KAPITEL 11
King begleitete Todd Williams zum Polizeirevier, um sich den Brief anzuschauen, während Michelle bei Sylvia blieb und zusammen mit Clancy die Berichte der Autopsien durchging, die bereits an Steve Canney und Janice Pembroke vorgenommen worden waren.
Auf der Fahrt zum Revier rief King Bill Jenkins an, einen alten Kumpel, der in San Francisco lebte. Als er ihm seine Bitte vortrug, reagierte Jenkins verständlicherweise überrascht.
»Wozu brauchst du das?«, fragte er.
King warf Todd Williams einen Seitenblick zu. »Für ein Kriminalistikseminar, das ich hier an der Abendschule gebe«, sagte er.
»Ach so«, sagte Jenkins. »Nach der ganzen Aufregung, die du und deine Partnerin letztes Jahr ausgelöst habt, dachte ich schon, ihr hättet schon wieder mit so einer Sache zu tun.«
»Nein, Wrightsburg ist wieder ein ruhiges, verschlafenes Südstaatenstädtchen. Wie schnell kannst du mir die Unterlagen beschaffen?«
»Du hast Glück. In dieser Woche läuft hier eine Veranstaltung über berühmte Serienmörder. In dreißig Minuten hast du die Sachen. Gib mir eine Nummer, an die ich faxen kann – und die deiner Kreditkarte«, fügte er lachend hinzu.
King ließ sich von Williams die Faxnummer des Polizeireviers geben und nannte sie seinem Freund.
»Wieso geht das so schnell?«, wollte er dann von Jenkins wissen.
»Weil du dir einen idealen Zeitpunkt für deinen Anruf ausgesucht hast. Wir haben gerade eine seit langem überfällige Aufräumaktion im Büro durchgezogen und genau diese Akte letzte Woche für die Archivierung vorbereitet. Sie enthält auch die Notizen des Lehrers. Ich habe erst vor kurzem darin geblättert. Ich schicke dir die Sachen. Auch den Schlüssel, den der Lehrer ausgearbeitet hatte, um die kodierten Briefe zu entziffern.«
King dankte ihm und unterbrach die Verbindung.
Schließlich betraten er und Williams das Polizeirevier.
Als Williams sich wieder auf heimischem Boden befand, machte er eine erstaunliche Verwandlung durch. Er rief nach dem Deputy, der ihn wegen des Briefes angerufen hatte, und ließ sich von seiner Sekretärin eine Packung Kopfschmerztabletten geben. Dann betraten die Männer Williams’ Büro, wo der Polizeichef sich hinter seinen Schreibtisch fallen ließ und ohne etwas zum Hinunterspülen drei Tabletten schluckte. Bevor er Brief und Umschlag vom Deputy entgegennahm, sagte er: »Ich hoffe, dass beides auf Fingerabdrücke untersucht wurde…«
»Selbstverständlich«, sagte der Deputy. »Allerdings hat Virgil Dyles von der Gazette das Ganze anfangs für einen Scherz gehalten. Wir hätten nie davon erfahren, hätte mich nicht eine Freundin angerufen, die als Reporterin für die Zeitung arbeitet. Ich bin sofort rübergegangen und habe den Brief sichergestellt. Aber für mich sind das Hieroglyphen.«
»Was hat Virgil getan? Den Brief in der Redaktion herumgereicht?«, brüllte Williams.
»So ungefähr«, erwiderte der Deputy nervös. »Wahrscheinlich haben ihn etliche Leute in den Fingern gehabt. Ich hatte zu meiner Freundin gesagt, dass sie nichts davon sagen soll, aber sie hatte wohl schon einigen Leuten erzählt, dass sie den Brief für eine ernste Sache hält.«
Todd Williams’ kräftige Faust knallte mit solcher Wucht auf den Schreibtisch, dass King und der Deputy zusammenzuckten. »Verdammt! Die Geschichte gerät immer mehr außer Kontrolle. Wie sollen wir die Ermittlungen geheim halten, wenn schon die Bewohner von Wrightsburg tun und lassen, was sie wollen?«
»Am besten, wir sehen uns jetzt den Brief an«, sagte King. »Über die Medien können wir uns später Gedanken machen.«
Er schaute Todd Williams über die Schulter, als dieser den Umschlag inspizierte. Der Poststempel stammte aus Wrightsburg; das Datum lag vier Tage zurück. Die Briefmarke war sehr exakt aufgeklebt worden. Als Adresse war in Blockschrift Virgil Dyles von der Wrightsburg Gazette angegeben. In der unteren rechten Ecke des Umschlags war der Kreis mit Fadenkreuz zu erkennen. Auf dem Feld für den Absender stand nichts.
»Das gibt nicht viel her«, sagte Williams, als er den Brief auseinander faltete. »Vielleicht könnte ein Experte etwas dazu sagen, wie die Buchstaben geschrieben sind, wo die Briefmarke aufgeklebt wurde und so weiter, aber mir fällt nichts dazu ein.«
Die Nachricht war in verwaschener schwarzer Tinte geschrieben, ebenfalls in Großbuchstaben, die in exakten horizontalen und vertikalen Reihen angeordnet waren.
»Es liegt am Ninhydrin, dass die Schrift so verwischt ist«, erklärte der Deputy. »Mit der Substanz werden Briefe bedampft, um sie auf Fingerabdrücke zu untersuchen.«
»Danke. Darauf wäre ich nie gekommen«, sagte Todd Williams gereizt.
Neben den erkennbaren Buchstaben gab es auch andere Zeichen und Symbole, doch auf den ersten Blick ergab die Abfolge keinen Sinn. Todd Williams studierte den Text ein paar Minuten lang, bis er sich schließlich mit einem Seufzer zurücklehnte.
»Sie kennen sich nicht zufällig mit der Entschlüsselung kodierter Botschaften aus?«, fragte er King.
In diesem Moment klopfte Deputy Rogers an – ein einstiger Kollege von King, als dieser eine Zeit lang in Wrightsburg als Polizist gearbeitet hatte – und trat ein. Er hielt mehrere Blätter in der Hand. »Dieses Fax ist gerade für dich hereingekommen, Sean.«
King nahm ihm die Ausdrucke ab und sagte zu Williams: »Jetzt kann ich den Kode knacken.«
Er ging mit dem Brief und den gefaxten Blättern zu einem kleinen Tisch in einer Ecke, setzte sich und machte sich an die Arbeit. Zehn Minuten später blickte er auf.
»Haben Sie es entziffert?«, fragte Williams.
King nickte. »Mir fiel ein, dass ein Lehrer aus Salinas damals den Kode der Briefe des Killers von San Francisco geknackt hatte. Ich habe einen Freund bei der dortigen Polizei, der Zugang zu den Unterlagen hat. Das hier hat er mir gefaxt – den Schlüssel zur Entzifferung. Dadurch war die Sache ziemlich einfach.«
»Und wie lautet die Botschaft?«, fragte Todd Williams und schluckte nervös.
King blickte auf seine Notizen. »Sie enthält jede Menge Rechtschreib- und Grammatikfehler, aber die könnten Absicht sein. Genauso war es beim ursprünglichen Zodiac.«
Deputy Rogers blickte Williams an. »Zodiac?«
»Ein Serienmörder aus Kalifornien«, erklärte Williams. »Lange bevor Sie geboren wurden. Man hat ihn nie gefasst.«
Ein Ausdruck des Entsetzens trat in Rogers’ blaue Augen.
King las die Nachricht vor: »Jetzt habt ihr das Mädchen bestimmt gefunden. Es ist ziemlich kaputt, aber ich war’s nicht. Schneidet sie auf und sucht nach Hinweisen. Werdet keine finden. Glaubt mir. Die Uhr lügt nicht. Sie war numero uno. Aber es kommen noch mehr. Viele. Und noch etwas. Ich bin nicht der Zodiac oder seine Wiedergeburt. Ich bin ich. Aber stellt es euch nicht zu einfach vor. Wenn ich fertig bin, werdet ihr euch wünschen, ich wäre der Zodiac gewesen.«
»Also ist es noch nicht zu Ende«, sagte Todd Williams nachdenklich.
»Ich fürchte, jetzt geht es erst richtig los«, erwiderte King.