bei dem Verkehrsunfall starb«, sagte Michelle.

King richtete den Blick auf seine Partnerin. »Verkehrsunfall?«, wiederholte er gedehnt.

»Ja, sie hatte getrunken und den Wagen zu Schrott gefahren. Erinnerst du dich nicht?«

»Doch, danke der Nachfrage. Ich erinnere mich gut.«

Michelle bemerkte den Ausdruck der Versonnenheit in Kings Augen. »Irgendwas gibt dir zu denken. Was ist es?«

Er sah sie wieder an. »Wenn Canneys Frau gar nicht bei einem Unfall ums Leben kam?«

»Ist sie aber. Sie wurde in einem Hohlweg im Autowrack aufgefunden. Ich habe dir doch erzählt, dass ich bei Todd Erkundigungen eingeholt habe.«

»Na schön, sie ist in einem Autowrack gestorben. Trotzdem muss es nicht zwangsläufig ein Unfall gewesen sein, oder?«